Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vor 20 Jahren: Grundgesetzänderung für den "großen Lauschangriff" | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 20 Jahren: Grundgesetzänderung für den "großen Lauschangriff"

Redaktion

/ 3 Minuten zu lesen

Die Debatten waren hitzig: Mit der akustischen Wohnraumüberwachung – dem sogenannten "großen Lauschangriff" – könne die Polizei effektiver gegen organisiertes Verbrechen vorgehen, hofften Innenpolitiker. Gegner fürchteten, Grundrechte würden dadurch beschnitten. Am 16. Januar 1998 beschloss der Bundestag eine Änderung des Grundgesetzes.

Die Sklulpturengruppe "Die Lauschenden" des Bildhauers Karl-Henning Seemann in Freiburg. (© picture-alliance)

Ein "großer Lauschangriff" bezeichnet akustische Abhör-, teils auch optische Überwachungsmaßnahmen geschlossener Wohnungen, also des nicht-öffentlichen Raums. Dieser Privatraum wird vom Interner Link: Grundgesetz (Art. 13 GG) besonders geschützt. Die private Wohnraumüberwachung erfordert in der Regel eine richterliche Anordnung bzw. bei Gefahr im Verzug kann diese auch nachträglich erteilt werden.

Bis zur Änderung des Grundgesetzes im Januar 1998 waren solche "Lauschangriffe" in der Praxis vor allem zur präventiven Gefahrenabwehr durch die Landespolizeigesetze möglich. Eine Gesetzesinitiative der damaligen Unions- (CDU/CSU), SPD- und FDP-Fraktion im Bundestag wollte ermöglichen, dass "große Lauschangriffe" auch bei der Strafverfolgung, etwa gegen organisiertes Verbrechen, zum Einsatz kommen durften. Sie verwiesen dabei auch auf die Ermittlungserfolge etwa in Italien und den USA.

Effiziente Strafverfolgung vs. Schutz der Grundrechte

Die Initiative war eine Reaktion auf die Schwierigkeiten der Sicherheitsbehörden, in Führungskreisen organisierter Banden zu ermitteln und z.B. verdeckte Ermittler in mafiöse Strukturen einzuschleusen. Die akustische Überwachung privater Räume schien den Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP als "dringende(s) Erfordernis", wie sie in ihrem Externer Link: Gesetzantrag schrieben.

Kritik am Gesetzentwurf kam aus den Reihen der Oppositionsparteien Bündnis90/Die Grünen und der PDS. In der Parlamentsdebatte am 16. Januar 1998 mahnten die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition, ein "großer Lauschangriff" schränke das Freiheitsgefühl der Menschen in ihrer eigenen Wohnung fundamental ein und stelle eine Beschränkung der Grundrechte dar.

Mit einem Externer Link: Änderungsantrag wollten die Oppositionsparteien zudem ermöglichen, dass bestimmte Berufsgruppen, deren Arbeit ein besonderes Vertrauensverhältnis oder sogar eine Geheimhaltungspflicht erfordert, von "Lauschangriffen" ausgenommen werden. Als Beispielgruppen nannten sie etwa Geistliche und Seelsorger, Ärztinnen und Ärzte, Anwältinnen und Anwälte, aber auch Medienschaffende, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Abgeordnete.

Kontroversen innerhalb der Parteien

Eine Änderung am Grundgesetz benötigt die Zustimmung mindestens Zwei Drittel der Parlamentarier. Für das Gesetz stimmten schließlich 452 Abgeordnete (nötig waren 448 Stimmen), 184 stimmten gegen die Grundgesetzänderung, 5 enthielten sich. Der Änderungsantrag der Oppositionsparteien wurde abgelehnt.

In den Fraktionen der SPD und FDP, die den Gesetzentwurf gemeinsam mit der CDU eingebracht hatten, war der "große Lauschangriff" allerdings auch umstritten. Die SPD-Fraktion stimmte etwa mit 125 Stimmen für das Gesetz, 105 Abgeordnete der Fraktion votierten allerdings auch dagegen. Die FDP-Fraktion stimmte dem Gesetz mehrheitlich zu – dem aber waren lange parteiinterne Auseinandersetzungen vorausgegangen, in denen die FDP v.a. mit dem linksliberalen Flügel der Partei über die Möglichkeiten und Grenzen elektronischer Überwachung diskutiert hatte.

QuellentextDie Änderungen an Art. 13 GG

Das Gesetz ergänzte den 13. Artikel des Grundgesetzes, der den Schutz der Wohnung festschreibt, um vier neue Absätze (hervorgehoben):

(1) Die Wohnung ist unverletzlich.

(2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden.

(3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden.

(4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen.

(5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.

(6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle.


(7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.

Debatte um Berufe mit besonderer Vertrauensstellung

Bevor die Änderung des Grundgesetzes in Kraft treten konnte, musste allerdings noch der Bundesrat sein Votum abgeben. Dieser stimmte dem Gesetz am 16. Februar 1998 Gesetz zwar zu, rief aber den Vermittlungsausschuss an. Er sollte prüfen, in welcher Weise solch ein "großer Lauschangriff" später in der Praxis umgesetzt werden sollte und ob bestimme Berufsgruppen von dem Gesetz ausgeschlossen werden sollten Am 2. März 1998 forderte der Ausschuss schließlich, Berufe mit besonderer Vertrauensstellung von "Lauschangriffen" auszunehmen.

In der darauffolgenden Abstimmung im Bundestag am 5. März weigerte sich die Union der Forderung des Vermittlungsausschusses zuzustimmen, Teile der FDP stimmten allerdings mit der Opposition. Die christlich-liberale Koalition von Helmut Kohl erlitt eine Abstimmungsniederlage im Bundestag, der Schutz für Berufe mit besonderer Vertrauensstellung blieb bestehen. Die Grundgesetzänderung trat schließlich am 26. März 1998 in Kraft.

Verfassungsgericht schränkt Lauschangriff ein

Am 3. März 2004 erklärte das Interner Link: Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den großen Lauschangriff zwar für rechtens, schränkte seine Möglichkeiten aber deutlich ein. So heißt es im Urteil beispielsweise, es müsse einen "absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung" geben, zu dem das BVerfG z.B. Gespräche mit engsten Familienmitgliedern zählt. Die Verwertung von Informationen aus diesem "Kernbereich" sei strikt untersagt, Aufzeichnungen darüber müssten gelöscht werden. Von einer "besonderen Schwere" der Tat sei zudem nur auszugehen, wenn dafür laut Gesetz mehr als fünf Jahre Haft vorgesehen sind.

Der Bundestag beschloss im Mai 2005 ein Änderungsgesetz, mit dem die Maßnahmen der Paragraphen 100c bis 100f der Strafprozessordnung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts angepasst wurden. Die Bundesregierung berichtet dem Bundestag jährlich über den Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung. Seit der Entscheidung des Bundeverfassungsgerichts und der darauf folgenden Neuregelung in der Strafprozessordnung bewegen sich die Fallzahlen demnach regelmäßig nur noch im einstelligen Bereich. Davor waren es im Schnitt jährlich etwa 30 Fälle.

Weitere Inhalte

Weitere Inhalte

Artikel

Freiheit und Sicherheit

Ohne ein Mindestmaß an Freiheit und Sicherheit ist keine Gesellschaftsbildung möglich. Umgekehrt kann es in einem Gemeinwesen weder grenzenlose Freiheit noch vollständige Sicherheit geben, sagt…

Artikel

Technische Überwachungsmaßnahmen

Um Straftaten verhindern oder aufklären zu können, dürfen die Sicherheitsbehörden Verdächtige überwachen. Dabei gelten rechtliche Beschränkungen, denn Überwachung ist ein Eingriff in die…

Hintergrund aktuell

Notstandsgesetze: Testfall für die Demokratie

Am 30. Mai 1968 beschloss der Bundestag nach heftigen Protesten die "Notstandsgesetze". Für die Einen Vorsorge für den Krisenfall, für die Anderen eine Gefahr für die Demokratie.

„Hintergrund Aktuell“ ist ein Angebot der Onlineredaktion der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Es wird von den Redakteur/-innen und Volontär/-innen der Onlineredaktion der bpb redaktionell verantwortet und seit 2017 zusammen mit dem Südpol-Redaktionsbüro Köster & Vierecke erstellt.

Interner Link: Mehr Informationen zur Redaktion von "Hintergrund aktuell"