Einen Monat vor seinem 60. Geburtstag am 10. Mai 2014 tauchte das Bundesarbeitsgericht wieder einmal in den Nachrichten auf: Die dort verhandelte Auseinandersetzung zwischen einer Krankenschwester und ihrem Arbeitgeber, einem Krankenhaus in Potsdam, schaffte es deutschlandweit in die Schlagzeilen. Das Krankenhaus hatte seine langjährige Mitarbeiterin als arbeitsunfähig eingestuft, weil sie aus gesundheitlichen Gründen keine Nachtdienste mehr übernehmen könne. Deshalb sei sie noch längst nicht arbeitsunfähig, meinte die Krankenschwester und klagte. Mit Erfolg, Externer Link: das Bundesarbeitsgericht bestätigte im April 2014, was zuvor schon das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg geurteilt hatte: Die Frau ist arbeitsfähig, das Krankenhaus muss sie tagsüber einsetzen.
Ausgleich zwischen sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten
Das Bundesarbeitsgericht ist die höchste Instanz der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Es ist zuständig für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis, Streitigkeiten zwischen den Tarifvertragsparteien sowie solche, die sich aus den Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetzen ergeben. Seine Urteile haben Bedeutung für viele Menschen, etwa für Arbeitgeber und für die gegenwärtig knapp 30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Immer dann, wenn Personen in Deutschland wegen Arbeitsfragen in Streit geraten, können sie für deren Klärung die Arbeitsgerichte anrufen.
Die Fälle der Arbeitsgerichte müssen dabei nicht zwingend und unmittelbar aus einem Arbeitsvertrag zwischen zwei Parteien resultieren: Ist eine Gewerkschaft überhaupt eine Gewerkschaft und darf als solche Tarifverträge aushandeln? Wie sind gültige Tarifverträge auszulegen? Welche Befugnisse stehen einem Betriebsrat zu und wurde er rechtmäßig gewählt? Wurde das Mitspracherecht des Betriebsrates durch eine Maßnahme der Unternehmensleitung beschnitten? Dürfen Arbeitnehmer überhaupt streiken? Wenn sich solche Fragen nicht außergerichtlich, an den Arbeitsgerichten oder an den Landesarbeitsgerichten klären lassen, entscheidet das Bundesarbeitsgericht. Als höchste Ebene der Arbeitsgerichtsbarkeit ist es so immer wieder vor die Herausforderung gestellt, zwischen den sozialen Grundrechten der Arbeitnehmer und den wirtschaftlichen Grundrechten der Arbeitgeber abzuwägen.
Ein Gericht zieht um
Zwischen 1954 und 1999 war das Bundesarbeitsgericht im hessischen Kassel beheimatet. Nach der Wiedervereinigung verlegte der Bund mehrere Institutionen in die neuen Bundesländer, um seine Behörden gleichmäßig über das gewachsene Bundesgebiet zu verteilen.
Im Zuge dessen zog auch das Bundesarbeitsgericht kurz vor der Jahrtausendwende nach Erfurt. Fast 170 Menschen beschäftigt das Gericht heute in seinem zwischen 1996 und 1999 errichteten Dienstgebäude in der thüringischen Landeshauptstadt.
Wer heute in Erfurt als Kläger oder Beklagte vor die Richterinnen und Richter tritt, der hat schon mindestens eine andere Instanz der Arbeitsgerichtsbarkeit durchlaufen. Das jeweils regional zuständige Arbeitsgericht ist erster Adressat für alle Verfahren. Berufung oder Beschwerden gegen die Urteile führen an das jeweils zuständige Landesarbeitsgericht, gegen dessen Entscheidung wiederum Revision oder Rechtsbeschwerde eingelegt werden kann, was dann das Bundesarbeitsgericht auf den Plan ruft. Wenn alle Beteiligten damit einverstanden sind, kann der Weg bei einigen wenigen Themen vom Arbeitsgericht sogar direkt zum Bundesarbeitsgericht führen. Bei der Frage etwa, ob eine bestimmte Form des Arbeitskampfes zulässig ist, wäre diese Sprungrevision möglich.
Gibt es ein Recht auf Streik?
Überhaupt gehörten Streiks durch Arbeitende und Aussperrungen durch Arbeitgeber zu den zentralen Angelegenheiten, die das Bundesarbeitsgericht in seiner Anfangszeit zu klären hatte. "Unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen", aber "in bestimmten Grenzen erlaubt" seien derartige Arbeitskampfmaßnahmen, urteilten die Richter 1955. Sie steckten damit den Rahmen für das zentrale gesellschaftliche Konfliktfeld zwischen Kapital und Arbeit ab. Diese Rahmensetzung hat aus einem bestimmten Grund bis heute Gültigkeit: Der Gesetzgeber in Deutschland hat bisher stets darauf verzichtet, Fragen des Arbeitskampfes gesetzlich zu regeln - anders als etwa in Schweden und Spanien, wo nicht nur die Verfassung explizit ein Recht auf Streik garantiert, sondern die Legislative dieses Recht auch im Detail geregelt hat.
Hat das Bundesarbeitsgericht heute darüber zu befinden, ob etwa ein Streik die Grenzen des Erlaubten überschreitet, so wird diese Entscheidung vom Ersten der insgesamt Externer Link: zehn Senate des Gerichts getroffen. Dort liegt die Zuständigkeit für Arbeitskampf-, Tarif- und Vereinigungsangelegenheiten. Den Vorsitz des Ersten Senats hat stets inne, wer dem Bundesarbeitsgericht insgesamt als Präsident vorsteht. Nach fünf Präsidenten seit 1954 hat mit Ingrid Schmidt derzeit die erste Frau dieses Amt inne.
Das Bundesarbeitsgericht
Am 10. Mai 1954 wird das Bundesarbeitsgericht in Kassel eröffnet. Ende 1999 zieht es vollständig nach Erfurt um. Als einer der fünf
Die dem Bundesarbeitsgericht angetragenen Fälle werden je nach Rechtsgebiet auf derzeit zehn Senate verteilt. Die derzeitige Vorsitzende des Ersten Senates, Ingrid Schmidt, ist zugleich die amtierende Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts.
Zuständig für die Besetzung der Richterposten sind ein Richterwahlausschuss mit 16 vom Bundestag gewählten Mitgliedern sowie 16 Landesministern bzw. -ministerinnen gemeinsam mit der Bundesarbeitsministerin, zurzeit Andrea Nahles (SPD). Mit den Berufsrichtern bilden ehrenamtliche Richter die Senate, letztere entsenden Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen. Der Große Senat entscheidet in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung oder in solchen, bei denen ein Senat von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen will.