Die russische Gesellschaft der frühen 1990er Jahre erinnerte sich auf eine stille Art und Weise an den deutschen Vernichtungskrieg, der bald ein halbes Jahrhundert zurücklag. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte sich der Staat eine kurze Zeit aus der Geschichtspolitik zurückgezogen. Er überließ den 9. Mai dem privaten Gedenken. Fast jede sowjetische Familie hatte im Zweiten Weltkrieg Opfer zu beklagen und die Gesellschaft war noch stark von der Generation der Veteraninnen und Veteranen geprägt. Die betagten früheren Kämpfer hassten den Krieg und auch diejenigen, die ihn idealisierten. Sie waren müde Helden und hatten einen nüchternen Blick auf den sowjetischen Triumph, der ihr Sieg war, dessen Kosten sie jedoch allzu gut kannten. Zu viele ihrer Klassenkameradinnen und Mitkämpfer waren nicht von den Schlachtfeldern zurückgekehrt. Als der Krieg 1945 zu Ende war, ging der Terror Stalins in der Sowjetunion ungebrochen weiter. Eine ganze Generation konnte erst nach dem Tod des Diktators 1953 zum ersten Mal freier durchatmen. Doch letztlich hatten sie das Gros ihres Lebens unter den repressiven und ärmlichen Bedingungen des sowjetischen Alltags verbracht. Der Wohlstand, der im Westen die Nachkriegszeit prägte, blieb ihnen verwehrt, Freiheit lernten sie erst in ihrem Lebensabend kennen.
Heute sind nur noch wenige Veteraninnen und Veteranen am Leben. Die russischen Feiern am 9. Mai sind bereits seit Jahren von einem bombastischen Militarismus geprägt. Der Kriegskult, den Putins Russland pflegt, ließ sich erst errichten, als die Kriegsgeneration allmählich begann, auszusterben. Es ist ein Kult der Nachkriegsgeneration, der von einem Krieg erzählt, der so nicht stattgefunden hat. Doch gerade diese Entwicklung wirft wichtige Fragen auf:
Woher kommt der Kult des "Großen Vaterländischen Krieges"? Warum ist er für den russischen Staat so wichtig? Und wie hat er sich historisch entwickelt?
Zur Bedeutung des "Großen Vaterländischen Krieges" in Russland
Den historischen Kern der heutigen Feiern bildet die Siegesparade, die am 24. Juni 1945, mehr als einen Monat nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland, auf dem Roten Platz in Moskau zum ersten Mal stattfand. Das Bild des Marschall Schukow, des Siegers in der Schlacht von Berlin, der während der Siegesparade 1945 auf seinem Schimmel die sowjetischen Truppen inspiziert, gehört zu den ikonischen Darstellungen des sowjetischen Triumphes über Hitler. Doch in den folgenden letzten Jahren der Herrschaft Stalins (1945-1953) fielen die Feiern des Kriegsendes bescheiden aus. Der 9. Mai war zu Lebzeiten des Diktators nicht arbeitsfrei. Stalin verstand instinktiv, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem er den Namen "Großer Vaterländischer Krieg" gab, kaum dazu dienen konnte, seine Herrschaft zu legitimieren.
Der Kult um den "Großen Vaterländischen Krieg", wie wir ihn heute kennen, ist eine Erfindung der Breschnew-Zeit (
Was änderte sich unter Leonid Breschnew?
Während Breschnews Vorgänger stets die Oktoberrevolution von 1917 als zentrales Ereignis der russischen Geschichte dargestellt hatten, trat nun der Sieg gegen das Deutsche Reich 1945 in das Zentrum parteistaatlicher Legitimation. Im Jahr 1965 wurde der 9. Mai zum arbeitsfreien Tag ernannt. In diesem Jahr – zum 20. Jahrestag des Sieges – fand auch erstmals seit 1945 wieder eine große Parade auf dem Roten Platz statt. Unter der Herrschaft Breschnews wurden in der gesamten UdSSR zahlreiche Denkmäler und Museen über den Krieg konzipiert und eingeweiht. Der Siegeskult eroberte so zwanzig Jahre nach Kriegsende den öffentlichen Raum in der Sowjetunion. Der Triumph des Jahres 1945 und die Entstehung des sowjetischen Nachkriegsimperiums wurden nun als die zentralen Leistungen des sowjetischen Staates dargestellt. Nicht mehr die kommunistische Zukunft, sondern die heldenhafte Vergangenheit – die "Befreiung Europas vom Faschismus" – legitimierten nun den sowjetischen Staat. Damit verlagerte sich der historische Fluchtpunkt der Geschichte der Sowjetunion in das Jahr 1945. Zugleich erlaubte die Verklärung des Sieges die Rückkehr Stalins, den Chruschtschow 1956 verdammt hatte, in das sowjetische Pantheon. Bereits zu Breschnews Zeiten wurde deutlich: Man kann den Sieg von 1945 nicht zelebrieren, ohne auch Stalin zu feiern.
Auflösung der Sowjetunion und (De-)Konstruktion der Geschichtsmythen
Während der Jahre der
Nationale Erzählungen des Zweiten Weltkriegs in den sowjetischen Nachfolgestaaten
In den anderen Nachfolgestaaten der UdSSR ging unterdessen die Emanzipation von den sowjetischen Geschichtsmythen weiter. Hier entstanden nationale Erzählungen, die nun die Rolle der eigenen Nation im Zweiten Weltkrieg thematisierten. Häufig wurde dabei die Erfahrung der nationalsozialistischen Besatzung mit der sowjetischen Herrschaft verglichen. Im Baltikum oder auch in der Ukraine widersprachen Historikerinnen und politische Akteure der sowjetischen Interpretation einer "Befreiung vom Faschismus" und betonte die Kontinuität der Repression von Hitler zu Stalin. So begannen seit Ende der 1990er Jahre die ersten geschichtspolitischen Konflikte zwischen Russland und seinen Nachbarländern. Es gab und gibt keinen Konsens über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, seinen Ausbruch und sein Ende und die anschließende gewaltsame Sowjetisierung Osteuropas.
Kult des "Großen Vaterländischen Krieges" unter Putin
In Russland selbst dient der Kult des "Großen Vaterländischen Krieges" in der Ära Putin zur Militarisierung der Gesellschaft und Normalisierung militärischer Gewalt. Die Ambivalenzen und Kosten des Krieges, das Leid der Bevölkerung und auch der
Seit der großen Parade am 9. Mai 2015 dient der "Tag des Sieges" auch zur Legitimation des Krieges gegen die Ukraine. Die pauschale Behauptung, in Kiew regierten Nazis, rechtfertigte den Angriff von 2014 und wurde im Februar 2022 wiederholt,
Die vergangene Zukunft des 9. Mai in der Ukraine
Der laufende Krieg Russlands gegen die Ukraine wird auch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Bedeutung des 9. Mai im post-sowjetischen Raum verändern. In Russland verschmelzen die beiden Kriege schon jetzt in der Propaganda zu einem epischen Kampf gegen den "Faschismus". Diese anti-ukrainische Erzählung und die russischen Kriegsverbrechen der vergangenen Monate delegitimiert den 9. Mai als Feiertag und die sowjetische Erzählung über den Weltkrieg weiter. Bereits seit einigen Jahren feiert das offizielle Kiew das Kriegsende – wie in Westeuropa – am 8. Mai. Diese Abgrenzung von sowjetischen Traditionen und russischen Praktiken geht weiter: Vor einigen Wochen bauten die Bürgerinnen und Bürger der ukrainischen Stadt Czernowitz als Reaktion auf den russischen Überfall einen sowjetischen T34-Panzer ab, der bis dahin prominent an die Befreiung der Stadt im Jahre 1944 erinnerte. Damit wird deutlich: Die von Putin wiederbelebte sowjetische Heldenerzählung ist in Russland zwar weiterhin zentral, aber sie verliert in anderen Staaten wie der Ukraine weiter an Bedeutung.