Am 12. Juli 2007 flogen zwei Kampfhubschrauber der US-Armee mehrere Angriffe gegen vermeintlich bewaffnete Personen in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Dabei töteten die Hubschrauberbesatzungen mindestens zwölf Menschen, nach Angaben der BBC bis zu 19 Menschen. Unter den Opfern war auch ein Fotograf der Nachrichtenagentur "Reuters", Namir Noor-Eldeen, und dessen Assistent Saeed Chmagh.
Bekannt geworden ist der Vorfall durch die Veröffentlichung des Bordvideos auf der Enthüllungsplattform Wikileaks im April 2010, welches unter dem Titel "Collateral Murder" im Internet publiziert wurde. Das Bordvideo zeigt den Angriff aus der Vogelperspektive. Geleakt wurden die Aufnahmen von Chelsea Manning, damals IT-Spezialistin bei den US-Streitkräften.
Angriffe auf Zivilbevölkerung
Das Video zeigt, wie 10 bis 15 Männer eine Straße entlang gehen und am Eingang eines Hauses stehen bleiben. Der Bordfunk ist zu hören. Die US-Besatzung eines Hubschraubers hält die Kameras der beiden Mitarbeiter von Reuters offenbar für ein Waffe, woraufhin sie "Individuen mit Waffen" meldete. Kurze Zeit später heißt es, dass die Männer am Boden mit Sturmgewehren und Panzerabwehr-Granatwerfern ausgerüstet seien. Die Besatzungen bekommen von der Zentrale die Feuerfreigabe.
Auf dem Video ist zu sehen, wie der Hubschrauber um das Gebäude dreht, dann sind die Schüsse des schweren Bord-Maschinengewehrs zu hören. Verwundete werden gezielt anvisiert und erneut beschossen. Wenige Minuten später hält ein Kleinbus, um die Verwundeten zu versorgen und abzutransportieren. Die US-Soldaten bitten um Erlaubnis, das Fahrzeug anzugreifen. Nachdem die Vorgesetzten ihre Erlaubnis erteilen, feuerte einer der US-Hubschrauber mehrfach auf den Kleinbus, tötet dabei drei Männer und verletzt zwei Kinder.
Frühzeitige Forderungen nach Aufklärung
Die US-Streitkräfte teilten unmittelbar nach der Tat mit, es habe ein "Feuergefecht mit Aufständischen" gegeben, die Tötungen seien untersucht worden. Die Nachrichtenagentur Reuters wandte sich gegen die Darstellung der US-Armee und forderte eine Untersuchung des Falls.
Das Video der Bordkamera war zu dieser Zeit noch nicht bekannt. Reuters gab an, dass auf den Kameras der toten Journalisten keinerlei Aufnahmen von Kampfhandlungen zu sehen seien. Darüber hinaus seien auch keine Bilder zu sehen gewesen, auf denen Menschen zu erkennen waren, die in Deckung gehen. Die Nachrichtenagentur forderte vom US-Militär eine Erklärung, warum die beiden Kameras zunächst beschlagnahmt wurden und verlangte Zugang zu allen Kameras an Bord der Hubschrauber, die an dem Vorfall beteiligt waren. Ferner sollte Reuters Zugang zu der Sprachkommunikation zwischen den Hubschrauberbesatzungen und den US-Bodentruppen ermöglicht werden sowie Einsicht in die Berichte der am Vorfall beteiligten Einheit. Mitarbeitende der Nachrichtenagentur durften das Video der Bordkamera zwar sehen, erhielten aber keine Kopie und dementsprechend keine Erlaubnis zur Veröffentlichung.
Untersuchungsbericht wurde geheim gehalten
Das US-Militär hatte bereits im Juli 2007 eine Untersuchung zu dem Vorfall veranlasst, deren Ergebnisse jedoch erst 2010 publik wurden. In dem Bericht stritten sie eigenes Fehlverhalten ab: Die beiden Männer seien im wehrfähigen Alter gewesen und hätten von den Hubschrauberbesatzungen nicht als Journalisten erkannt werden können. Außerdem seien zwei weitere Männer eindeutig bewaffnet gewesen.
Die Videoaufnahmen aus der Hubschrauber-Perspektive lagen Wikileaks wohl mindestens seit Anfang 2010 vor. Am 8.1.21 twitterte Wikileaks, dass sie Videos veröffentlichen werden, die US-Bombenangriffe auf Zivilisten zeigen sollten. Nachdem Wikileaks das Material entschlüsselt hatte, veröffentlichten die Aktivisten das Video am 5.4.2010 auf ihrer Plattform.
Durchbruch für Wikileaks
Wikileaks wurde 2006 durch den australischen Aktivisten Julian Assange gegründet. Nutzerinnen und Nutzer können über die Plattform anonymisiert Dokumente veröffentlichen lassen, an denen ein gesellschaftliches Interesse besteht. So genannte "Whistleblower" konnten damit auch ohne Journalistinnen und Journalisten Öffentlichkeit für ihre Anliegen herstellen. Nach Ansicht von Wikileaks führen Regierungen, die auf Transparenz basieren, zu einer Verringerung von Korruption und zu stabileren Demokratien.
Die Veröffentlichung der Helikopter-Aufnahmen aus Bagdad machte Wikileaks weltweit bekannt. Im gleichen Jahr publizierte die Plattform über 250.000 Dokumente des US-Außenministeriums, viele davon vertrauliche diplomatische Berichte von Botschaften aus der ganzen Welt. Die Berichte enthielten auch Dokumente aus dem Irak und aus Afghanistan. Für die Auswertung des Materials kooperierte Wikileaks mit verschiedenen Medien wie den Zeitungen "The New York Times" und "The Guardian" oder dem Magazin "Der Spiegel".
Vorwürfe gegen Wikileaks und Assange
Kritiker wie der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales wandten jedoch schon früh ein, dass die ungeprüfte Veröffentlichung von Dokumenten gefährliche Folgewirkungen haben könne. Die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton kritisierte unter anderem, dass die Veröffentlichungen Menschenleben in Gefahr brächten. Der frühere Wikileaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg bemerkte, dass Assange sich zunehmend auf die USA fokussiere und auf möglichst spektakuläre Fälle abziele. Obwohl Wikileaks selbst Transparenz einfordere, arbeite die Plattform zunehmend selbst intransparent, so Domscheit-Berg im Jahr 2010.
Die USA ermittelten bereits ab Frühjahr 2010 gegen Assange, der zu dieser Zeit in Großbritannien lebte. Im August 2010 wurde in Schweden ein Haftbefehl wegen des Verdachts auf Sexualvergehen gegen ihn erlassen. Der Haftbefehl wurde am 19.11.2019 allerdings wieder fallengelassen. Laut dem UN-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer ziele die Strafverfolgung Assanges vor allem darauf ab, die Veröffentlichung von geheimen Dokumenten zu verhindern, die politische Eliten in den USA und Großbritannien bedrohe.
Assange droht Auslieferung an die USA
Wegen des Haftbefehls und der drohenden Auslieferung an die USA lebte Assange ab 2012 sieben Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft in London, wo er zunächst Asyl erhalten hatte. Nach der Wahl des neuen ecuadorianischen Präsidenten Lenín Moreno verlor Assange im April 2019 seinen Asylstatus, der Wikileaksgründer wurde noch im gleichen Monat festgenommen. Seitdem sitzt Assange im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Ein Gericht in London billigt Ende 2021 die Auslieferung an die USA, wo ihm bis zu 175 Jahren drohen. Assange hat dagegen am High Court in London Berufung eingelegt.
Im Mai 2018 erhob die Grand Jury [Anmerkung der Redaktion: Gremium im amerikanischen Strafprozessrecht, das öffentliche Anklagen auf Ablehnung oder Zulassung prüft] Anklage gegen Assange. Demnach werfen die USA dem Wikileaks-Gründer unter anderem Verschwörung sowie die Beschaffung und Veröffentlichung von Informationen der US-Verteidigung vor. Derweil soll Assanges Gesundheitszustand besorgniserregend sein: Medizinerinnen und Mediziner warnten Ende 2019, dass Assange womöglich gar nicht vernehmungsfähig ist.
Die Wikileaks-Informantin Chelsea Manning wurde im Mai 2010 verhaftet. Im August 2013 wurde sie zu 35 Jahren Haft verurteilt. US-Präsident Barack Obama begnadigte die Whistleblowerin zwei Tage vor seinem Ausscheiden aus dem Amt, am 18. Januar 2017. In den Jahren 2019 und 2020 verbrachte Manning fast zwölf Monate in Beugehaft, weil sie sich weigerte, vor einer Grand Jury zu Wikileaks auszusagen.
Interner Link: Propagandalügen im Irakkrieg
Interner Link: Medien und öffentliche Meinung im Irakkrieg (APuZ, Juni 2003)
Interner Link: Die Bush-Doktrin, der Irakkrieg und die amerikanische Demokratie (APuZ, Oktober 2004)