In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es die Alliierten, die die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes strafrechtlich verfolgten. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof fanden von 1945 bis 1949 die Interner Link: Nürnberger Prozesse statt, die den Interner Link: Auftakt eines langen Weges der Aufarbeitung bildeten. Ab 1950 erlaubte das Gesetz Nummer 13 des Rats der Alliierten Hohen Kommission auch deutschen Gerichten eine uneingeschränkte Strafverfolgung von nationalsozialistischen Gewalttaten. Erst im Jahr 1963 begann das Strafverfahren über Verbrechen, die im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz begangen wurden: der Frankfurter Auschwitz-Prozess.
Periode des Schweigens
Bis 1958 wurde jedoch nur gegen wenige Täter ermittelt. Ein Grund dafür war das gesamtgesellschaftliche Klima in den frühen Jahren der Bundesrepublik: Durch Entnazifizierungsverfahren sollten zwar alle ehemaligen Nazis aus Positionen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft entfernt werden. Diese Verfahren blieben jedoch oft oberflächlich. Ab 1951 wurden viele Staatsbedienstete aus der NS-Zeit Externer Link: wieder eingegliedert. Auch einige Verurteilte aus den Interner Link: Hauptkriegsverbrecherprozessen wurden in den 1950er-Jahren begnadigt. Bundeskanzler Konrad Adenauer forderte gar eine Interner Link: generelle Amnestie für Strafen, die von Gerichten der Alliierten verhängt wurden. Der weit verbreitete Wunsch nach einem "Schlussstrich" unter die Nazi-Verbrechen sowie der anlaufende Wiederaufbau des Landes trugen in der Adenauer-Ära zu einer "Periode des Schweigens" über die NS-Gräuel bei. Die meisten Deutschen fühlten sich damals als Kriegsopfer.
Ulmer Prozess 1958
Das änderte sich erst mit dem Externer Link: Ulmer Prozess von 1958. Hauptangeklagter war Bernhard Fischer-Schweder, der Kommandeur des Einsatzkommandos Tilsit, das 1941 im litauischen Memel (heute: Klaipėda) mehrere tausend Jüdinnen und Juden ermordet hatte. Dem Gericht gelang es, ihm und neun weiteren Angeklagten die Beteiligung an insgesamt 5.502 Morden nachzuweisen. Es war der erste Prozess vor einem deutschen Gericht, in dem Massenmorde verhandelt wurden. Er machte öffentlichkeitswirksam deutlich, dass NS-Verbrecher unbestraft in Deutschland lebten und arbeiteten.
Zwei Monate nach dem Urteil, im November 1958, gründeten die Justizminister der Bundesländer die Externer Link: Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Ihre Aufgabe ist es bis heute, auf der Grundlage systematischer Quellenauswertung Vorermittlungen zu führen, die sie an die zuständigen Staatsanwaltschaften übergibt.
Mord oder "Befehlsnotstand"?
Ein Problem bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen war die Diskrepanz zwischen dem Ausmaß des organisierten Massenmordes an europäischen Juden und einem Mordparagrafen, der für eine Verurteilung individuelle Tatnachweise voraussetzt. Das bedeutet: Täter konnten nur dann verurteilt werden, wenn ihnen eine direkte Beteiligung an Morden nachgewiesen werden konnte, was einschließt, dass die Tat ohne Befehl und aus niederen Motiven wie zum Beispiel Rassenhass begangen wurde. Dem stand entgegen, dass sich Täter oft auf den so genannten "Befehlsnotstand" beriefen und bekundeten, dass ihnen bei Unterlassung ihrer Taten Gefahr für Leib und Leben gedroht hätte. Als besonders schwierig erwies sich, in dem quasi-industriell aufgebauten Mordkomplex des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz einer einzelnen Person die Hauptverantwortung für eine einzelne Tat nachzuweisen.
Die Anhörungen
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess begann am 20. Dezember 1963. Externer Link: Insgesamt sollten 24 Männer wegen NS-Verbrechen im Kontext des Konzentrationslagers Auschwitz angeklagt werden. Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz, starb ein halbes Jahr vor Prozessbeginn, ein weiterer Mann schied krankheitsbedingt aus dem Verfahren aus. Hauptangeklagter war Robert Mulka, der Adjutant des früheren Lagerkommandanten Rudolf Höß. Der Prozess hieß offiziell "Strafsache gegen Mulka u.a.". Neben Mulka standen unter anderem drei Lagerärzte und Mitglieder der SS-Wachmannschaften vor Gericht.
Angehört wurden insgesamt 359 Zeugen aus 19 Ländern. Etwa zwei Drittel von ihnen waren ehemalige Interner Link: KZ-Häftlinge. Für sie waren die Aussagen oft besonders belastend – nicht nur, weil sie traumatische Erlebnisse schildern mussten, sondern auch, weil ihre Erinnerungen zum Teil von den Verteidigern und Richtern infrage gestellt wurden. Sie berichteten von Foltermethoden, "Selektionen", Tötungen und Misshandlungen durch Ärzte. Diese Aussagen sorgten auch international für großes Aufsehen.
Die Angeklagten ihrerseits leugneten die Existenz der Verbrechen in Auschwitz oft nicht. Sie gaben jedoch häufig an, Erinnerungslücken zu haben, oder bestritten, persönlich an diesen Taten beteiligt gewesen zu sein. Außerdem beteuerten sie, auf Befehl gehandelt zu haben. Interner Link: Scham oder Reue für die Taten zeigten sie nicht.
Urteile lösen Debatte aus
Am 19. und 20. August 1965 wurden Externer Link: die Urteile verkündet. Sechs Angeklagte wurden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, darunter Josef Klehr, der Leiter des SS-Desinfektionskommandos in Auschwitz, dem 475 Morde und gemeinschaftliche Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens sechs Fällen zur Last gelegt wurden. Auch Emil Bednarek, der als sogenannter Funktionshäftling von der SS in Auschwitz eingesetzt worden war und dem 14 Morde nachgewiesen werden konnten, erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er wurde jedoch 1975 begnadigt. Robert Mulka selbst bekam wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen und an mindestens je 750 Menschen eine 14-jährige Freiheitsstrafe, die er jedoch nie antrat: Ihm wurde noch vor Rechtskraft des Urteils im Jahr 1968 Haftverschonung gewährt. Mulka starb 1969. Drei weitere Angeklagte wurden freigesprochen.
Insgesamt wurden die Urteile oft als zu milde empfunden. Auch Interner Link: Fritz Bauer zeigte sich enttäuscht. Die Prozesse halfen jedoch, Debatten in Gang zu bringen, die den Umgang mit NS-Verbrechen in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bestimmten. Mehr Menschen wurde bewusst, Interner Link: dass es keinen "Schlussstrich" unter nationalsozialistische Verbrechen geben konnte. Parallel zum Prozess debattierte der Bundestag darüber, Interner Link: die Verjährungsfrist von Mord aufzuheben, was 1979 beschlossen wurde – auch, weil dadurch Nazi-Verbrechen weiterverfolgt werden konnten.
Wende durch den Demjanjuk-Prozess 2011
Die Rechtsauffassung, dass nur jene Nazi-Täter zur Verantwortung gezogen werden können, denen eine persönliche Beteiligung an Morden nachgewiesen werden konnte, änderte sich dagegen nur allmählich. Beihilfe zum Mord und Mord sind die einzigen Verbrechen aus der Nazi-Zeit, die noch nicht verjährt sind. Gleichzeitig galten aber beispielsweise SS-Wachen, die mit ihren Taten einen Anteil daran hatten, dass Morde geschehen konnten, im juristischen Sinne nicht als Beihelfer.
Das änderte sich mit dem Prozess gegen den in der Ukraine geborenen SS-Wachmann John Demjanjuk, der 2011 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 28.060 Fällen im Interner Link: Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Demjanjuk starb 2012, bevor das Urteil rechtskräftig wurde. Ab 2011 wurde es möglich, auch jene Mittäter zur Verantwortung zu ziehen, die ihren Anteil daran hatten, dass die Mordmaschine der Nationalsozialisten funktionieren konnte. Deswegen gibt es auch immer noch Prozesse gegen NS-Täter: Ein 93-jähriger ehemaliger SS-Wachmann im KZ Stutthof wurde beispielsweise Ende Juli 2020 zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt.
Interner Link: Jörg Echternkamp: Die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen
Joachim Wolf: Leugnen aus Tradition. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse