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Vor 40 Jahren: Räumung der "Republik Freies Wendland" | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 40 Jahren: Räumung der "Republik Freies Wendland"

Redaktion

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Am 4. Juni 1980 räumten Polizeieinheiten ein von Atomkraftgegnern errichtetes Dorf in der Nähe von Gorleben, die "Republik Freies Wendland". Bis heute ist das Wendland eine Hochburg des Anti-Atomkraft-Protests.

Polizei und Bundesgrenzschutz räumen am 04.06.1980 das Hüttendorf der "Republik Freies Wendland" nahe Gorleben, das Atomkraftgegner aus Protest gegen das geplante Atommüll-Lager an der Tiefbohrstelle 1004 errichtet hatten. (© picture-alliance, Dieter Klar)

Im Februar 1977 verkündete der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), dass im Wendland eine Endlagerstätte für Atommüll und eine Wiederaufbereitungsanlage errichtet werden sollten. Die Politik stand in dieser Zeit unter energiepolitischem Handlungsdruck: Das Verwaltungsgericht Schleswig hatte zuvor mit Blick auf die bis dato nicht gelöste Frage der Endlagerung von Atommüll einen Baustopp für das Atomkraftwerk Brokdorf verhängt. Es war damals offen, ob ohne ein vorhandenes Endlager weitere Kernkraftwerke in Deutschland gebaut werden können.

Die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK), ein Tochterunternehmen von zwölf Stromversorgern, begann im Frühjahr 1978 mit dem Kauf von Land in der Region um Gorleben, stieß jedoch auf Hindernisse. Grundbesitzer Andreas Graf von Bernstorff entschied sich etwa dazu, die 600 Hektar Wald, die für den Bau der Anlage erforderlich gewesen wären, nicht zu verkaufen.

Ab 1979 Pläne für Endlager und Wiederaufbereitungsanlage

Ab dem 25. März 1979, nur wenige Tage vor dem ernsten Atomunfall im US-amerikanischen Atomkraftwerk Three Mile Island mit einer teilweisen Kernschmelze, kam es in Niedersachsen zu Massenprotesten gegen die Pläne der Landesregierung. In Gorleben starteten Bauern mit über 300 Traktoren zu einem Protestzug, bei der Abschlusskundgebung in Hannover gingen etwa 100.000 Menschen auf die Straße. Kurze Zeit später gab Ministerpräsident Albrecht die Pläne für eine Wiederaufbereitungsanlange auf. Nun sollten nahe Gorleben Zwischen- oder Endlagerstätten für radioaktive Abfälle errichtet werden. Die physikalisch-technische Bundesanstalt in Braunschweig sollte dazu Bohrungen durchführen.

Anfang 1980, mit dem Beginn der Tiefbohrungen, kam es zu weiteren Protesten, in denen beispielsweise Bauern an einer Tiefbohrstelle tausende Liter Jauche ausbrachten. Anfang April 1980 trafen sich zahlreiche Anhängerinnen der Frauenbewegung auf der Tiefbohrstelle "1004". Unter diesem Ort lag ein Salzstock, der für die Lagerung von Atommüll favorisiert wurde.

Errichtung der "Republik Freies Wendland" am 3. Mai 1980

Am 3. Mai 1980 marschierten etwa 5.000 Atomkraftgegner in das Waldstück rund um die Tiefbohrstelle, besetzten den Ort und erklärten ihn zur "Republik Freies Wendland". Die Aktion war zuvor geplant worden. Die aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Aktivisten hatten Werkzeug, Schlafsäcke sowie Baumaterialien aus der Umgebung mitgebracht. Ihr Gemeinschaftsgebäude war im Vorfeld von Zimmerleuten vorbereitet worden.

Binnen weniger Tage errichteten die Aktivisten ein Dorf mit mehreren Gebäuden, Versorgungsanlagen und landwirtschaftlichen Nutzflächen. Es gab laut Zeitzeugen einen mit Windenergie betrieben Tiefbrunnen, Gewächshäuser, eine Kirche, Schweineställe, Badehütten, eine Krankenstation, später auch eine mit Solarkraft geheizte Warmwasserdusche. Über den Radiosender „Radio Freies Wendland“ wurde ab dem 18. Mai ein lokales Programm ausgestrahlt. Auf dem Dorfplatz und in den Gebäuden fanden Diskussionsrunden, Theatervorstellungen und Konzerte statt. Insgesamt entstanden über 100 Hütten. Etwa 300 Aktivisten lebten ständig auf dem Gelände. An Sonn- und Feiertagen, waren weit über tausend Demonstranten und Schaulustige vor Ort.

Schon bald erregte die " Republik Freies Wendland" überregionales Interesse und zog auch Touristen an. Gegen zehn Mark bekamen Besucher einen humoristischen "Wendenpass". Rebecca Harms, damals Mitglied der Bürgerinitiative Umweltschutz in Lüchow-Dannenberg, berichtete von "Butterfahrten" mit Bussen voller Menschen, die sich das Dorf anschauen wollten.

Räumung war lange geplant

Behörden warfen den Aktivisten vor, mit der Protestaktion gegen diverse gesetzliche Regelungen zu verstoßen. Der Spiegel zitierte amtliche Hinweise, laut denen die Bewohner gegen das Baugesetz, die Bauordnung, das Feld- und Forstordnungsgesetz, das Waldgesetz, das Seuchengesetz, das Pressegesetz und auch gegen das Meldegesetz verstießen. Niedersachsens Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) versuchte zunächst, die Demonstranten mit einer "Überzeugungsoffensive" zur Aufgabe zu überreden. Dass er den Platz räumen lassen würde, stellte er nicht in Zweifel: "Wir werden natürlich einschreiten. Am Tag X wird der Platz geräumt, mit ausreichenden Kräften", so Möcklinghoff damals.

Nach 33 Tagen endete die Besetzung: Am 4. Juni 1980 umzäunte die Polizei das Gelände mit Stacheldraht und forderte die Polizei die Besetzer auf, die Siedlung zu verlassen. Mittlerweile hatten sich zwischen 2.000 und 4.000 Atomkraftgegner dort eingefunden, um die Räumung der "Republik Freies Wendland" zu verhindern. Insgesamt waren 7.000 Polizisten und Bundesgrenzschützer versammelt, es war der bis dahin größte Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte. Vereinzelt kam es zu körperlichen Übergriffen und Schlagstockeinsätzen. Im Ganzen verlief die Räumung jedoch ohne größere Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten. Bulldozer rissen die Hütten ab, bereits am Abend war die Besetzung beendet.

Anti-Atomkraftbewegung in den 1980er-Jahren

Bundesweit kam es in den Folgewochen zu Solidaritätsaktionen. In Bremen etwa besetzten Aktivisten den Präsident-Kennedy-Platz. Währenddessen suchten verschiedene Landesregierungen nach einem neuen Standort für eine Wiederaufbereitungsanlage. Die von der SPD geführte hessische Landesregierung versuchte etwa, eine solche Anlage in den ländlichen Kommunen Volkmarsen und später in Frankenberg-Wangershausen durchzusetzen. Auch hier gingen mehr als 10.000 Menschen gegen die Pläne auf die Straße. Die Grünen profitierten bei der Landtagswahl im September 1982 von den Protesten, das Projekt wurde im Oktober 1982 gestoppt.

Schließlich entschied sich die bayerische Landesregierung, in Wackersdorf eine Wiederaufbereitungsanlage zu errichten. Die Bauarbeiten begannen 1985 und wurden nach heftigen Protesten, nicht zuletzt nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl, im Jahr 1989 eingestellt.

In Gorleben wurde ab 1982 ein Zwischenlager für atomare Abfälle gebaut. Von 1995 bis 2011 trafen hier Transporte mit Castor-Sicherheitsbehältern ein, auch gegen diese Transporte kam es zu Protesten. Parallel wurde Gorleben als möglicher Standort für ein Endlager geprüft. Im Jahr 2000 erließ die Bundesregierung dazu jedoch ein zehnjähriges Moratorium, in dem die Erkundungsarbeiten ruhten. Nachdem die Erkundungstätigkeiten im März 2010 wieder aufgenommen wurden, folgte im November 2012 ein erneuter Erkundungsstopp - anderthalb Jahre nach dem GAU von Fukushima 2011 und dem folgenden Beschluss zum schrittweisen Atomausstieg Deutschlands bis 2022.

Im April 2013 beschloss die Bundesregierung, die Suche nach einem Endlager neu zu beginnen. Im Herbst 2020 will die Bundesgesellschaft für Endlagerung bekannt geben, welche Gebiete in Deutschland dafür in Frage kommen. Das Wendland steht indes bis heute für die am längsten überdauernde Bürgerbewegung gegen die Atomkraft.

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