Am 8. und 9. Oktober haben die Bürgerinnen und Bürger der Tschechischen Republik ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Tschechien ist eine parlamentarische Republik. Staatsoberhaupt des Landes ist der derzeit amtierende Staatspräsident Miloš Zeman. Die legislativen Funktionen hat das Parlament inne, das aus dem Abgeordnetenhaus und dem Senat besteht.
Andrej Babiš von der Partei ANO wurde 2017 in das Amt des Ministerpräsidenten gewählt. Mit 27,1 Prozent der Stimmen verlor ANO knapp die Abgeordnetenhauswahl 2021. Stärkste Kraft wurde das Mitte-Rechts-Bündnis SPOLU mit 27,8 Prozent der Stimmen. SPOLU will mit dem drittplatzierten Mitte-links-Bündnis aus Piraten und Stan eine Koalitionsregierung stellen. Allerdings ist der Fortgang der Regierungsbildung derzeit unklar. Staatspräsident Zeman muss den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Dieser wurde jedoch nach der Wahl in ein Krankenhaus eingeliefert. Im Vorfeld kündigte Zeman an, den Parteichef mit dem stärksten Einzelergebnis zu beauftragen und nicht den des stärksten Bündnisses. Somit würde ANO trotz knapper Niederlage im Rennen bleiben. Wem Zeman den Auftrag zur Regierungsbildung tatsächlich erteilt, ist derzeit unklar.
Bei der Abgeordnetenhauswahl 2017 ging die Bewegung "Aktion unzufriedener Bürger" (Akce nespokojených občanů, ANO – das Kürzel bedeutet auf Tschechisch "Ja") des Unternehmers Andrej Babiš mit 29,64 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft hervor. Nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen bildete die ANO zunächst eine Minderheitsregierung, die jedoch bald eine Vertrauensabstimmung verlor und zunächst nur kommissarisch im Amt blieb. Im Sommer 2018 formte Babiš eine weitere Minderheitsregierung, dieses Mal mit der Tschechischen Sozialdemokratischen Partei (Česká strana sociálně demokratická, ČSSD). Toleriert wurde das Bündnis bis zum Frühjahr 2021 von der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (Komunistická strana Čech a Moravy, KSČM).
Wie wird gewählt?
Das Abgeordnetenhaus des Parlaments der Tschechischen Republik (Poslanecká sněmovna Parlamentu České republiky) wird nach einem Verhältniswahlrecht gewählt und hat 200 Sitze. Das Land ist in 14 Wahlkreise unterteilt, in denen die Parteien mit Listen antreten. Jeder und jede Wählberechtigte kann eine Liste wählen und darauf vier Vorzugsstimmen für Kandidatinnen und Kandidaten vergeben, um diese auf den Listen nach oben zu wählen. Das Wahlalter für die Teilnahme an den Abgeordnetenhauswahlen liegt bei 18 Jahren, wer sich um ein Mandat bewirbt muss mindestens 21 Jahre alt sein.
Die Sitzvergabe erfolgt nach einem komplexen System, über das in Tschechien politische und juristische Auseinandersetzungen geführt werden. Bislang wurden die Mandate allein auf Wahlkreisebene ermittelt. Die Wahlkreise entsprechen den Verwaltungsbezirken der Tschechischen Republik und sind in ihrer Bevölkerungsdichte sehr unterschiedlich. Die vier Wahlkreise Prag, Mittelböhmen, Südmähren und Mährisch-Schlesien umfassen fast die Hälfte aller Wahlberechtigten, andere Wahlkreise sind hingegen sehr dünn besiedelt.
Die Zahl der zu vergebenden Abgeordnetenmandate in jedem Wahlkreis richtete sich bislang nach dem Verhältnis der regional abgegebenen Stimmen zur landesweiten Wahlbeteiligung. Wurden in einem Wahlkreis beispielsweise zehn Prozent der in ganz Tschechien ausgezählten Stimmen abgegeben, erhielt dieser Wahlkreis auch zehn Prozent der Mandate im Abgeordnetenhaus.
Für das Verfahren der Mandatsvergabe sind jene Parteien zugelassen, welche die landesweite Sperrklausel überwunden haben. Sie lag bisher für einzelne Parteien bei fünf Prozent, für Zweiparteienbündnisse bei zehn Prozent und für Dreiparteienbündnisse bei 15 Prozent. Entsprechend der untereinander bestehenden Stimmverhältnisse wurden die Mandate in den Wahlkreisen auf die Parteien verteilt. Dabei kam bislang das D’Hondt-Verfahren zum Einsatz, einem Verteilungsprinzip bei Verhältniswahlen, das größere Parteien bevorzugt. Für kleinere Wahlkreise gibt es darüber hinaus eine faktische Sperrklausel: Bisweilen sind dort zirka zehn Prozent der Stimmen nötig, um ein Mandat zu erhalten.
Nach einer Klage von Abgeordneten kleinerer Oppositionsparteien erklärte das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik das bisherige Wahlsystem Anfang Februar 2021 in Teilen für ungültig und verfassungswidrig, insbesondere die relativ hohe Sperrklausel für Zwei- und Mehrparteienbündnisse. Außerdem urteilten die Richter, dass das D’Hondt-Verfahren die jeweils stärkste Partei übermäßig bevorzuge. Die Verfassung schreibe aber die Gleichwertigkeit aller Stimmen vor, so die Richter.
Ende April 2021 verabschiedete das tschechische Parlament daraufhin ein neues Wahlgesetz. Künftig werden die Sitze zwar weiterhin vorrangig auf Wahlkreisebene vergeben, maßgeblich ist nun jedoch das Erreichen der regionalen Mindestanzahl an Stimmen, welche rechnerisch für die Vergabe eines Mandats im Wahlkreis nötig ist. Allerdings zählen nur jene Sitze, die sich aus der vollständig erreichten Mindestanzahl an Wahlstimmen ergeben: Wenn beispielsweise für einen Sitz 20.000 Stimmen erforderlich sind und eine Partei 38.000 Stimmen erreicht, bekommt sie im Wahlkreis nur einen Sitz. Die bei diesem Verfahren übrig gebliebenen Stimmen, werden dann landesweit zusammengezählt und durch eine landesweit ermittelte Mindestanzahl an Wahlstimmen geteilt.
Die Unterschiede in der Mandatsvergabe im Vergleich zum alten System sind dabei durchaus relevant: Wäre das neue Verfahren schon 2017 eingesetzt worden, hätte ANO womöglich nur 69 statt 78 Sitze im Abgeordnetenhaus erhalten. Außerdem gilt nun eine Sperrklausel von acht Prozent für Zweiparteienbündnisse und elf Prozent für Mehrparteienbündnisse.
Das Problem der faktisch geltenden höheren Sperrklausel in kleineren Wahlkreisen ist jedoch immer noch ungelöst – den Vorschlag, die Wahlkreise generell abzuschaffen, lehnte eine Mehrheit des Parlaments ab.
Wer tritt zur Wahl an?
Die Bewegung ANO trat als stärkste politische Kraft in Tschechien zu den Parlamentswahlen 2021 an. Ihr Anführer Andrej Babiš ist mit einem geschätzten Vermögen von mehreren Milliarden Euro einer der reichsten Menschen des Landes. Immer wieder war er in der Vergangenheit mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Die Anti-Korruptions-Behörde der EU, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), ermittelte gegen ihn wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug. Er selbst behauptet von sich, in die Politik gegangen zu sein, um Korruption zu bekämpfen. Als Partei ist ANO politisch schwer zu verorten. Einerseits inszeniert sich Babiš als ein vermeintlich unabhängiger Anwalt des Volkes. Auch sympathisierte Babiš ideologisch mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump. Andererseits versteht sich ANO als liberal. Zudem trägt die Politik der Partei auch soziale Züge: So erhöhte die Regierung in der vergangenen Legislaturperiode die Renten und beschloss ÖPNV-Zuschüsse für Seniorinnen und Senioren sowie für Studierende.
Als wichtigste Oppositionskraft trat das Mitte-Rechts-Bündnis SPOLU zur Wahl an. Es besteht aus drei Parteien: Die liberal-konservative Demokratische Bürgerpartei (Občanská demokratická strana, ODS), die viele Jahre die Regierung anführte, der Christlichen und Demokratischen Union – Tschechoslowakische Volkspartei (Křesťanská a demokratická unie – Československá strana lidová, KDU-ČSL) und die bürgerlich-konservative Partei Tradice (odpovědnost, prosperita, Top 09). Die SPOLU-Koalition will unter anderem die Neuverschuldung begrenzen, Steuererhöhungen stoppen, Bürokratie abbauen und die Digitalisierung des Staates vorantreiben.
Bei der Abgeordnetenhauswahl 2017 zog die tschechische Piratenpartei (Česká pirátská strana) als damals drittstärkste Partei ins tschechische Abgeordnetenhaus ein. Sie tratt in diesem Jahr im Bündnis mit der liberal-konservativen Bewegung "Bürgermeister und Unabhängige" (Starostové a nezávislí, STAN) an und ist vor allem bei jungen urbanen Wählerinnen und Wählern beliebt. Sowohl SPOLU als auch das aus Piraten und STAN bestehende Bündnis galten im Vorfeld der Wahlen als die wichtigsten Herausforderer von ANO.
Eine verhältnismäßig starke Stellung im Abgeordnetenhaus hat die rechtsextreme Partei "Freiheit und direkte Demokratie" (Svoboda a přímá demokracie, SPD), die bei der Wahl 2017 mehr als zehn Prozent der Stimmen erhielt. Angeführt wird die SPD von dem japanischstämmigen Tschechen Tomio Okamura. Die Partei fordert unter anderem ein Referendum über den EU-Austritt. Die linkspopulistische KSČM darf sich Hoffnungen auf einen Wiedereinzug ins Parlament machen. Die langjährige sozialdemokratische Regierungspartei ČSSD ist dagegen auf den Status einer Kleinpartei zusammengeschrumpft und scheiterte bei der Wahl 2021 an der Fünf-Prozent-Hürde.
Auch die in diesem Jahr neu gegründete Partei "Schwur" (Přísaha) des ehemaligen Polizisten Róbert Šlachta, der bis 2016 die "Abteilung zum Kampf gegen das organisierte Verbrechen" leitete, tritt zur diesjährigen Abgeordnetenhauswahl an. Sie setzt sich insbesondere für Korruptionsbekämpfung ein.
Wahlkampf
Weniger als eine Woche vor der Wahl veröffentlichte ein internationales Recherchekonsortium aus verschiedenen europäischen Medien die sogenannten "Pandora-Papers". Aus diesen geht unter anderem hervor, dass Ministerpräsident Babiš im Jahr 2009 mittels einer Briefkastenfirma für 15 Millionen Euro ein Anwesen in Südfrankreich sowie andere Immobilien erworben haben soll. Expertinnen und Experten sehen darin Anzeichen für ein Geldwäschegeschäft - die Opposition wirft dem Ministerpräsidenten Korruption vor. Die 2016 neu gegründete "Nationale Zentrale gegen das organisierte Verbrechen" der tschechischen Polizei kündigte Ermittlungen an.
Auch wegen seiner Pandemiepolitik stand Babiš heftig in der Kritik. Gemessen an der Einwohnerzahl verzeichnete Tschechien die meisten Todesfälle durch Coronainfektionen in der EU. Der Ministerpräsident räumte im Februar ein, dass sein Kabinett Fehler gemacht habe. Ein weiteres bestimmendes Wahlkampfthema ist die Migrationspolitik. Babiš kündigte bei seinem Wahlkampfauftakt an, keinen einzigen "illegalen Migranten" in Tschechien aufnehmen zu wollen. Auch die Einführung des Euros lehnt er ab.
Wahlumfragen
Vor der Veröffentlichung der Pandora-Papers führte ANO in den Umfragen mit etwa 25 Prozent. Die SPOLU-Koalition kommt in Umfragen Anfang Oktober auf etwa 20 Prozent. Das Bündnis aus Piratenpartei und STAN liegt laut aktueller Umfragen ebenfalls bei rund 20 Prozent. Als unsicher gilt, ob die Partei "Schwur" und die Kommunisten den Einzug ins Abgeordnetenhaus schaffen können.