Am vergangenen Donnerstag (22. November) hatte der ägyptische Präsident verfügt, dass "zum Schutz der Revolution getroffene Entscheidungen" rechtlich nicht angefochten werden können bis eine neue Verfassung steht. Dies betrifft Verfassungserklärungen, Gesetze und Dekrete, die er seit seinem Amtsantritt (30. Juni 2012) erlassen hat. Auch die verfassunggebende Versammlung und das Oberhaus im Parlament genießen nunmehr Immunität vor einer möglichen richterlichen Auflösung. Die etwa 100-köpfige verfassungsgebende Versammlung, die bis Februar 2013 eine neue Verfassung ausarbeiten soll, ist im Land umstritten. Sie setzt sich mehrheitlich aus Vertretern islamistischer Parteien zusammen. Gegner befürchten deshalb, dass die neue verfassungsrechtliche Grundlage des Landes stark religiös-fundamentalistische Züge annehmen wird. Aus Protest haben bereits rund ein Drittel der Mitglieder, vorrangig Liberale und Linke, das Gremium verlassen. Bereits im April 2012 wurde die Versammlung vom obersten ägyptischen Verwaltungsgericht für gesetzeswidrig erklärt.
Landesweite Proteste und internationale Kritik
Einer Auflösung der Versammlung ist Mursi mit seiner Verfügung nun zuvorgekommen. Der ehemalige Vorsitzende der Partei für Gerechtigkeit und Freiheit begründete den Ausbau seiner Vollmachten damit, den Reformprozess beschleunigen zu wollen. Er sprach sich dafür aus, Korruption sowie Verbrechen aus der Ära des ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak zu ahnden. Er hatte Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmud abgesetzt mit der Begründung, dass dieser mehrere ehemalige Beamte aus dem Umkreis Mubaraks freigesprochen habe.
Kritiker werfen Mursi hingegen vor, die Justiz entmachten zu wollen und das Land erneut in Richtung einer Diktatur zu führen. Viele Richter und Staatsanwälte riefen zu landesweiten Protesten auf. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und Muslimbrüdern - den Befürwortern Mursis - auf der einen Seite und Liberalen, Linken sowie Anhängern des Mubarak-Regimes auf der anderen. Seit Beginn der Proteste in der vergangenen Woche sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 444 Menschen verletzt worden, ein 15-jähriger Junge kam am Sonntag (25. November) in der Stadt Damanhur ums Leben. Der ägyptische Oppositionspolitiker und Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei warnte bereits vor einem Bürgerkrieg. Auch international wird der Schritt Mursis kritisiert. Vertreter der Europäischen Union forderten den Präsidenten auf, den demokratischen Prozess in Ägypten zu respektieren.
Kein Kompromiss in Sicht
Als Reaktion auf die Protestwelle verkündete Mursi am Sonntag (25. November), dass seine Vollmachten temporär seien und nur bis zum Inkrafttreten der neuen Verfassung und der Wahl eines neuen Parlaments gelten würden. An seinen umstrittenen Dekreten will er aber festhalten - dies ergab ein Treffen zwischen dem Präsidenten und dem Obersten Richterrat des Landes am Montag (26. November). Der Richterrat wollte Mursi davon überzeugen, die präsidialen Machtbefugnisse zumindest bei wichtigen Entscheidungen wie Kriegserklärungen, dem Abbruch diplomatischer Beziehungen und der Verhängung des Kriegsrechts einzuschränken. Ein Sprecher Mursis teilte lediglich mit, dass der Präsident die Unabhängigkeit der Justiz respektieren werde.
Derweil hatten Muslimbruderschaft sowie Vertreter der salafistischen Nur-Partei ihre für Dienstag (27. November) geplanten Solidaritätsbekundungen für Mursi vorerst verschoben. Oppositionelle, die ebenfalls zu Demonstrationen aufgerufen hatten, setzten ihre Proteste am Dienstag hingegen fort: Auf dem Tahir-Platz in Kairo versammelten sich mehr als 300.000 Menschen, ein Mann erstickte laut Gesundheitsministerium an Tränengas. In Alexandria und Mahalla gab es nach schweren Ausschreitungen mehrere Verletzte.
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