Ausgangspunkt für die Proteste war ein neues Auslieferungsgesetz. Ein junger Mann aus Hongkong soll im Frühjahr 2018 seine Freundin während einer Taiwan-Reise getötet haben und floh anschließend in seine Heimatstadt. Der Fall sorgte für öffentliches Aufsehen. Nach Hongkonger Recht muss die strafrechtliche Verfolgung in dem Staat vollzogen werden, in dem die Straftat begangen wurde. Mit Interner Link: Taiwan hat Hongkong jedoch kein Auslieferungsabkommen für Straftäterinnen und -täter, auch weil Taiwan international nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird und China die Hoheitsrechte über die Insel beansprucht. Die seit 2017 amtierende Regierungschefin Hongkongs, Carrie Lam, brachte daher Anfang 2019 ein neues Auslieferungsgesetz auf den Weg.
Mit ihm sollten Auslieferungen an Taiwan und alle weiteren Länder ermöglicht werden, mit denen die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong bisher kein entsprechendes Abkommen vereinbart hat. Damit wären folglich nicht nur Auslieferungen nach Taiwan, sondern erstmals auch nach Festlandchina möglich gewesen, wo in den Augen vieler Hongkonger Bürgerinnen und Bürger ein rechtstaatliches Verfahren nicht als gesichert gilt. Dem Gesetzesentwurf folgend hätte Lam als Regierungschefin persönlich die Entscheidungsbefugnis gehabt, über Auslieferungsersuchen zu entscheiden. Die Politikerin gilt als treu zur chinesischen Regierung in Peking.
Ein Land, zwei Systeme
Seit 1997 ist Hongkong eine von zwei Sonderverwaltungsregionen (SVR) der Volksrepublik China. Als solche untersteht Hongkong der Zentralregierung in Peking und hat keine vollwertige Verfassung. Gleichzeitig werden der ehemaligen britischen Kolonie jedoch umfassende Sonderrechte zugestanden. Unter der Formel "Ein Land, zwei Systeme" vereinbarten Großbritannien und China im Jahr 1984, dass Hongkong auch nach seiner Rückgabe an die Volksrepublik China im Jahr 1997, für 50 Jahre - also bis 2047- , sein eigenes politisches System, eine kapitalistische Marktwirtschaft sowie liberale Bürgerrechte beibehalten darf. Dementsprechend räumt das am 1. Juli 1997 in Kraft getretene, verfassungsähnliche "Basic Law" von Hongkong der SVR einen hohen Grad an Autonomie in allen Angelegenheiten ein, mit Ausnahme der Außen- und Verteidigungspolitik. Aufgrund seines Sonderstatus fungiert Hongkong weiterhin als wichtiges Bindeglied zwischen dem chinesischen Markt und dem Weltmarkt, auch wenn die wirtschaftliche Bedeutung der SVR durch neue die neuen Wirtschaftszentren Shenzhen und Shanghai geschwächt wurde.
In der Hongkonger Bevölkerung wuchs schon bald die Sorge, dass ein Auslieferungsgesetz zur kontinuierlichen Aushöhlung der Hongkonger Autonomie führen könnte. Befürchtet wurde vor allem eine stärkere Einflussnahme der chinesischen Zentralregierung auf die Unabhängigkeit des Rechtsstaats, die Meinungsfreiheit und die Zivilgesellschaft in Hongkong.
Erste friedliche Massenproteste gegen das Gesetz gab es bereits Ende März, die sich im Verlauf des Frühjahrs weiter vorsetzten. Als das Gesetz Mitte Juni in zweiter Lesung im Hongkonger Parlament eingebracht werden sollte, gingen in der Stadt mit 7,5-Millionen-Einwohner bis zu eine Million Menschen auf die Straße, während vor allem junge Hongkongerinnen und Hongkonger das Parlamentsgebäude blockierten.
Ausweitung des Protests
In den folgenden Monaten demonstrierten vor allem an den Wochenenden immer wieder hunderttausende Menschen in der Hongkonger Innenstadt und rund um das Parlamentsgebäude. Ein Teil der Proteste wurde dabei polizeilich verboten. Anfangs waren es vor allem Schülerinnen und Schüler sowie Studierende, die gegen das Auslieferungsgesetz protestierten. Dies änderte sich jedoch: Es gingen immer mehr Menschen auf die Straße, die zunehmend aus verschiedenen Generationen und sozialen Milieus stammten. Es kam bei den überwiegend friedlichen Versammlungen und Märschen immer wieder zu Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Dabei wurden von Ersteren Steine und Brandsätze, von den Beamten Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. Anfang und Mitte August blockierten protestierende Bürgerinnen und Bürger den internationalen Flughafen in Hongkong und Teile des Nahverkehrs. Zahlreiche regierungskritische Protestteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden im Laufe der vergangenen Wochen verhaftet. Nach Angaben der Hongkonger Polizei wurden bis Anfang September im Zusammenhang mit den aktuellen Protesten über 1.100 Personen vorläufig festgenommen.
Forderungen an die Regierung
Obwohl einzelne Personen wie Joshua Wong, Vorstand der oppositionellen Organisation Demosisto, eine große mediale Aufmerksamkeit erfahren, hat die Protestbewegung keine einheitliche Führung. Einige, mittlerweile allgemeinere, Forderungen an die Hongkonger Regierung, kehrten jedoch immer wieder. Darunter: ein vollständiger Rückzug des Gesetzentwurfs; ein Verzicht der Regierung darauf, die Proteste als "Unruhen" zu bezeichnen; eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt; die Freilassung von verhafteten Demonstrantinnen und Demonstranten sowie der Rücktritt der Regierungschefin Lam und größere demokratische Freiheiten, wie etwa ein universelles Wahlrecht ohne Pekings Mitbestimmung.
Das politische System Hongkongs
Hongkong verfügt über ein teil-demokratisches Regierungssystem. Das Basic Law sieht die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei der Wahl des Hongkonger Regionalparlaments vor. Obwohl das Basic Law eine weitergehende Demokratisierung erlaubt, wird derzeit nur die Hälfte der 70 Abgeordneten direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt. Die andere Hälfte wird von Vertretern und Vertreterinnen aus beruflichen "Funktionsgruppen" bestimmt. Zudem verfügt der "Legislativrat", wie das Parlament in Hongkong genannt wird, nur über begrenzte Kompetenzen - eine parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament besteht nicht.
Das mit umfangreichen Machtbefugnissen ausgestattete Regierungsoberhaupt von Hongkong (engl. "Chief Executive"), wird dagegen von einem Wahlkomitee auf fünf Jahre bestimmt. Das derzeit 1.200-köpfige Gremium setzt sich aus Mitgliedern von Branchenverbänden, Berufsständen und sozialen Organisation sowie Hongkonger Politikern und Politikerinnen und Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses in Peking zusammen. Es gilt als mehrheitlich loyal zu Peking. Während das Hongkonger Basic Law vorsieht, dass Regierungsoberhaupt langfristig mittels eines "universellen Wahlrechts" zu bestimmen, wurden direkte Wahlen für das Amt des Hongkonger Regierungsoberhaupts bis heute nicht verwirklicht.
Seit März 2017 ist Carrie Lam Cheng Yuet-ngor (kurz. Frau Lam) Regierungschefin der Hongkonger Sonderverwaltungszone. Sie gilt als Peking treu.
Die eingeschränkte politische Macht sowie Gesetzesverschärfungen durch den Nationalen Volkskongress haben in der jüngeren Vergangenheit wiederholt zu Protesten in der Hongkonger Bevölkerung geführt. 2003 demonstrierten mehr als 100.000 Menschen erfolgreich gegen ein geplantes Gesetz zur Einschränkung der Pressefreiheit und gegen ein Demonstrationsverbot. Zwei Jahre später fanden Kundgebungen für allgemeine und freie Wahlen statt. 2012 konnte die Einführung des Schulfachs "Nationale Erziehung", mit dem die chinesische Regierung das "alte Denken" in der ehemaligen Kolonie bekämpfen wollte, durch Proteste abgewendet werden. 2014 führten von Peking vorgesehene Wahlrechtsreformen zu wochenlangen Demonstrationen und Straßenblockaden.
Peking warnt Demonstrierende
Der Konflikt in Hongkong hat internationale Dimensionen angenommen. Peking drohte Anfang August gewaltbereiten Demonstrierenden mit harten Sanktionen und zog am 7. August im Rahmen einer Truppenübung Polizeisondereinheiten an der Grenze zu Hongkong zusammen. Wenige Tage vor einem geplanten Massenprostest Ende August ließ die chinesische Regierung ihre Truppen in Hongkong austauschen, wobei chinesische Panzer durch die Straßen Hongkongs rollten. Obwohl Peking von routinemäßigen Vorgängen sprach, wurde dies als eine zunehmend offene Drohung wahrgenommen und schürt bei in- und ausländischen Beobachtern die Sorge, dass Peking militärisch in den Konflikt eingreifen könnte.
Die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Federica Mogherini, mahnte Mitte August die Wahrung der Bürgerrechte in Hongkong an. Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" müsse erhalten bleiben. Gleichzeitig rief sie auch die Demonstrantinnen und Demonstranten zur Mäßigung auf. Auch die USA forderten die chinesische Regierung auf, die weitgehende Autonomie Hongkongs zu achten.
Hongkongs wirtschaftliche Bedeutung für China
Seit 1997 ist Hongkong nach rund 150 Jahren unter britischer Herrschaft als Sonderverwaltungszone erneut ein Teil Chinas. Ein Übergabevertrag sichert derzeit eine "weitgehende Autonomie" für Hongkong über 50 Jahre zu. Wirtschaftlich und politisch hat China jedoch großes Interesse daran, seinen Einfluss auf Hongkong zu bewahren: Hongkong hat als eines der weltweit bedeutendsten Finanzzentren eine große wirtschaftliche Bedeutung für China. Einige der größten chinesischen Konzerne sind an der Hongkonger Börse gelistet, die zu den wichtigsten Finanzmarktplätzen Asiens zählt. Insgesamt gehen derzeit etwa zwölf Prozent der chinesischen Exporte nach Hongkong oder werden über Hongkong abgewickelt - Anfang der 1990er Jahre waren es noch rund 50 Prozent. Allerdings schwindet die Abhängigkeit Chinas von seiner Sonderverwaltungsregion. Andere Regionen des Landes haben im Vergleich zu Hongkong mittlerweile strukturell aufgeholt.
Bereits seit einiger Zeit hat Peking den politischen Druck auf Hongkong erhöht. So wurde das Recht auf Versammlungsfreiheit beschnitten. Zudem lässt die Regierung in Peking über Regierungschefin Lam den Gebrauch von Mandarin als Verkehrssprache fördern. Bisher spricht eine Mehrheit der Menschen in Hongkong Kantonesisch.
Die Proteste in Hongkong im Jahr 2014, die ebenfalls hunderttausende Menschen mobilisierten, entzündeten sich an Pekings Entschluss, die Kandidierenden für das Amt des Hongkonger Regierungschefs künftig vor der Wahl zu bestimmen. Das Gesetz trat nicht in Kraft, die chinesische Zentralregierung blieb jedoch dabei, die Kandidatinnen und Kandidatenweiterhin über das nicht repräsentative Wahlkomitee wählen zu lassen.
Wohin die aktuellen Proteste führen, ist derzeit noch nicht absehbar. Die Demonstrationsbewegung in Hongkong ist die größte seit der "Interner Link: Regenschirm-Revolution" von 2014 und eine der bedeutendsten in China insgesamt seit den Protesten auf dem Tiananmen. In Reaktion auf die anhaltenden Proteste verkündete Regierungschefin Lam am 4. September den endgültigen Rückzug des Auslieferungsgesetzes. Doch obwohl von vielen begrüßt, geht dieser Schritt den Demonstrierenden nicht weit genug. Sie setzen ihre Proteste auch im September fort und pochen auf ihre weiteren Forderungen. Zu einer vollständigen Umsetzung ist die Hongkonger Regierung jedoch nicht bereit, deren politische Handlungsmöglichkeiten auch durch Peking beschränkt werden. Eine Lösung des politischen Konflikts in Hongkong zeichnet sich daher noch nicht ab.
Mehr zum Thema: