Am 27. Juli 1929 unterzeichneten Vertreter von 46 Staaten in Genf das "Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen". Nach den
Lehren aus dem Ersten Weltkrieg
Das grundsätzliche Anliegen der Unterzeichner war es, das Leid von Soldaten in Gefangenschaft so weit wie möglich zu lindern. Deren menschenwürdige Behandlung war während des Ersten Weltkriegs
Auf diesen Erfahrungen baute Externer Link: das 97 Artikel umfassende Abkommen auf: Unter anderem regelte es die Ausstattung von Kriegsgefangenenlagern und die Versorgung von Gefangenen mit Nahrung, Kleidung, Medizin und sanitären Einrichtungen. So sieht etwa Artikel 15 vor, dass jeder Kriegsgefangene mindestens einmal im Monat von einem Arzt untersucht wird. Auch die Rahmenbedingungen für den Arbeitseinsatz von Gefangenen waren genau festgelegt: Zum Beispiel durften Gefangene nicht in der Rüstungsproduktion und im Rüstungstransport eingesetzt werden; für bestimmte Arbeiten sollten sie am Ende der Gefangenschaft sogar einen Lohn als Ausgleich erhalten.
Anerkennung für das Rote Kreuz
Völkerrechtlich bedeutsam sind vor allem zwei Aspekte des Abkommens: Zum ersten Mal gab es eine Vereinbarung, dass neutrale Schutzmächte die Einhaltung der Regeln im Kriegsfall überprüfen sollen. Deren Beachtung war zuvor weitestgehend vom guten Willen der Kriegsparteien abhängig gewesen. Außerdem erfuhr das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erstmals eine formale völkerrechtliche Anerkennung seiner Arbeit in Kriegsgefangenenfragen: Artikel 79 räumte dem IKRK die Möglichkeit ein, auf neutralem Gebiet eine Auskunftsstelle einzurichten, um Informationen zu Kriegsgefangenen sammeln und an die Angehörigen weitergeben zu können.
Wirkungslos im Zweiten Weltkrieg
Das Abkommen vom 27. Juli 1929 bildete die völkerrechtliche Grundlage für den Umgang mit Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg – theoretisch. Praktisch konnte es seine Wirkung kaum entfalten: Die Sowjetunion, eine zentrale Kriegspartei, gehörte nicht zu den Unterzeichnern. Andere Staaten, die unterzeichnet hatten, missachteten die Regelungen dennoch – das nationalsozialistische Deutsche Reich nahm beispielsweise den
QuellentextDas Los der sowjetischen Kriegsgefangenen
„Ein großer Teil verhungert,“ Februar 1942. Alfred Rosenberg (1893-1946), Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, glaubt, dass sich die Ziele der NS-Politik im Osten eher mit Unterstützung einheimischer Arbeitskräfte und Verbündeter erreichen lassen. In einem Schreiben an den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel (1882-1946), vom 28. Februar 1942 beschwert er sich:
„Von den 3,6 Millionen Kriegsgefangenen sind heute nur noch einige Hunderttausend voll arbeitsfähig. Ein großer Teil von ihnen ist verhungert oder durch die Unbilden der Witterung umgekommen. Tausende sind auch dem Fleckfieber erlegen. Es versteht sich von selbst, dass die Ernährung derartiger Massen von Kriegsgefangenen auf Schwierigkeiten stieß. Immerhin hätte bei einem gewissen Verständnis für die von der deutschen Politik angestrebten Ziele ein Sterben und Verkommen in dem geschilderten Ausmaß vermieden werden können. Innerhalb der Sowjet-Union war z. B. nach vorliegenden Nachrichten die einheimische Bevölkerung durchaus gewillt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. Einige einsichtige Lagerkommandanten haben diesen Weg auch mit Erfolg beschritten. In der Mehrzahl der Fälle haben jedoch die Lagerkommandanten es der Zivilbevölkerung untersagt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, und sie lieber dem Hungertode ausgeliefert. Auch auf dem Marsch in die Lager wurde es der Zivilbevölkerung nicht erlaubt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel darzureichen. Ja, in vielen Fällen, in denen Kriegsgefangene auf dem Marsch vor Hunger und Erschöpfung nicht mehr mitkommen konnten, wurden sie vor den Augen der entsetzten Zivilbevölkerung erschossen und die Leichen liegen gelassen. In zahlreichen Lagern wurde für eine Unterkunft der Kriegsgefangenen überhaupt nicht gesorgt. Bei Regen und Schnee lagen sie unter freiem Himmel. Ja, es wurde ihnen nicht einmal das Gerät zur Verfügung gestellt, um sich Erdlöcher oder Höhlen zu graben. [...] Zu erwähnen wären endlich noch die Erschießungen von Kriegsgefangenen, die zum Teil nach Gesichtspunkten durchgeführt wurden, die jedes politische Verständnis vermissen lassen. So wurden z. B. in verschiedenen Lagern die „Asiaten“ erschossen, obwohl gerade die Bewohner der zu Asien rechnenden Gebiete Transkaukasien und Turkestan die am schärfsten gegen die russische Unterdrückung und den Bolschewismus eingestellten Bevölkerungsteile der Sowjet-Union abgeben. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete hat wiederholt auf diese Missstände hingewiesen. Trotzdem ist z. B. noch im November in einem Kriegsgefangenenlager bei Nikolajew ein Kommando erschienen, das die „Asiaten“ liquidieren wollte.“
Ernst Klee / Willi Dressen (Hg.), „Gott mit uns“. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1989, S. 142-147
„Was bedeutet ein Menschenleben?“ Auszug aus einem Feldpostbrief
Leutnant A. B., 19. Oktober 1942:
„[...] Ich erlebe z. Zt. schreckliche Tage. Jeden Tag sterben 30 meiner Gefangenen, oder ich muß sie erschießen lassen. Es ist bestimmt ein Bild des Grauens. [...]
Die Gefangenen, nur teilweise bekleidet, teils ohne Mantel, werden nicht mehr trocken. Das Essen ist nicht ausreichend, und so brechen sie, einer nach dem anderen, zusammen. Ich kann sie dann nicht mehr heimbringen [...].
Wenn man so sieht, was eigentlich ein Menschenleben bedeutet, dann geht eine innere Umwandlung im eigenen Denken vor. Eine Kugel, ein Wort, und ein Leben ist nicht mehr. Was ist ein Menschenleben? So habe ich mich zu dem endgültigen Entschluss durchgerungen, mir nun in meinem Leben keine gesellschaftlichen Schranken anzulegen, sondern daß ich von jetzt ab lebe von einem Tag in den anderen. [...]“
Ortwin Buchbender / Reinhold Sterz (Hg.), Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945, Br. 302. 2. Aufl. C. H. Beck Verlag, München 1983, S. 150 f.
Schrecken und Vision Henry Dunants
Das Abkommen von 1929 steht in einer Reihe mit anderen Verträgen zum humanitären Völkerrecht, dessen Entwicklung auch auf den Schweizer Henry Dunant zurückgeht. 1859 war Dunant während einer Italien-Reise nahe des Ortes Solferino Zeuge eines blutigen Gefechtes zwischen Österreichern, Franzosen und Italienern geworden. Seine Erlebnisse verarbeitete Dunant 1862 in seinem Buch "Eine Erinnerung an Solferino". Darin forderte er unter anderem die Gründung von neutralen Hilfsgesellschaften, die im Krieg Verwundete aller Seiten versorgen und dabei unter internationalem Schutz stehen.
1863 gründete Dunant in Genf die Vorläuferorganisation des IKRK. Seine Ideen wurden nun auch international diskutiert. Ein Jahr später, am 22. August 1864, unterzeichneten zwölf Staaten auf einer von der Schweizer Regierung einberufenen Konferenz die "Genfer Konvention zur Verbesserung des Schicksals der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde". Erstmals gaben sich Staaten ein Regelwerk, das die Schrecken des Krieges für die daran Beteiligten einhegen sollte.
Der Weg zu den Genfer Konventionen von 1949
Das Abkommen von 1864 war der Beginn der völkerrechtlichen Regelung der Kriegsführung. Weitere Abkommen folgten und weitere Staaten schlossen sich an: Die Haager Landkriegsordnungen von 1899 und 1907 zum Beispiel enthielten Regelungen zur Behandlung von Kriegsgefangenen und zum Waffeneinsatz. Das sogenannte Genfer Protokoll von 1925 verbot u.a. den Einsatz chemischer und biologischer Waffen. Das "Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen" vom 27. Juli 1929 regelte schließlich umfassend den Umgang mit Kriegsgefangenen. Es wurde abgelöst durch die dritte der vier Genfer Konventionen von 1949, dem Externer Link: bis heute von 196 Staaten unterzeichneten und damit Externer Link: einzigen internationalen Vertragswerk, das universell anerkannt ist. Die vier Genfer Konventionen sollen in Kriegszeiten den Schutz von Verwundeten an Land (1. Genfer Konvention) und zur See (2.), von Kriegsgefangenen (3.) und Zivilpersonen (4.) gewährleisten.