Es war eine der größten Demonstrationen der deutschen Geschichte: Mehrere Hunderttausend Menschen protestierten am 22. Oktober 1983 auf der Bonner Hofgartenwiese gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss. Bundesweit gingen an jenem Tag Schätzungen zufolge gut 1,3 Millionen Menschen gegen die vorgesehene Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Westdeutschland auf die Straße.
Sorgen um das strategische Gleichgewicht
Die Vorgeschichte des Beschlusses reicht in die 1970er-Jahre zurück: Die Sowjetunion (UdSSR) hatte unter Staatschef Leonid Breschnew Teile ihres Militärarsenals modernisiert und die auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen durch Raketen mit größerer Sprengkraft ersetzt (sowjetische Bezeichnung: RSD-10-Pioner, US-amerikanische Bezeichnung: SS-20). Das Problem: Solche atomaren Waffen mit kürzerer Reichweite waren bislang nicht Teil von Abrüstungsverträgen zwischen den USA und der Sowjetunion.
Die in der Bundesrepublik Deutschland regierende sozial-liberale Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt sah diese Aufrüstung daher als Bedrohung an für das strategische Gleichgewicht zwischen NATO und Warschauer Pakt in Europa. 1977 sprach Schmidt sich
QuellentextGefährdungen durch Mittelstreckenraketen
[...] Die Nachrüstung polarisierte die Gesellschaft: Entweder man war für oder gegen die Stationierung neuer amerikanischer Nuklear-Raketen in Westeuropa.
[...] Helmut Schmidt hatte am 28. Oktober 1977 die jährlich stattfindende Alastair-Buchanan-Gedenkrede vor dem Londoner Institut für strategische Studien gehalten. Er nutzte diese Gelegenheit, um auf ein ihn schon länger beschäftigendes Thema aufmerksam zu machen: Während Amerikaner und Sowjets bei den SALT-Gesprächen über die Begrenzung von nuklear-strategischen Waffen verhandelten, mit denen sich die beiden Supermächte direkt gegenseitig ins Visier nehmen konnten, blieben Kernwaffen mit kürzeren Reichweiten außerhalb der Rüstungskontrolle.
Schmidt sah dadurch westeuropäische Sicherheitsinteressen betroffen: "Eine auf die Weltmächte USA und Sowjetunion begrenzte strategische Rüstungsbeschränkung muss das Sicherheitsbedürfnis der westeuropäischen Bündnispartner gegenüber der in Europa militärisch überlegenen Sowjetunion beeinträchtigen, wenn es nicht gelingt, die in Europa bestehenden Disparitäten parallel zu den SALT-Verhandlungen abzubauen." Weitere Abrüstung war also Schmidts erste Wahl, um dem von ihm identifizierten Problem zu begegnen. Doch war er nicht so blauäugig, einen Erfolg entsprechender Verhandlungen von vornherein als gesichert anzunehmen. Solange es keine Abrüstungserfolge gebe, müsse die Allianz daher bereit sein, "für die gültige Strategie ausreichende und richtige Mittel bereitzustellen und allen Entwicklungen vorzubeugen, die unserer unverändert richtigen Strategie die Grundlage entziehen könnten."
Den konkreten Hintergrund seiner Überlegungen hatte Schmidt in seiner Londoner Rede nicht direkt angesprochen: Die fortgesetzte sowjetische Aufrüstung mit modernen SS-20-Raketen, die Westeuropa, aber nicht die USA erreichen konnten. In der Sicht Helmut Schmidts bestand die Gefahr des Entstehens einer "Grauzone" zwischen strategischen Waffen einerseits und konventionellen Waffen andererseits. Würden die Sowjets in dieser "Grauzone" weiterhin ungehindert aufrüsten, so bestünde die Gefahr, dass Westeuropa politisch erpressbar werde. Moskau könnte dann Bonn, Paris und London nuklear bedrohen, gleichzeitig jedoch Washington wegen der strategischen Parität in Schach halten. Denn sollte ein sowjetischer Nuklearangriff mit Mittelstreckenwaffen auf Westeuropa erfolgen, wären die USA gezwungen, mit in Amerika stationierten strategischen Waffen zu reagieren. Dies würde wegen der damit verknüpften Gefahr eines sowjetischen Gegenschlages gegen das amerikanische Kernland selbst womöglich nicht geschehen. In einem Wort: Die Glaubwürdigkeit der westlichen nuklearen Abschreckung war nach Ansicht Schmidts in Gefahr. [...]
Tatsächlich glaubte die damalige amerikanische Regierung unter Präsident Jimmy Carter, auf die politischen Besorgnisse wegen der entstehenden nuklearen Grauzone militärisch reagieren zu müssen. [...] Als Resultat wurde auf der Herbsttagung der NATO im Dezember 1979 der NATO-Doppelbeschluss durch die Außen- und Verteidigungsminister verabschiedet. Das Dokument sah die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa ab 1983 vor, bot jedoch der Sowjetunion bereits zuvor Verhandlungen über die Begrenzung entsprechender Systeme an. [...]
Der Grundwiderspruch bestand darin, dass es Helmut Schmidt in seiner Londoner Rede vorrangig darum gegangen war, die Mittelstreckenwaffen in die Rüstungskontrolle einzubeziehen. Washington hatte jedoch inzwischen Gefallen an dem Gedanken gefunden, solche Waffen in Westeuropa zu stationieren. [...]
Helmut Schmidts sozial-liberale Koalition war inzwischen im September 1982 gescheitert. Von konservativer Seite wurde dabei immer wieder betont, der Kanzler sei von seiner eigenen Partei in der Frage der Nachrüstung im Stich gelassen worden, wodurch seine Glaubwürdigkeit als Regierungschef unterminiert worden sei. Auch wenn es zutrifft, dass weite Teile der SPD den NATO-Doppelbeschluss ablehnten und sich in der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung engagierten, so waren für den Bruch der Regierung Schmidt/Genscher sicher andere Gründe ausschlaggebend – zum Beispiel die unüberbrückbaren Differenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. [...]
Mit Michail Gorbatschow betrat im März 1985 ein sowjetischer Führer neuen Typs die weltpolitische Bühne. Er wollte unbedingt den nuklearen Rüstungswettlauf beenden. Auch Ronald Reagan, inzwischen in seiner zweiten Amtszeit, hatte Gefallen daran gefunden, als Friedensstifter in die Geschichte einzugehen. Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Reagan und Gorbatschow in Washington das Abkommen über die völlige Beseitigung nuklearer Waffen mit mittlerer Reichweite. Es war das erste Abkommen, das eine ganze Kategorie von Kernwaffen verbot, ja das erste wirkliche nukleare Abrüstungsabkommen überhaupt. Die Pershings und Marschflugkörper wurden aus Europa wieder abgezogen. Die von Helmut Schmidt [...] beschriebene nukleare Grauzone wurde durch Abrüstung beseitigt.
Oliver Thränert, "Helmut Schmidt '77. In der nuklearen Grauzone: Londoner Rede tritt Nachrüstung los", in: Die Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte Nr. 1–2/2001, S. 57 ff.
Nicht nur in Washington stieß er damit auf Gehör. Am 12. Dezember 1979 verabschiedeten die Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedstaaten in Brüssel den sogenannten NATO-Doppelbeschluss. Dieser sah zunächst Verhandlungen über den Abbau der sowjetischen"SS-20"-Raketen vor. Für den Fall, dass diese scheitern, sollten vier Jahre später US-amerikanische nukleare Mittelstreckenraketen (u.a. die besonders schnelle und reichweitenstarke Pershing II) in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern stationiert werden.
Verhandlungen zwischen USA und UdSSR scheitern zunächst
Im November 1981 hatte der Republikaner und Anti-Kommunist Ronald Reagan die US-amerikanische Präsidentschaftswahl gewonnen. Reagan hatte politischen Beobachtern zufolge kein besonderes Interesse an einem Abrüstungsabkommen. Er verfolgte vielmehr die Strategie, die kommunistischen Staaten des Warschauer Pakts mit einer kostspieligen Aufrüstungsspirale an den Rand ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu treiben.
Am 30. November 1981 hatten die USA und die UdSSR dennoch in Genf Abrüstungsverhandlungen aufgenommen. Im Juli 1982 kam es dabei zu einer Verabredung der beiden Unterhändler Paul Nitze und Yuli Kvitsinsky, die den Abzug sämtlicher Mittelstreckenraketen aus Europa vorsah – doch beide Regierungen lehnten den Deal ab. Auch in den folgenden Jahren konnten sie sich nicht auf einen Kompromiss einigen.
Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss
Der NATO-Doppelbeschluss bewegte vor allem die Zivilgesellschaft und war eine entscheidende Triebfeder für das Erstarken der Friedensbewegung in West und Ost.
Ende der 1970er-Jahre Externer Link: entwickelte sich in der DDR und anderen Ländern des Ostblocks eine unabhängige Friedensbewegung, die sich gegen die Stationierung der Atomraketen in der DDR und der Bundesrepublik sowie die zunehmende Militarisierung der DDR-Gesellschaft richtete. Vor allem innerhalb der evangelischen Kirche bildeten sich Gruppen, die auch überregionale Aktionen organisierten. Die