Der 9. November 1989 und die folgende Nacht bedeuteten das Ende der Mauer,
Friedliche Revolution und Ausreisewelle schwächen das Regime
Die Ereignisse am 9. November folgten auf die
Besondere Bedeutung für den Fall der Mauer kommt der Tatsache zu, dass Ungarn bereits im Mai 1989 die Grenzsicherungsanlagen zu Österreich hatte abbauen lassen. In der Folge nutzten immer mehr DDR-Bürgerinnen und -Bürger diese offene Grenze für die Flucht in den Westen. Wenig später wurden westliche
9. November: Reisegesetz im Fokus
Unter dem Druck der Ereignisse eröffnete das SED-Zentralkomitee (ZK) am 8. November eine dreitägige Sitzung. Zu deren Beginn trat das Politbüro geschlossen zurück. Nach dem
SED-Generalsekretär Krenz erläuterte dem Zentralkomitee am Nachmittag des 9. November die von der Regierung vorgesehenen Änderungen am Reisegesetz. Doch nicht alle ZK-Mitglieder waren anwesend; auch der neue Sekretär für Information, Günter Schabowski, fehlte. Dieser sollte die internationalen Medien im Anschluss über den Sitzungstag informieren. Kurz vor Beginn der Pressekonferenz um 18 Uhr erhielt er dafür von Krenz die entsprechende Externer Link: Beschlussvorlage. Die neue Regelung sollte am 10. November in Kraft treten, um ausreichend Zeit zu haben alle Grenzposten zu informieren.
"Sofort, unverzüglich"
Im Zentrum der Pressekonferenz stand zunächst nicht das geplante Reisegesetz. Die Nachfrage eines Journalisten veranlasste Schabowski jedoch, um kurz vor 19 Uhr die Reiseregelungen genauer auszuführen.
Er sagte, der Ministerrat habe beschlossen, dass die ständige Ausreise aus der DDR über alle Grenzübergangsstellen zur BRD beziehungsweise West-Berlin allen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern möglich sein solle: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen, beantragt werden, die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Er las weiter vor, dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa "unverzüglich" zu erteilen.
Dann fügte er den Satz hinzu, der dazu führte, dass tausende Ostberlinerinnen und -Berliner in den folgenden Stunden zu den Grenzübergängen ihrer Stadt strömten: dass diese Regelung seiner Kenntnis nach „sofort, unverzüglich“ in Kraft trete. Externer Link: Nachrichtenagenturen und Fernsehsender berichteten daraufhin, dass die DDR Externer Link: mit sofortiger Wirkung ihre Grenzen öffne.
Grenze geöffnet
Die Information verbreitete sich schnell und im Laufe des Abends kamen immer mehr Menschen zu den Grenzübergängen. Zuerst sollte eine „Ventillösung“ die Lage beruhigen: Einzelne DDR-Bürgerinnen und -Bürger konnten die Grenze überqueren. Doch gegen 23.30 Uhr gaben die Diensthabenden am Übergang Externer Link: Bornholmer Straße in Berlin-Wedding dem Drängen nach und öffneten die Grenze vollständig.
Quellentext9. November 1989: Tanz auf der Mauer
Der Werkzeugmacher Ralf Dickel, 34, aus dem Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg ist einer der ersten, die an jenem Donnerstag abend durch die Mauer kommen. Zuerst sehen wir nur seinen Kopf, den er neugierig um die Beton-Mauer reckt – wie jemand, der einen scheuen Blick in ein verbotenes Zimmer riskiert. Dann geht er zögernd ein paar Schritte weiter und schaut sich verstohlen um, als ob er fürchtet, doch noch an seinem grünen Parka zurückgehalten zu werden. Schließlich ist er da.
Am Grenzübergang Bornholmer Straße klatschen jetzt ein paar hundert West-Berliner Beifall, rufen, pfeifen und lassen Sektkorken knallen. Es ist genau 20.45 Uhr, Ralf Dickel reißt die Arme hoch und schreit: "Wahnsinn!"
Ein Wort, das in den nächsten Tagen millionenfach wiederholt werden wird: geflüstert, gestöhnt, gebrüllt, gesungen, geheult. Ein Wort, das wie kein anderes die neue Situation in Berlin und bald auch überall an der deutschen Grenze beschreibt: Fassungslosigkeit, Überraschung, Ungläubigkeit, Glück.
Als die Regierung der DDR die Grenzübergänge öffnet und Tag für Tag und Nacht für Nacht neue Breschen in den Beton der Berliner Mauer schlägt, taumelt die Stadt wie im Fieber. Am Kurfürstendamm liegen sich wildfremde Menschen weinend in den Armen, klatschen unzählige Hände auf die Dächer und Kühlerhauben der Trabants und Wartburgs, die mühsam durch die Spaliere der Schaulustigen kriechen.
Rund um die Gedächtniskirche steigt ein gigantisches Open-air-Spektakel, das rund um die Uhr von Zehntausenden Berlinern aus beiden Teilen der ehemaligen Reichshauptstadt gefeiert wird – mit Freibier und Erbsensuppe, mit Konfetti und Blumen. [...]
[Z]wischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz [...] Menschen stehen dicht an dicht, mit erhobenen Armen, die Finger zum Victoryzeichen gespreizt. Sie sitzen in den Bäumen, tanzen auf der hier zwei Meter breiten Mauerkrone und singen "We shall overcome".
Hunderte machen sich mit Hämmern und Meißeln am Betonwall zu schaffen, biedere Familienväter aus Castrop-Rauxel und Günzburg, aufgeregte Hausfrauen aus Uelzen und Wanne-Eickel, die sich bei der brisanten Werkelei von ihrem halbwüchsigen Anhang ablichten lassen. Immer wieder wird skandiert: "Die Mauer muß weg."
Überflüssig ist sie jetzt ohnehin geworden. Von Donnerstag nacht bis Sonntag abend strömen weit über zwei Millionen DDR-Bürger in den Westteil der Stadt – um den Ansturm zu bewältigen, schlägt der SED-Staat zehn neue Übergänge in die Mauer. Die Besucher aus dem Osten haben das West-Berliner Stadtbild verändert: [...]
Aufregend sind jetzt [...] die Spaziergänge durch West-Berlin geworden. Der Dokumentarfilmer Carsten Krüger, 36, war tagelang mit mehreren Teams unterwegs und staunte: "Komisch, auf der Straße schauen sich die Leute wieder an." Das hat meist nur einen Grund: Man will herausfinden, wer hier Osti ist und wer nicht. [...]
Trotz der vielfältigen Behinderungen – total überfüllte U- und S-Bahn-Stationen, die vorübergehend geschlossen werden müssen, Lebensmittelgeschäfte, in denen kein Einkauf mehr möglich ist, für den Verkehr gesperrte Straßen und Plätze – behalten die West-Berliner ihre Ruhe. Der Regierende Bürgermeister Walter Momper, der mehr als die meisten anderen Politiker Fingerspitzengefühl und Gelassenheit beweist, bringt es auf den Punkt: "Das kriegen wir schon hin." [...]
Werner Lähme, 48, aus der Ost-Berliner Mellenseestraße hat vor so viel Entgegenkommen Respekt: "Ich staune, daß die West-Berliner das alles so verarbeiten können – wir wären damit wohl überfordert gewesen." Den Schlosser Heiko Spärling, 22, aus Neustrelitz treffen wir in der Einkaufsmeile Tauentzien. "Schön", sagt er, "daß nach so vielen Jahren Mauer noch so viel Zusammengehörigkeitsgefühl da ist."
Werner Mathes / Tilman Müller, Stern extra, Hamburg, Nr. 3/1989.
In: Gisela Helwig (Hg.), Die letzten Jahre der DDR – Texte zum Alltagsleben, Köln 1990, S. 135ff.
Kurz nach Mitternacht standen bereits alle Grenzübergänge in Berlin offen. Die Menschen brachen in Freudentränen aus und lagen sich jubelnd in den Armen. Am Brandenburger Tor stiegen Ost- und Westberlinerinnen und -Berliner auf die Mauer und tanzten und feierten stundenlang. Ein Einsatzbefehl für die DDR-Grenzpolizei blieb aus.
Weniger als ein Jahr später, am
Feierlichkeiten zum 30-Jährigen Jubiläum
Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls erinnert Berlin mit einer Festwoche an die historischen Ereignisse. Neben den Erfolgen der Friedlichen Revolution stehen dabei auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie die erheblichen Umwälzungen im Fokus, die vor allem für die ostdeutschen Bundesländer mit dem Vereinigungsprozess einhergingen.