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"Bislang haben sich die Gelbwesten von keiner der Oppositionsparteien instrumentalisieren lassen" | Hintergrund aktuell | bpb.de

"Bislang haben sich die Gelbwesten von keiner der Oppositionsparteien instrumentalisieren lassen" Interview mit Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

/ 5 Minuten zu lesen

Seit Mitte November 2018 demonstrieren in Frankreich tausende Menschen mit gelben Warnwesten ("Gilets jaunes"). Ihr Protest richtet sich gegen die Politik von Präsident Emmanuel Macron. Ein Interview mit der Politikwissenschaftlerin Gisela Müller-Brandeck-Bocquet zur Entwicklung der Bewegung.

Ein Demonstrant der Gelbwesten-Proteste auf dem Champs Elysée in Paris. Auf seinem Schild steht: "Macron, das souveräne Volk schreitet voran". "Das souveräne Volk schreitet voran" ist ein Zitat aus dem französischen Revolutions- und Kriegslied "Le chant de départ" (Das Lied des Aufbruchs) von 1794. (© picture alliance/Geisler-Fotopress)

Bereits seit Mitte November demonstrieren die Gelbwesten in Frankreich. Zuletzt nahmen noch immer Tausende teil. Wird der Bewegung bald die Puste ausgehen?

Es ist erstaunlich, dass sie so lange durchgehalten haben. Zuletzt hat es sich aber etwas abgeschwächt. Das dürfte auch mit dem "grand débat national" zusammenhängen, das die Regierung am 15. Januar begonnen hat. Hier können die Menschen in Gemeinden, in kleinen und großen Städten über die Bürgermeister als Vermittler ihre Forderungen und Wünsche an die Regierung in Paris tragen. Innerhalb dieses Dialogs traten bestimmte Anliegen der Protestierenden bereits zu Tage. Und das sorgt wohl auch dafür, dass weniger Menschen auf die Straße gehen. Andererseits sind nun auch Anhänger von Präsident Emmanuel Macron unter der Bezeichnung "foulards rouges" (rote Schals oder rote Halstücher) in größerer Zahl auf die Straße gegangen. Ob dies die Gelbwesten motiviert, weiterzumachen, lässt sich noch nicht abschätzen, es scheint mir aber wahrscheinlich.

Die Gelbwesten werden gerne als breites Sammelbecken Unzufriedener bezeichnet. Doch sind auch Akteure aktiv, die klar einem politischen Spektrum zuzuordnen sind. So etwa Interner Link: Jean-Luc Mélenchon, Begründer und Präsident der Bewegung "La France insoumise" (Widerständiges Frankreich).

Aber bislang haben sich die Gelbwesten von keiner der Oppositionsparteien instrumentalisieren lassen. Die radikale Linke, etwa mit Mélenchon, hatte keinen Erfolg, ebensowenig wie die Konservativen. Die Bewegung ist politisch sehr uneinheitlich und breit aufgestellt und war bislang überparteilich.

Welche Rolle spielen die Rechtsradikalen und deren Unterwanderungsversuche?

Interner Link: Marine Le Pen und ihr Rassemblement National (ehemals Interner Link: Front National) konnten in der überparteilichen Bewegung ebenfalls keinen Fuß fassen. Die Gelbwesten haben sich klar gegen jede Vereinnahmung, egal von welcher Seite, gewehrt. Auch wegen der politischen Diversität der Bewegung lief vieles diffus ab. Das ändert sich möglicherweise jetzt gerade. Eine Frau, mitten aus deren Reihen, will für die Europawahlen kandidieren und wirbt dafür, dass die Gelbwesten mit einer eigenen Liste antreten.

Welche Folgen könnte dies haben?

Das Europawahlergebnis könnte sich verändern. Proteststimmen, die an die Gelbwesten gehen, würden anderen Oppositionsparteien, insbesondere Le Pen, fehlen. Von einer schwächer abschneidenden Le Pen würde dann am Ende auch "La République en Marche" und Präsident Interner Link: Macron profitieren. Zudem dürften künftige Proteste der Gelbwesten strukturierter und weniger spontan verlaufen, wenn sie selbst zu Akteuren im politischen Parteiensystem werden.

Angefangen haben die Demonstrationen mit der Unzufriedenheit eines Teils der Franzosen und Französinnen über höhere Spritpreise. Dann ging es gegen angeblich zu hohe Steuern und die aus Sicht der Demonstranten bestehende soziale Interner Link: Schieflage und Armut. Was sind aktuell die wichtigsten Triebfeder der Protestierenden?

Die soziale Ungleichheit hat in Frankreich unstrittig zugenommen. Gerade auf dem Land fühlen sich viele von der Regierung im Stich gelassen. Und dann kamen die Benzinpreiserhöhungen. Viele auf dem Land dachten: Die arroganten Leute in Paris können sich gar nicht vorstellen, wie uns das trifft. Tatsächlich muss die Landbevölkerung, oft weitere Strecken mit dem Auto zur Arbeit zurücklegen. Frankreich ist flächenmäßig ein großes Land. Klar ist allerdings: Die Ursachen für die Proteste sind vielfältig. Die mittlerweile ausgesetzte Spritsteuererhöhung und das Tempolimit von 80 Kilometern pro Stunde auf Land- und Nationalstraßen waren nur die unmittelbaren Auslöser. Eine Rolle spielte beispielsweise auch der Vorwurf, Macron komme zwar aus der politischen Linken, mache jedoch Politik für die Reichen. Als Beispiel für diese These wird die Umgestaltung der Reichensteuer genommen.

Zudem hatte sich lange Zeit eine große Politikverdrossenheit angestaut, die jetzt explodiert ist. Es gibt eine Umfrage, laut der bis zu 70 Prozent der Befragten im September vergangenen Jahres meinten, dass die Demokratie in Frankreich nicht gut funktioniert. Diese Zahl ist erschreckend hoch. Die Forderung nach mehr direkter Demokratie spielt bis heute für viele Protestierende eine große Rolle. Macron galt zu Beginn der Proteste überdies als abgehobener Präsident, der seinen Reformkurs durchzog, ohne Rücksicht zu nehmen. Ihm wurde die Arroganz der Macht zugeschrieben. Dennoch hat es nicht erstaunt, dass die Zugeständnisse Macrons, etwa beim Mindestlohn, die Bewegung nicht stoppen konnten.

Inwiefern sind die Ereignisse rund um die Bewegung der Gelbwesten von den erfolgreichen zivilen Massenbewegungen in der französischen Geschichte und die Erinnerung an die Interner Link: Revolution von 1789 geprägt?

Es gibt diese revolutionäre Tradition, weshalb Proteste in Frankreich oft brutaler ausfallen. Und nun stärkt die Regierung im Rahmen des "grand débat" sogar die Erinnerung an die Revolution. Denn damals durften die Menschen ähnlich wie heute ja auch Beschwerdebriefe ("cahiers de doléances") schreiben. Sie konnten sagen, was ihnen alles nicht passte. Exakt dieser Begriff der "cahiers de doléances" wird derzeit wiederverwendet. Eine Ursache für die Proteste ist auch, dass das politische System an sich ein anders als etwa das deutsche ist. Die strukturellen Bindungen zwischen der Regierung in Paris und der Bevölkerung sind weit schwächer als hierzulande. Frankreich hat kein föderales System. Es fehlen die Zwischenebenen. Daher verlaufen Auseinandersetzungen zwischen den unzufriedenen Bürgern und der Regierung in Paris oft vehementer ab. Tatsächlich sind es insbesondere viele Menschen aus den ländlichen Regionen, die sich den Gelbwesten angeschlossen haben oder zumindest mit ihnen sympathisieren.

Und dann ist da ja noch das durch Macron komplett umgekrempelte Parteiensystem…

Das für die Entstehung der jüngsten Proteste natürlich ebenfalls eine zentrale Bedeutung hat. Das Parteiensystem wurde durch die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vollkommen durcheinandergewirbelt. "La République en Marche" hat eine komfortable Mehrheit im Parlament, ist aber noch gar nicht in den Regionen, Departements und Kommunen vertreten. Auch deshalb ließ sich der Protest der "Gilets jaunes" lange Zeit nicht in Bahnen lenken.

Wird Macron womöglich weitere Zugeständnisse machen – oder machen müssen?

Ich denke, dass in der aktuellen Diskussion noch weitere Zugeständnisse kommen werden. Es ist allerdings nicht klar, in welche Richtung die möglichen Zugeständnisse gehen werden. Weitere Steuersenkungen oder Rentenerhöhungen sind wegen den EU-Defizitvorgaben kaum möglich, der finanzielle Spielraum dafür ist gering. Wahrscheinlich sind jedoch Reformen der Demokratie, um die Politikverdrossenheit abzubauen. Denkbar wären etwa Volksbegehren. Das würde dem Bedürfnis vieler Menschen nach mehr Mitsprache gerecht werden.

Das Interview führte Tobias Lill.

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Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ist Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Würzburg.