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"Es gab keinen Fahrplan" | Hintergrund aktuell | bpb.de

"Es gab keinen Fahrplan" Michail Gorbatschow – ein typisch sowjetischer Herrscher

Dr. Jan C. Behrends

/ 6 Minuten zu lesen

Vor 30 Jahren erschien das Buch "Perestroika. Die zweite russische Revolution". Im Interview mit Hintergrund aktuell beleuchtet Jan C. Behrends vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung dessen Rolle und Persönlichkeit. So ungewöhnlich war Gorbatschow wohl gar nicht.

Der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Michail Gorbatschow (M), während seiner Ansprache am 2. November 1987 auf der Festsitzung anläßlich des 70. Jahrestages der Externer Link: Oktoberrevolution im Kongreßpalast des Kreml in Moskau zum Thema: "Oktoberrevolution und Perestroika. Die Revolution geht weiter." (© picture-alliance/dpa)

Michail Gorbatschow war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. Aus westlicher Sicht galt er als Reformer, der auf Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) setzte. Dazu erschien von ihm 1987 das Buch "Perestroika, die zweite russische Revolution", herausgegeben von einem US-amerikanischen Verlag. Wie kam es eigentlich zu dieser Publikation? Wer gab da den Anstoß?

Im Westen gab es ein Interesse an Gorbatschows Politik. So gab es eine Anfrage, ob er nicht seine Politik darlegen könne. Das Buch ist dann im Sommer 1987 geschrieben worden. Zum größten Teil von Leuten aus seiner Mannschaft. Aber teilweise auch von Gorbatschow selber. Diese Anfrage ist sicherlich auch als Teil der sich ausbreitenden Begeisterung um seine Person zu interpretieren.

War denn die Begeisterung zu diesem Zeitpunkt bereits so groß? So sah zum Beispiel der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in der Perestroika eine PR-Strategie des KGBs und verglich sie mit den Propagandamethoden der Nazis. Die US-amerikanische Zeitung New York Times kritisierte ebenfalls scharf und fragte: wozu sollte der Sozialismus überhaupt umgebaut werden, wenn er doch so gefeiert werde.

Hier kommt es auf die Perspektive an. Es stimmt schon, dass Gorbatschow auf Misstrauen stieß. Doch auch zu diesem Zeitpunkt genoss er bereits viel Respekt. Das hat vor allem mit seinen Vorgängern zu tun. Der vergleichsweise junge Gorbatschow löste im Grunde den todkranken Leonid Breschnew ab. Zwar folgten Breschnew zunächst zwei weitere gesundheitlich angeschlagene Generalsekretäre aus derselben Generation – Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko – den alten Kadern verbunden - doch blieben sie altersbedingt entsprechend nur für kurze Zeit im Amt.

Damit alleine, war schon eine große Hoffnung verbunden, dass hier jemand kam um eine neue Politik zu machen. Überspitz formuliert: um überhaupt wieder Politik an der Spitze der Sowjetunion zu machen. Dies erklärt schon einen Großteil der Begeisterung. Dennoch blieb es häufig sehr vage, wenn Gorbatschow von Reformen, Perestroika (Umbau) oder Glasnost (Transparenz) sprach. Was meinte er genau? Wie weit würde er gehen? Man hoffte, dass er vielleicht in diesem Buch sich ein bisschen konkreter festlegen würde. Liest man das Buch heute nochmal, stellt man allerdings fest, dass es doch sehr steif geschrieben ist und sehr stark dem offiziellen Parteijargon verpflichtet blieb.

Wurde der 1. November als Veröffentlichungsdatum gewählt, weil das Buch noch möglichst vor den Feierlichkeiten zur 70 Jahresfeier der Externer Link: Oktoberrevolution veröffentlicht werden sollte?

In der Sowjetunion war das Erinnern an die Oktoberrevolution ein wichtiger Termin, ein zentraler Feiertag. Zu diesem Zeitpunkt noch mindestens so wichtig wie der "Tag des Sieges" am 9. Mai und oder der "Tag der Arbeit" am 1. Mai. Man vergisst es leicht, weil die Oktoberrevolution in der heutigen russischen politischen Kultur keine tragende Rolle mehr spielt. Die Rede Gorbatschows zu den Feierlichkeiten hatte damals immense Bedeutung, das Buch war eher eine Vorstufe. Viele Historiker sehen in dieser Rede heute einen Wendepunkt. Gorbatschow hat lange an ihr gearbeitet und musste sich intensiv mit der sowjetischen Geschichte auseinandersetzen. So spricht er in der Rede auch von "Glasnost" – Transparenz in Bezug auf die eigene Geschichte. Hier begann vorsichtig die kritische Auseinandersetzung mit Revolution und Stalinismus.

Welche Wirkung entfaltete sie? Wofür stand die Perestroika im Jahre 1987?

Der ursprüngliche Impuls 1985 für die Perestroika war es die Sowjetunion wieder fit zu machen für den Kalten Krieg. Das ging ja nicht darum den Sozialismus oder gar die Alleinherrschaft der Partei zu beenden. Sondern eben wieder konkurrenzfähig zu werden. Die Parteiführung hatte, wie das Land, unter den letzten drei Führungspersönlichkeiten der Sowjetunion stagniert. "Stagnation" war auch das große Schlagwort, mit dem die Epoche Breschnews definiert wurde. Und so sollte ursprünglich lediglich die gesellschaftliche Entwicklung wieder beschleunigt werden. "Uskorenije" – wie man damals auch auf Russisch gesagt hat.

Gorbatschow dachte zunächst, dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) die Institution sei, mit der er die Gesellschaft wieder erreichen könnte. Er meinte, dass die KPdSU wieder eine Avantgarde sein könnte, die die Gesellschaft wieder reformiert. Das Jahr 1987 stellt deshalb einen wichtigen Moment in der Geschichte von Gorbatschows Herrschaft dar. Zu diesem Zeitpunkt bemerkte er langsam, dass die Partei doch eher eine konservative Institution ist, welche Reformen verhindert und verschleppt. In dieser Phase überlegte er, wie er sozusagen neue Dynamik in der sowjetischen Gesellschaft entfachen kann, um seine Veränderungen voranzutreiben. Und eben hier lässt er sich auf die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte ein. Dass man die blinden Flecken der Vergangenheit anfängt aufzuarbeiten, war auch ein Teil der Mobilisierung für die Perestroika. Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit ist es auch, was er in der Rede mit Glasnost meint. Somit ist jene Rede in Retrospektive sogar bedeutender als das Buch selbst.

Ging der Plan auf? War Gorbatschow so naiv, dass er glaubte durch Transparenz einen solchen Systemwandel bewirken zu können?

Naiv würde ich nicht sagen. Man muss berücksichtigen, dass keiner der sowjetischen Politiker, die damals an der Macht waren, wusste, wie eine pluralistische, ungesteuerte Öffentlichkeit funktioniert. Was Pressefreiheit und Meinungsfreiheit konkret bedeuten, war in der UdSSR bis dahin unbekannt. Er hatte die Idee, eine Art kontrollierte Diskussion über die Vergangenheit und Zukunft der Sowjetunion loszutreten, bei der noch gewisse Tabus beibehalten werden könnten. Es wurde schnell deutlich, dass dies illusionär war, weil jedes Tabu, was Gorbatschow versucht hat zu verteidigen, nicht gehalten werden konnte. Und die Gesellschaft ziemlich schnell in den Modus einer Abrechnung mit der eigenen Geschichte kam, der vor der noch existierenden Partei nicht Halt machte. Das war sicherlich nicht Gorbatschows Ziel. Aber es war eine Konsequenz seines Handelns.

Hätte er mehr Unterstützung aus dem Westen gebraucht?

Die Meinungsfreiheit war eher eine innersowjetische Angelegenheit. Mehr Unterstützung aus dem Westen hätte er sicherlich bei den Wirtschaftsreformen benötigt. Auch auf diesem Gebiet hatte er viel experimentiert und wenig erreicht. In der Folge seiner Reformen verschlechtert sich die ökonomische Situation stark, was zur Delegitimierung seiner Position beigetragen hat. Da hätte er sicherlich westliche Expertise gut gebrauchen können. Insbesondere in den Jahren 1990/91 als die Sowjetunion sehr deutlich auf die Pleite zugesteuert ist. Da hatte Gorbatschow sich von Helmut Kohl und von George Bush Sr. mehr erwartet, aber wenig bekommen.

Sie haben nun verschiedene sich verändernde Prozesse aufgezeigt. Gab es überhaupt einen konkreten übergeordneten Plan was Perestroika bedeuten sollte?

Das ist richtig, bei Gorbatschow gab es keinen konkreten Fahrplan, sondern er experimentierte und passte sich in jeder Situation wieder neu an. Anfangs war diese Flexibilität Gorbatschows eine Stärke, so konnte er die Reformen überhaupt erst in Gang setzen. Über einen längeren Zeitraum wurde jedoch deutlich, dass er keinen Masterplan hatte. Und deswegen konnten ihn seine Gegner von beiden Seiten schließlich vor sich hertreiben: Sowohl die Konservativen als auch die – durch ihn letztendlich kreierten – sogenannten Demokraten, die noch radikalere Reformen forderten. Da er selber keinen konkreten Plan hatte, wurde er 1988/89 zwischen diese beiden Fronten aufgerieben.

Wie lässt sich die "Perestroika"-Politik Gorbatschows aus heutiger Sicht beurteilen?

Es gibt kein einheitliches Bild von Gorbatschow und der Perestroika-Zeit. Man muss zwischen dem westlichen Urteil und dem russischen Bild unterscheiden. In Russland ist die Beurteilung seiner Person sehr negativ. Gorbatschow ist einer der unbeliebtesten Politiker, weil ihm insbesondere der imperiale Zerfall, das Ende der Sowjetunion, vorgeworfen wird. Während man ihn in Westeuropa wegen seiner Außenpolitik und der Beendung der nuklearen Bedrohung verehrt. In Deutschland steht natürlich auch der Dank für die Wiedervereinigung im Vordergrund.

Doch je länger der Abstand zu der Perestroika-Zeit wird, desto stärker wird es deutlich, dass Gorbatschow auch für einen spezifischen Typus russischer Herrschaft steht. Nämlich für den Versuch Russland an den Westen anzunähern. Herrscher wie die Zaren Peter I. und Alexander II. aber auch ein Stück weit Nikita Chruschtschow, haben westliche Konzepte nach Russland importiert, um Russland wieder wettbewerbsfähig zu machen. Diese Herrscher haben versucht, durch eine Liberalisierung "von oben" Russland zu reformieren. Betrachten wir dies aus dieser historischen Perspektive, dann ist Gorbatschow gar nicht so ungewöhnlich wie er zu seiner Zeit vielleicht wahrgenommen wurde. Ein Typus eben, den man auch in anderen Herrschern Russlands erkennen kann. Anders betrachtet lässt sich schlussfolgern: wenn man auf längere Zeiträume in Russland schaut, dann kommt auch wieder die nächste Perestroika.

Das Interview führte Interner Link: Felix Riefer

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Dr. Jan C. Behrends ist Projektleiter des internationalen Forschungsnetzwerkes "Violence and State Legitimacy in Late Socialism" am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Zeitgeschichte Osteuropas, Stadtgeschichte, europäische Diktaturen sowie Gewaltforschung.