Anfang der 1990er Jahre ging der Zerfallsprozess des Vielvölkerstaats Jugoslawien in eine akute Phase über: Bei freien Wahlen im Jahr 1990 erstarkten nationale Unabhängigkeitsbewegungen in den Teilrepubliken und autonomen Provinzen. Als dritte Teilrepublik Jugoslawiens erklärte die Sozialistische Republik Mazedonien – das heutige Nordmazedonien – nach einem Referendum am 8. September 1991 ihre Unabhängigkeit. Der Staatszerfall mündete in den Jugoslawienkriegen, von denen Nordmazedonien als einziges Balkanland nicht direkt betroffen war. Heute ist Nordmazedonien EU-Beitrittskandidat und Mitglied der Nato.
Historischer Rückblick auf Nordmazedonien
Die Region Nordmazedonien zeichnet sich durch eine vielfältige Bevölkerungsstruktur aus – neben Menschen, die sich als ethnische Mazedonier bezeichnen, lebten und leben auf dem Gebiet unter anderem albanische, türkische und serbische Minderheiten sowie Roma. Das Land gehörte im 20. Jahrhundert verschiedenen Staatsgebilden an. Nach 1913 wurde es als Region "Vardar-Mazedonien" zunächst Teil Serbiens, dann 1919 Teil des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen und 1929 Teil des Königreichs
Ab 1945 regierte der ehemalige Partisanengeneral
Krise und Unabhängigkeitsbestrebungen
Bereits seit Mitte der 1970er-Jahre befand sich Jugoslawien in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Die Inflation sorgte auch in der Sozialistischen Republik Mazedonien für eine massive Geldentwertung und Lohnausfälle. Im Jahr 1987 streikten in der heutigen Hauptstadt Skopje Bauarbeiter, weil sie zwei Monate lang keine Bezahlung erhalten hatten. Ein Jahr später kam es auch in Veles aufgrund der stark gestiegenen Brotpreise zu Protesten.
Nach 1980 gewannen zudem Nationalisten in den jugoslawischen Teilrepubliken an gesellschaftlichen Einfluss. Die seit 1967 unabhängige Mazedonisch-Orthodoxe Kirche, die sich mit Unterstützung der jugoslawischen Regierung von der Serbisch-Orthodoxen Kirche abgespalten hatte, verband ein christliches Selbstbild mit einer mazedonisch-nationalen Identität. In Mazedonien kam es zu wachsenden Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimisch-albanischen Gruppen, die 1987 etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Teile der albanischen Bevölkerung strebten bereits in den 1980er-Jahren nach einem "Groß-Albanien", das auch Teile Mazedoniens umfassen sollte.
Erste Parlamentswahl 1990
Im Mai 1989 wurde der Mazedonier Milan Pančevski zum letzten Vorsitzenden des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens gewählt. Die Partei zerbrach auf dem 14. Kongress des Bundes im Januar 1990 an einem Konflikt über eine mögliche politische Umgestaltung des Landes. Formell traten Slowenien und Kroatien im Juni 1991 aus der Föderation aus.
In Mazedonien fand im November 1990 – wie auch in anderen jugoslawischen Teilrepubliken – die erste Parlamentswahl mit einem Mehrparteiensystem statt. Stärkste Kraft wurde die nationalistische VMRO-DPMNE, die Mazedonien als Nationalstaat des mazedonischen Volkes sah und die Zusammenarbeit mit albanischen Kräften ablehnte. Die VMRO-DPMNE konnte jedoch keine Regierungsmehrheit bilden. Daraufhin bildete der im Januar 1991 gewählte erste mazedonische Präsident Kiro Gligorow, angesichts des zerfallenden jugoslawischen Staates, eine Expertenregierung. Er sah eine auf einem demokratischen Votum basierende Unabhängigkeit in den historisch gewachsenen Grenzen als Chance, um gute Beziehungen zu den Nachbarländern aufzubauen und inneren Frieden zu wahren.
Unabhängigkeitsreferendum 1991
Am 8. September 1991 stimmten die Mazedonierinnen und Mazedonier über die Unabhängigkeit ihres Landes ab. An dem Referendum beteiligten sich 75,7 Prozent der Wahlberechtigten. Für eine Unabhängigkeit stimmten 96,4 Prozent von ihnen. Die albanische und serbische Minderheit boykottierte das Referendum allerdings größtenteils, wozu ihre politischen Interessenvertreter zuvor aufgerufen hatten. Der 8. September ist heute in Nordmazedonien Nationalfeiertag. Bulgarien erkannte die Unabhängigkeit der "Republik Mazedonien“ als erster Staat an. Die Verfassung von 1991 legt die parlamentarische Republik als politisches System fest, mit einem direkt gewählten Präsidenten als Staatsoberhaupt.
In den Teilrepubliken Slowenien und Kroatien fanden bereits am 25. Juni Unabhängigkeitsreferenden statt. Der dadurch beginnende Staatszerfall löste die sogenannten Jugoslawienkriege aus: Den Zehn-Tage-Krieg um Slowenien (1991), den Kroatien-Krieg (1991-1995), den Bosnien-Krieg (1992-1995) und den Kosovo-Krieg (1999). 150.000 bis 200.000 Menschen starben, Millionen wurden vertrieben.
Innerstaatliche Konflikte in Mazedonien
Mazedonien war die einzige jugoslawische Teilrepublik, die nicht militärisch an der Ausrufung seiner Unabhängigkeit gehindert wurde und außenpolitisch gute Beziehungen zu seinen neuen Nachbarstaaten unterhielt. Innerstaatliche Konflikte zwischen albanisch-mazedonischen Kämpfern und den staatlichen Sicherheitskräften nahmen hingegen ab Mitte der 90er Jahre zu. 2001 intervenierte die mazedonische Armee gegen aufständische albanische Separatisten im Nordwesten des Landes. Die mazedonische Ushtria Çlirimtare Kombëtare (UÇK), eine sich als "Nationale Befreiungsarmee“ der albanischen Mazedonier verstehende paramilitärische Organisation, die an die UÇK ("Befreiungsarmee des Kosovo") im Kosovo angelehnt war, verübte im Frühjahr 2001 einen Granatenanschlag auf eine Polizeistation. In den darauffolgenden Monaten kam es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Aufständischen und der Armee. Das Land stand am Rande eines Bürgerkriegs. Der als "albanischer Aufstand in Mazedonien“ bekannte Konflikt endete erst mit dem Rahmenabkommen von Ohrid. Der am 13. August 2001 geschlossene Vertrag sollte sicherstellen, dass die albanische Minderheit politisch und in der Verwaltung angemessen repräsentiert ist.
Konflikte mit Griechenland
Außenpolitische Auseinandersetzungen führte Nordmazedonien vor allem mit Griechenland, das die mazedonische Unabhängigkeit zunächst nicht anerkannte. Grund dafür war der Streit um die Namensgebung des Landes, da es auch in Griechenland eine Provinz mit dem Namen "Mazedonien" gibt. Ebenfalls umstritten waren nationale Symbole: Die Flagge Mazedoniens enthielt den "Stern von Vergina", den auch Griechenland für seine Provinz beansprucht. In die Vereinten Nationen wurde Mazedonien 1993 unter dem Namen "Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien" aufgenommen.
Als Grund für das Misstrauen Griechenlands galt auch die mazedonische Verfassung aus dem Jahr 1991. In Artikel 3 hieß es dort, dass die "existierenden Grenzen" von Mazedonien zwar "unveräußerlich" seien, sie aber "in Übereinstimmung mit der Verfassung" geändert werden könnten. Der Artikel 49 sprach davon, dass sich die Republik um "den Status und das Recht" von Mazedonierinnen und Mazedoniern in den Nachbarländern kümmern werde. In Griechenland gibt es eine südslawisch-mazedonische Minderheit. Beide Passagen der Verfassung wurden 1992 geändert. Dennoch dauerte der Konflikt mit Griechenland an: Im Jahr 1994 verhängte Griechenland ein Handelsembargo gegen Mazedonien.
Im Jahr 1995 unterzeichneten Griechenland und Mazedonien auf Vermittlung eines US-Sondergesandten ein Interimsabkommen, in dem sie die Änderung der mazedonischen Staatsflagge vereinbarten. Außerdem verzichtete Griechenland darauf, sich gegen eine mazedonische Mitgliedschaft in internationalen Organisationen zu sperren, sofern das Land, so wie bereits zuvor den Vereinten Nationen, unter einem provisorischen Namen beitrete.
Umbenennung und EU-Beitrittsverhandlungen
Griechenland legte 2008 sein Veto gegen eine geplante Aufnahme Mazedoniens in die Nato ein. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag urteilte 2011, dass Griechenland damit gegen das Interimsabkommen von 1995 verstoßen habe. Auch gegen eine Aufnahme Mazedoniens in die EU leistete Griechenland lange Widerstand. Ein Durchbruch im Namensstreit gelang mit dem Prespa-Abkommen von 2018, in dem sich Mazedonien dazu bereit erklärte, seinen Namen in "Nordmazedonien" zu ändern. In einem nicht bindenden Referendum stimmte zwar eine Mehrheit der Mazedonierinnen und Mazedonier für diesen Schritt, jedoch lag die Wahlbeteiligung unter der festgelegten Mindestgröße. Dennoch ratifizierte das Parlament die Vereinbarung Anfang 2019 und vollzog damit offiziell die Namensänderung des Landes.
Am 30. März 2020 wurde Nordmazedonien Mitglied der Nato. Seit 2005 hat Nordmazedonien auch den Status als EU-Beitrittskandidat. Im Jahr 2009 empfahl die EU-Kommission erstmals Beitrittsverhandlungen, die später an Reformbedingungen geknüpft wurden. Die Aufnahme der Verhandlungen wurde im November 2020 von einem Veto Bulgariens gestoppt, das Nordmazedonien vorwarf, den im Jahr 2017 zwischen den beiden Ländern geschlossenen Nachbarschaftsvertrag nicht umzusetzen. Vermittlungsversuche der EU waren bislang nicht erfolgreich. Nordmazedonien gilt jedoch nach wie vor als Beitrittskandidat.
Aktuell wird Nordmazedonien von dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zoran Zaev regiert. Sein Amtsvorgänger Nikola Gruevski von der bis 2016 regierenden nationalistischen VMRO-DPMNE wurde wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt und floh nach Ungarn. Staatspräsident des Landes ist der Sozialdemokrat Stevo Pendarovski. Beide sozialdemokratischen Amtsinhaber verfolgen einen pro-europäischen Kurs.
Lutz Schrader:
Interner Link: Mazedonien (Dossier Innerstaatliche Konflikte) Interner Link: Pendarovski gewinnt Stichwahl in Nordmazedonien (Hintergrund aktuell, Mai 2019) https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/289398/wahlen-in-nordmazedonienJulia Strasheim:
Interner Link: Die EU und innerstaatliche Konflikte (Dossier Innerstaatliche Konflikte)