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Parlamentswahl in Estland: Liberale Reformpartei wird stärkste Kraft | Hintergrund aktuell | bpb.de

Parlamentswahl in Estland: Liberale Reformpartei wird stärkste Kraft

Redaktion

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Am 3. März wurde in Estland ein neues Parlament gewählt. Mit 28,9 Prozent der Stimmen hat die liberale Reformpartei die Wahl gewonnen. Parteichefin Kaja Kallas hat gute Chancen, die erste Ministerpräsidentin Estlands zu werden.

Das Schloss auf dem Domberg in Tallinn ist der Sitz des estnischen Parlaments. (© picture alliance / Bildagentur-online/AGF-Foto)

Umfragen hatten die Zentrumspartei (Eesti Keskerakond) des bisher amtierenden Ministerpräsidenten Jüri Ratas noch etwa gleichauf mit der Reformpartei gesehen. Sie wurde mit 23,1 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft. Auch ihre Koalitionspartner haben im Vergleich zur Wahl 2015 Stimmen verloren: Die Partei "Vaterland“ (Isamaa) erreichte 11,4 Prozent (-2,3 Prozent), die Sozialdemokratische Partei (Sotsiaaldemokraatlik Erakond) wird mit 9,8 Prozent (-5,4 Prozent) der Stimmen als kleinste Fraktion in das estnische Parlament einziehen. Den größten Stimmenzuwachs kann die rechtspopulistische Estnische Konservative Volkspartei (Eesti Konservatiivne Rahvaerakond) verzeichnen: Sie hat ihr Ergebnis mit 17,8 Prozent im Vergleich zur letzten Wahl (8,1 Prozent) mehr als verdoppelt.

Wichtige Themen im Vorfeld der Parlamentswahl waren die Schul-, die Steuer- und die Rentenpolitik. Außenpolitisch stand vor allem das Verhältnis zu Russland im Fokus. Estland ist das nördlichste und mit 1,3 Millionen Einwohnern das kleinste der drei baltischen Länder (Litauen, Lettland, Estland). Eine verhältnismäßig große russischsprachige Minderheit ist vor allem im Norden und Osten des Landes beheimatet. Sie macht 25 Prozent der Gesamtbevölkerung oder etwa 330.000 Menschen aus.

Zentrumspartei und Reformpartei

Die liberale Reformpartei, die seit Estlands Unabhängigkeit 1991 als stärkste Kraft des Landes gilt, hatte bereits 2015 die Parlamentswahl gewonnen und unter Ministerpräsident Taavi Rõivasdie Regierung angeführt. Die Koalition mit der konservativen Partei "Vaterland“ und den Sozialdemokraten scheiterte allerdings. Rõivas wurde im November 2016 mit einem Misstrauensvotum abgesetzt und seine Partei musste die Regierungsbeteiligung aufgeben. Im diesjährigen Wahlkampf hatte die Reformpartei mit ihrer neuen Vorsitzenden Kaja Kallas den thematischen Fokus auf die Bildungspolitik und auf eine Reform des Steuersystems gelegt. Die Reformpartei warf der Regierung vor, für eine Preissteigerung und unfaire Steuern verantwortlich zu sein.

Die als Mitte-links geltende Estnische Zentrumspartei wird häufig als "pro-russisch“ bezeichnet, weil sie traditionell großen Zuspruch in der russischsprachigen Minderheit Estlands findet, auch aufgrund der seit 2004 bestehenden Kooperationsvereinbarung mit Putins Partei "Einiges Russland". Die Partei hatte sich zuletzt allerdings klar zur NATO und EU bekannt. Als Vorsitzender hat Ministerpräsident Jüri Ratas versucht, die Partei auch für Wählerinnen und Wähler außerhalb der Stammwählerschaft zu öffnen und im Wahlkampf versprochen, Familien zu stärken und den kostenlosen Nahverkehr weiter auszubauen.

Positive Wirtschaftsentwicklung

Estlands Wirtschaft hat sich positiv entwickelt: Seit 1995 hat sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf versechsfacht. Das Land gilt europaweit als Vorreiter bei der Digitalisierung. Die Staatsverschuldung ist mit acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts die niedrigste in der gesamten Europäischen Union. Im vergangenen Jahr verabschiedete Estland den umfangreichsten Haushalt seiner Geschichte mit Ausgaben in Höhe von 11,3 Milliarden Euro. Darin enthalten sind unter anderem höhere Investitionen in die Bildung, vor allem für höhere Lehrergehälter und den Ausbau des Schulnetzes. Steuersenkungen sieht der neue Haushalt jedoch nicht vor. Die würden sich allerdings einige Kritiker/-innen wünschen, bei einem Mehrwertsteuersatz von 20 Prozent und einem Durchschnittsverdienst von 1.300 Euro im Monat. Rentnerinnen und Rentner erhalten im Durchschnitt 400 Euro.

Stimmengewinne für Rechtspopulisten

Mit ihrer Ankündigung, die Renten auf 800 Euro zu verdoppeln und die Mehrwertsteuer auf 15 Prozent senken zu wollen, konnte die EU-kritische, rechtspopulistische Estnische Konservative Volkspartei (Eesti Konservatiivne Rahvaerakond) drittstärkste Kraft werden. Bei der Parlamentswahl 2015 hatte sie noch 8,1 Prozent der Stimmen erhalten. Trotz des wachsenden Zuspruchs zur Volkspartei stehen die meisten Esten der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU grundsätzlich positiv gegenüber: Laut einer Eurobarometer-Umfrage von September 2018 finden 74 Prozent, dass dies eine "gute Sache" sei.

Die Stärke der Volkspartei bedeutet auch, dass andere konservative Gruppierungen bei dieser Wahl nur geringe Chancen hatten. Die populistische "Estnische Freie Partei" hatte 2015 noch 8,7 Prozent der Wählerstimmen erhalten. In diesem Jahr stimmten nur 1,2 Prozent für sie. Die Partei "Estland 200" (Eesti 200), eine Neugründung mit sozialliberalem Profil, hat 4,4 Prozent der Stimmen erreicht und wird somit nicht ins Parlament einziehen. Insgesamt hat der Erfolg der Populisten dazu geführt, dass sich das Parteienspektrum nach rechts verschoben hat. Noch in der Wahlnacht schloss Kaja Kallas eine Koalition mit den Rechtspopulisten aus. Die Regierungsbildung dürfte dennoch spannend werden – eine Koalition mit der Zentrumspartei wäre ebenso möglich wie eine mit der Partei "Vaterland“ und den Sozialdemokraten.

E-Voting in Estland

Als Vorreiter in Sachen E-Voting hat Estland schon im Jahr 2005 ein Online-Wahlverfahren eingeführt. In einer mehrtägigen Phase vor dem eigentlichen Wahltag können Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme über das Internet abgeben. Die 101 Abgeordneten im estnischen Ein-Kammer-Parlament werden alle vier Jahre nach Verhältniswahlrecht gewählt. Für die Wahl gilt eine Fünf-Prozent-Hürde.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Rund 80.000 Menschen, die der russischsprachigen Minderheit in Estland angehören, sind so genannte "Nicht-Bürger": Sie leben zwar in Estland, haben aber keine estnische Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen sprechen die Landessprache nicht und haben deshalb keine Chance, den Einbürgerungstest zu bestehen. Das gilt besonders für die älteren "Nicht-Bürger", die noch zu Sowjetzeiten nach Estland gekommen waren.

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