Anfang Mai 2015 befand sich der damalige britische Premier David Cameron auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. Seine Partei, die konservativen Tories, gewann bei der britischen Unterhauswahl eine große Zahl an Parlamentssitzen dazu und konnte fortan mit absoluter Mehrheit allein weiterregieren. Der strahlende Sieger Cameron freute sich auf fünf Jahre stabilen Regierens mit einem klar gestärkten Mandat.
Etwas mehr als zwei Jahre später ist Cameron von der politischen Bildfläche in Großbritannien verschwunden – und die Briten schritten am 8. Juni 2017 erneut zur Unterhauswahl. Ursache dafür ist ihr historisches Interner Link: Votum für den Austritt aus der EU. Rund 52 Prozent der Briten stimmten am 23. Juni 2016 für den "Brexit" und damit gegen die Linie des Regierungschefs, der sich für den Verbleib in der EU stark gemacht hatte.
Cameron, der das Referendum selbst initiiert hatte, trat nach dem Votum für den Brexit zurück. Die langjährige Innenministerin Theresa May setzte sich im parteiinternen Rennen der Tories als neue Parteichefin und Premierministerin durch. Vor dem Brexit-Referendum hatte sich May für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Nach dem Referendum vollzog sie einen 180-Grad-Schwenk und machte sich für einen Interner Link: "harten Brexit" stark, der Großbritannien auch aus dem Interner Link: Binnenmarkt und der Zollunion führen soll.
Überraschende Neuwahl
Mitte April 2017 kündigte May überraschend an, neu wählen zu lassen, zu einem Zeitpunkt, als ihre Conservative Party in Umfragen besonders gut stand. Zuvor hatte sie eine vorgezogene Unterhauswahl monatelang kategorisch ausgeschlossen. May erklärte ihren Sinneswandel so: Sie brauche ein möglichst starkes Mandat, um bei den so bedeutenden Austrittsverhandlungen mit den verbliebenen 27 EU-Staaten das bestmögliche Ergebnis für Großbritannien herausholen zu können. Externer Link: Einige Kommentatoren in der europäischen Presse nahmen ihr das nicht ab. Von "Unfug" sprach etwa die linke deutsche Tageszeitung taz: "Warum sollte es die Brüsseler Verhandlungspartner kümmern, wie groß ihre Mehrheit im Unterhaus ist? Mit der Neuwahl soll es vor allem der Labour Party an den Kragen gehen."
Die oppositionelle Labour Party war zu diesem Zeitpunkt mit knapp über 30 Prozent Stimmenanteil zweitstärkste politische Kraft im britischen Unterhaus. Nach ihrer Niederlage bei der Unterhauswahl 2015 war die Mitte-links-Partei in eine Krise geschlittert. Seit September 2015 führt der weit links stehende Jeremy Corbyn die Partei. Unter ihm verlor die Labour-Partei Umfragen zufolge weiter an Zustimmung. Innerhalb der Partei wurde Corbyn von vielen vorgeworfen, sich vor dem Brexit-Referendum nicht stark genug gegen den EU-Austritt engagiert zu haben. Bei einer Vertrauensabstimmung im Juni 2016 stimmten 172 der Labour-Unterhausabgeordneten gegen Corbyn und 40 für ihn. Corbyn wischte das Ergebnis als "bedeutungslos" vom Tisch. May wolle die Uneinigkeit innerhalb der Labour Party nutzen, um die Mehrheit der Tories im Unterhaus auszubauen, spekulierten daher viele Kommentatoren über Mays Motiv für die vorgezogene Wahl.
Dass es May sehr wohl um eine bessere Position in den Verhandlungen mit der EU gehe, argumentierte hingegen die wirtschaftsliberale britische Tageszeitung Financial Times: "Entscheidend wird sein, dass die folgende Parlamentswahl erst 2022 und nicht bereits 2020 stattfindet. May wird dadurch eher Kompromisse machen können - zum Beispiel bei der Frage, wie viel Großbritannien der EU Externer Link: wegen des Brexit schuldet oder bei der Frage, ob der Europäische Gerichtshof in einer Übergangsphase für Großbritannien zuständig bleibt. Diese Themen könnten die Brexit-Verhandlungen in der finalen Phase sonst zum Scheitern bringen."
Die niederländische Zeitung 'De Volkskrant‘ sah eine Verbindung von innen- und außenpolitischen Motiven Mays: "Ein großer Sieg von May aber könnte genauso gut die Chance auf einen weichen Brexit erhöhen. Die Premierministerin wird mit einer größeren Mehrheit im Parlament schließlich nicht länger Gefangene der Euroskeptiker in ihrer Partei sein."
Wahlkampf im Schatten des Brexit
Der Brexit wurde zu einem der Externer Link: bestimmenden Themen des Wahlkampfs . May setzte sich als harte Kämpferin in Szene, die Brüssel bei den Brexit-Verhandlungen die Stirn bieten werde. Sie werde "eine verdammt schwierige Frau" sein, erklärte May. Und: "Kein Abkommen mit der EU ist besser als ein schlechtes Abkommen." Das missfiel der linksliberalen britischen Sonntagszeitung The Observer: "Wenn Großbritannien ohne Abkommen aus der EU rauscht, hätte das traumatische Auswirkungen auf unsere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa." Dass Mays Position in der innerbritischen Debatte so selten angefochten werde, sei laut The Observer eine Schande "Zu verdanken ist dies der Schwäche der heutigen Labour Party", klagte das linksliberale Blatt.
Eine Mitte Mai vom renommierten Institut YouGov veröffentlichte Meinungsumfrage zeigte, dass sich mittlerweile eine klare Mehrheit der Briten auf Pro-Brexit-Kurs befindet. Nur noch 22 Prozent sind demnach gegen den EU-Austritt. Beim Referendum im Juni 2016 waren es noch 48 Prozent. Als neue Gruppe wurden von YouGov die so genannten "Re-Leaver" identifiziert. Zu ihnen zählen rund 23 Prozent der Briten. Sie halten den Brexit zwar für falsch, fordern von der britischen Regierung aber, das Ergebnis des Referendums in die Tat umzusetzen.
"Das ist eine gute Nachricht für Theresa May und einer der Gründe dafür, dass sie zur Neuwahl rief, bevor die Briten von den negativen wirtschaftlichen Folgen des Brexit getroffen werden", analysierte die linksliberale britische Tageszeitung The Guardian.
Neben den Tories ist nur die EU-feindliche, rechtspopulistische Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs (Ukip) klar für den Brexit. Doch die Partei ist ähnlich wie Labour zerstritten. Bei der letzten Unterhauswahl im Jahr 2015 bekam sie nur einen Parlamentssitz.
Die landesweit einzige pro-europäische Partei sind die Liberaldemokraten. "Wir können das Land vor einem harten Brexit bewahren", lautete die Wahlkampf-Devise von Parteichef Tim Farron. Die Liberaldemokraten waren von 2010 bis 2015 Koalitionspartner der Tories. Bei der Unterhauswahl 2015 stürzten sie von 23 auf 7,8 Prozent der Stimmen ab. Laut Umfragen konnten die Liberaldemokraten seither nur leicht zulegen – wohl auch deshalb, weil sich die Mehrheit der Briten mit dem Brexit abgefunden habe, wie The Guardian schrieb: "Die Wunde [des Referendums] scheint zu heilen. Das ist nicht gut für die Partei [der Liberaldemokraten]."
Die Führung der Labour Party sah im Wahlkampf keine Alternative zum Brexit. Doch sie forderte eine möglichst enge Beziehung mit der EU, also keinen "harten Brexit". In ihrem Wahlprogramm setzte die Labour Party auf soziale Themen. Sie forderte höhere Steuern für Gutverdienende und mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem. Schulklassen sollten kleiner und Studiengebühren abgeschafft werden. Post, Bahn- und Energieunternehmen sollten verstaatlicht werden. Die britische Presse reagierte darauf gespalten. Über einen "sozialistischen Irrweg" und "zentralstaatlich ausgeübte Gleichmacherei" schimpfte die konservative Tageszeitung The Daily Telegraph. Ganz anders The Guardian: Labours Parteiprogramm biete endlich "eine klare Leitlinie dafür, wie sich eine moderne Mitte-links-Partei den Herausforderungen einer krisengeschüttelten wohlhabenden Nation stellt".
Die Tories setzten diesmal mehr als früher auf soziale Themen. Sie forderten in ihrem Wahlprogramm mehr Staatsintervention und Kontrolle der Marktwirtschaft. Bei Energiepreisen für Verbraucher sollte es eine Obergrenze geben. Arbeitnehmer sollten mehr Mitbestimmungsrechte erhalten. Mit diesen Versprechen sollten nach Meinung der meisten britischen Kommentatoren frühere Labour-Wähler geködert werden, denen die eigene Partei unter Jeremy Corbyn zu weit nach links gerutscht war.
Weitere Wahlkampfthemen: Zuwanderung und Innere Sicherheit
Den Wahlausgang am 8. Juni 2017 sahen nur wenige voraus. The Daily Telegraph wähnte May auf Erfolgskurs: "Sie hat verstanden, dass [die beiden früheren Premiers] Margaret Thatcher und Tony Blair aus ihrer jeweiligen Oppositionsrolle heraus an die Macht kommen konnten, weil sie mit ihren Wahlprogrammen sowohl die traditionellen Anhänger der eigenen Partei als auch jene ansprachen, die sonst nicht Anhänger der Tories oder von Labour waren." Doch der Linksruck sei für May mittelfristig nicht ungefährlich, warnte die konservative Tageszeitung The Times: "May ist bei den Wählern überaus beliebt. Doch ihr zutiefst beunruhigender Linksruck in wirtschaftlichen Fragen wird Konflikte innerhalb der Tories in der Zukunft schüren."
Umstritten waren zudem Mays restriktive Pläne bei der Frage der Zuwanderung, dem zweiten bestimmenden Thema des Wahlkampfs neben dem Brexit. Die Premierministerin kündigte an, die Netto-Zuwanderung auf unter 100.000 Menschen pro Jahr zu senken. Im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 276.000 Personen. May plädierte unter anderem dafür, dass EU-Bürger nach dem Brexit nicht mehr wie bisher relativ schrankenlos einreisen dürfen. Die britische Presse sah Mays Vorhaben vor allem aus wirtschaftspolitischer Sicht größtenteils kritisch. "Eine kluge Zuwanderungspolitik wird von klaren Prinzipien gesteuert, nicht von einer willkürlich gewählten Zahl”, mahnte etwa die konservative Tageszeitung The Evening Standard.
Der Externer Link: Selbstmordanschlag in Manchester knapp zwei Wochen vor der Wahl und ein weiterer Anschlag mit einem PKW in London auf Fußgänger auf der London Bridge ließen die auch in Großbritannien stets schwelende Debatte über innere Sicherheit und Integration kurzzeitig wieder neu aufleben.
Wie auch immer die Unterhauswahl ausgehen sollte, sei letztlich nicht so wichtig, bilanzierte The Observer und verwies auf die anstehenden historischen Austrittsverhandlungen mit der EU: "Die ungeheure Herausforderung des Brexit ist von größerer Bedeutung. Der ungleiche Kampf May gegen Corbyn wird bald vergessen sein – die Reihe von grundlegenden Entscheidungen, die in den nächsten zwei Jahren getroffen werden müssen, hingegen nicht. Sie werden das Land, in dem wir leben, für die nächsten Generationen gestalten."
Dennoch überraschte der Wahlausgang am 8. Juni. Die Tories verloren 13 Sitze und ihre absolute Mehrheit. Labour gewann dagegen 30 Mandate hinzu, die Liberaldemokraten vier. Damit verknüpft sind neue Diskussionen über das Wahlergebnis als Wählervotum für einen eher "weichen" statt "harten" Brexit - und über die politische Zukunft Theresa Mays.
Weitere Inhalte