In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 versuchten Teile des türkischen Militärs, Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die gewählte türkische Regierung gewaltsam zu stürzen. Mehr als 250 Menschen kamen im Verlauf des Putschversuchs ums Leben, rund 2.000 wurden verletzt. In der Hauptstadt Ankara sowie in der
Die Putschisten setzten schweres militärisches Gerät wie Panzer und Kampfjets ein, feuerten auf Zivilisten und beschossen u.a. das Parlamentsgebäude in Ankara.
Nicht der erste Putschversuch
Über die Zahl der beteiligten Putschisten fehlen bis heute verlässliche Angaben. In einer Anklageschrift gingen türkische Staatsanwälte im Jahr 2017 von über 8.000 aktiv beteiligten Soldaten aus. Große Teile der Armee waren demnach nicht am Putschversuch beteiligt, hatten davon keine Kenntnis oder verweigerten den Putschisten die Gefolgschaft. Auch einige Generäle und andere hochrangige Befehlshaber sollen an dem Putschversuch beteiligt gewesen sein oder diesen zumindest gebilligt haben. Der Regierung zufolge war die
Der gescheiterte Putsch von 2016 war nicht der erste in der türkischen Geschichte: 1960, 1971 und 1980 hatte das türkische Militär erfolgreich geputscht. Und 1997 hatte das Militär der damals amtierenden Regierung ein Ultimatum gestellt, Maßnahmen zu ergreifen, um eine befürchtete Islamisierung des Landes zu verhindern. Der damalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan trat daraufhin zurück, die Regierung beugte sich den Forderungen, der Putsch wurde hinfällig.
Widerstand gegen den Putschversuch
Der Putsch scheiterte nicht nur, weil große Teile der Armee gar nicht beteiligt waren, sondern auch, weil der Widerstand der Bevölkerung sehr groß war. So veranlasste z.B. die türkische Religionsbehörde Diyanet, dass über die Lautsprecher der Minarette im ganzen Land dazu aufgerufen wurde, sich gegen die Putschisten zu stellen; auch an alle türkischen Mobiltelefone wurden Aufrufe verschickt, die zu selbigem aufforderten. Präsident Erdoğan rief in einer von einem Fernsehsender übertragenen Videobotschaft die Bevölkerung ebenfalls zum Widerstand gegen die Putschisten auf. Darüber hinaus hatte die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (
Die Putschisten sagten in einer Verlautbarung, sie wollten die verfassungsmäßige Ordnung sowie Demokratie und Menschenrechte wiederherstellen. Erdoğan stand zu jener Zeit international in der Kritik, die Türkei zunehmend autoritär zu regieren. Die EU und die USA verurteilten den Putsch einhellig.
Erdogan schränkt Meinungs- und Pressefreiheit massiv ein
Erdoğan sieht den islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen religiöse Bewegung als Drahtzieher der Anschläge. Der in den USA lebende Gülen bestreitet, etwas mit dem Umsturzversuch zu tun zu haben. Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (
Kurz nach dem Putschversuch verhängte Erdoğan im Juli 2016 den Ausnahmezustand, der trotz massiver internationaler Kritik rund zwei Jahre lang aufrechterhalten wurde. Er ermöglichte es Erdoğan, per Dekret zu regieren, d.h. die Dekrete konnten vor Gericht nicht angefochten werden. Ebenso wurden auf Grundlage des Ausnahmezustandes Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt. Als Folge des Putsches kam es nicht nur im Militär, sondern im gesamten öffentlichen Dienst, wie etwa im Bildungsbereich, der Polizei und der Verwaltung, zu Massenentlassungen und -verhaftungen.
Diese richteten sich zum einen gegen tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung. Zum anderen nutzen die AKP und Erdoğan den Ausnahmezustand auch dafür, die Opposition – insbesondere die v.a. von Kurdinnen und Kurden sowie der türkischen Linken gewählte Demokratische Partei der Völker (
Rund 130.000 Staatsbedienstete wurden entlassen
Offiziellen Angaben zufolge wurden in den ersten beiden Jahren nach dem Putschversuch gut 130.000 Türkinnen und Türken aus dem Staatsdienst entlassen – darunter etwa 4.000 Staatsanwälte und Richter. Viele private Bildungseinrichtungen und diverse staatliche Universitäten wurden geschlossen, mehrere tausend Hochschulangestellte und auch viele Lehrerinnen und Lehrer aus dem Dienst entfernt.
Unter den Verhafteten und Entlassenen waren auch viele HDP-Politikerinnen und Politiker und Aktivistinnen und Aktivisten, die Verbindungen zur terroristischen
Seit 2017 standen 497 Beschuldigte vor Gericht, die laut Anklage in den Putschversuch involviert gewesen sein sollen. Im April dieses Jahres wurde in 38 Fällen lebenslange Haft ausgesprochen, 106 Angeklagte müssen sechs bis über 16 Jahre in Haft, 121 wurden freigesprochen und bei 231 Angeklagten wurde keine Strafe verhängt.
Die türkische Armee wurde vor allem in der Führungsebene komplett umstrukturiert. Insgesamt enthob der Staat offiziellen Angaben zufolge seit 2016 etwa 21.000 Mitarbeiter der Streitkräfte des Dienstes.
Bis heute sind die Auswirkungen des Putsches spürbar. Immer wieder kommt es zu Verhaftungswellen gegen tatsächliche oder vermeintliche Anhängerinnen und Anhänger der Gülen-Bewegung – zuletzt erst im Mai dieses Jahres. Die Türkei leidet derzeit unter schlechten Wirtschaftsdaten und einer massiven Inflation. Auch die Coronakrise macht dem Land zu schaffen. Teile der Bevölkerung verarmen zunehmend. Erdoğans Beliebtheitswerte sind seit Längerem nicht mehr auf dem Niveau früherer Jahre. Bei den Kommunalwahlen 2019 konnte die oppositionelle CHP in zahlreichen wichtigen Städten die Bürgermeisterwahlen für sich entscheiden. 2023 stehen planmäßig die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an.
Michael Martens:
Interner Link: Der gescheiterte Putsch und seine Folgen (APUZ 9-10/2017) Jürgen Gottschlich:
Interner Link: Das Militär, die AKP und der gescheiterte Putsch Çiğdem Akyol:
Interner Link: Der Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan Gereon Schloßmacher:
Interner Link: Das "neue" politische System der Türkei Inga Rogg: Türkei, die unfertige Nation (Schriftenreihe, Band 10214)