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50 Jahre Spiegel-Affäre | Hintergrund aktuell | bpb.de

50 Jahre Spiegel-Affäre

Horst Pöttker

/ 6 Minuten zu lesen

Am 10. Oktober 1962 erschien der militärpolitische Artikel "Bedingt abwehrbereit" in der Zeitschrift "Der Spiegel". Er löste die Spiegel-Affäre um den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß aus. Wichtige Folge: Ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pressefreiheit.

Das Bild zeigt von links nach rechts die Titelblätter der Spiegel-Ausgaben 41/1962 und 45/1962. In Heft Nr. 41 vom 10. Oktober 1962 erschien die Reportage "Bedingt abwehrbereit" des stellvertretenden Chefredakteurs Conrad Ahlers, der einige Wochen später die Spiegel-Affäre auslöste: Auf Betreiben von Verteidigungsminister Franz Josef Strauss kam es zur Verhaftung von Ahlers sowie von Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein und zur Durchsuchung der Redaktionsbüros des Blattes. (© Der Spiegel)

Im Herbst 2012 jährt sich zum 50. Mal ein Ereignis, das als Meilenstein auf dem Weg zur unbestrittenen Pressefreiheit in Deutschland und zu einem Journalismus gelten kann, der sich als kritisches Gegenüber des Staats versteht. Auf Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) drangen am späten Abend des 26. Oktober 1962 Beamte des Bundeskriminalamts und der örtlichen Polizei in die Räume des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" ein, durchsuchten die Redaktion und nahmen im Folgenden den Herausgeber Rudolf Augstein, den Verlagsdirektor, den Chefredakteur und eine Reihe weiterer Redakteure fest, von denen etliche in Untersuchungshaft genommen wurden, Augstein gar über drei Monate. Im Durchsuchungsbefehl wurden die Festgenommenen des Verrats von Staatsgeheimnissen bezichtigt, begangen durch den militärpolitischen Artikel "Bedingt abwehrbereit", der vom stellvertretenden Chefredakteur Conrad Ahlers stammte und in der Nummer 41 vom 10. Oktober 1962 erschienen war. Augstein wurde außerdem aktive Bestechung von "Mitgliedern der bewaffneten Macht" vorgeworfen. Die Durchsuchung dauerte bis zum 25. November 1962. Gestützt auf ein Gutachten des Bundesverteidigungsministeriums hatte die Bundesanwaltschaft daraufhin die Durchsuchung und entsprechende Haftbefehle beim BGH beantragt.

Obwohl meterweise Material beschlagnahmt wurde, ließ sich nichts finden, was die Vorwürfe des Landesverrats oder der Korruption belegt hätte. Gegen Augstein, Ahlers und einen Offizier wurde zwar Anklage erhoben, aber der BGH lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Journalisten ab.

Wichtiger als die strafrechtlichen Resultate sind die politischen und verfassungsrechtlichen Folgen. Nicht nur die Kollegen im Hamburger Pressehaus, fast alle deutschen Zeitungen und die Journalistenverbände solidarisierten sich mit dem "Spiegel", sofort erhoben sich Proteste von Studenten, bald aber auch in der politischen Publizistik und im Bundestag, die entscheidend zum Ende der Regierung Konrad Adenauers und damit der restaurativen Gründungsphase der Bundesrepublik beigetragen haben.Vor allem hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 5. August 1966, in dem es die Verfassungsbeschwerde des "Spiegels" bei Stimmengleichheit der Richter allerdings zurückwies, Grundsätzliches über die Pressefreiheit und ihren notwendigen Schutz durch den Rechtsstaat gesagt, das für den öffentlichkeitsfreundlichen Tenor späterer Rechtsprechung maßgeblich wurde und in der politischen Kultur Deutschlands bis heute nachwirkt.

Gegenstand der "Spiegel"-Affäre war Ahlers' Artikel "Bedingt abwehrbereit" über die Rüstungsstrategie der Regierung Adenauer und ihres Verteidigungsministers Strauß. So lang und für Durchschnittsleser wohl auch langweilig dieser Text war – es handelte sich insofern um eine bemerkenswerte Rechercheleistung, als mit Hilfe des berühmten "Spiegel"-Archivs aus zahllosen verstreut publizierten militärischen Informationsdetails das Gesamtbild systematischer Vernachlässigung konventioneller Verteidigungskraft zugunsten nuklearer Rüstung zusammengesetzt worden war. Dabei fehlte es nicht an Sorgen um die Bundesrepublik, die den Text grundierten: "In der Patt-Lage könnte Amerika versucht sein, örtliche Erfolge der Sowjetarmee in Europa im Kampf mit den noch an Zahl unterlegenen Nato-Verbänden hinzunehmen, um den beiderseits tödlichen Schlagabtausch mit strategischen Kernwaffen zu vermeiden." Das Ergebnis der Nato-Übung "Fallex 62" wird am Ende schließlich wie folgt zusammengefasst: "Mit Raketen an Stelle von Brigaden und mit Atom-Granatwerfern an Stelle von Soldaten ist eine Vorwärtsverteidigung der Bundeswehr nicht möglich, eine wirksame Abschreckung bleibt fraglich.“ Heute mögen Länge und Akribie des Artikels befremdlich erscheinen, aber was die Gründlichkeit der Recherche, die Systematik der Schlussfolgerungen und den Mut zur Kritik an der Bundesregierung betrifft, müsste man suchen, um Ähnliches zu finden. Noch einmal Ahlers und Mitautor Hans Schmelz: "Straußens Demagogie empörte die Amerikaner; die deutschen Heeresgenerale erschreckte sie. (...) Trotzdem besteht Strauß auf seinen Raketen und entschied entgegen den Forderungen der Nato: 500.000 Mann sind genug."

Das Zitat führt zum eigentlichen Grund der Affäre. Dass er nicht in der Sorge um einen Landesverrat lag, sondern im Ärger des Bayern Strauß über das Hamburger Magazin, das ihm ständig auf die Finger klopfte, zeigen eine Reihe von bizarren Nebenerscheinungen. So begründete das Verteidigungsministerium die Dringlichkeit der erbetenen und gern gewährten Amtshilfe des Franco-Regimes bei der Festnahme von Ahlers in Spanien mit der Behauptung, Augstein sei bereits nach Kuba geflohen. Die Rivalität zwischen den Alphatieren Strauß und Augstein, die 1957 bei einem Besuch des Ministers im Haus des Herausgebers trotz ihrer Harmonie im Nationalgefühl nicht hatten zueinander finden können, war der Motor der Affäre. Das geht auch aus den Worten hervor, die Augstein 1966 fand, um die Motive seines Gegners zu charakterisieren: "Das Der-Staat-ist-in-Gefahr-Stück, das Strauß und Hopf vor Adenauer und den Bundesanwälten inszenierten, verlief nur zu Anfang erfolgreich. Selten ist eine fehlgeschlagene Justizintrige so nahezu vollständig aufgeklärt worden: Dank dem Bundesverfassungsgericht."

Das Verfassungsgerichtsurteil vom 5. August 1966 war die einschneidendste Folge der "Spiegel"-Affäre, weil es die fundamentale Bedeutung der Pressefreiheit für den Staat und die Rechtsprechung wie für den gesellschaftlichen Diskurs in wegweisender Deutlichkeit bestimmte: "Der Staat ist (...) verpflichtet, in seiner Rechtsordnung überall, wo der Geltungsbereich einer Norm die Presse berührt, dem Postulat ihrer Freiheit Rechnung zu tragen. Freie Gründung von Presseorganen, freier Zugang zu den Presseberufen, Auskunftspflichten der öffentlichen Behörden sind prinzipielle Folgerungen daraus; doch ließe sich etwa auch an eine Pflicht des Staates denken, Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten." Bahnbrechendes formulierte es auch zur gesellschaftlichen Funktion des Journalismus und der Presse: "Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung. (...) Sie fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran. (...) Presseunternehmen stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf."

Am Beispiel der Verteidigungspolitik konkretisierten die Verfassungsrichter die regulierende Funktion von Öffentlichkeit, die Journalismus und Presse nur erfüllen können, wenn der Staat ihre Unabhängigkeit respektiert und garantiert: Dem Interesse der militärischen Führung an Geheimhaltung sei gegenüberzustellen "das sich aus dem demokratischen Prinzip ergebende Anrecht der Öffentlichkeit an der Information und Diskussion der betreffenden Fakten; hierbei sind auch die möglichen heilsamen Folgen einer Veröffentlichung in Rechnung zu stellen. So kann etwa die Aufdeckung wesentlicher Schwächen der Verteidigungsbereitschaft trotz der zunächst damit verbundenen militärischen Nachteile für das Wohl der Bundesrepublik auf lange Sicht wichtiger sein als die Geheimhaltung."

Die deutsche Gesellschaft und ihre Republik wären heute andere, wenn 1962 der Zugriff der Staatsgewalt auf den "Spiegel" in Öffentlichkeit und Politik unwidersprochen geblieben wäre und der Verteidigungsminister sich gegen den publizistischen Widersacher durchgesetzt hätte. Die wichtigste kulturelle Folge war die Verbreitung der Einsicht, dass Pressefreiheit nicht nur ein professionelles Privileg von Journalisten und Verlegern ist, sondern eine notwendige Bedingung für die Selbstregulierungsfähigkeit moderner, stark parzellierter Gesellschaften, in denen Probleme und Missstände sonst verborgen und daher unbearbeitet blieben. Gerade weil sie in Deutschland noch nicht selbstverständlich waren, wurden Prinzipien wie Gewaltenteilung oder Pressefreiheit an manchen Schulen und Universitäten intensiv gelehrt. Die Ereignisse im Herbst 1962 stellten somit geeignete Demonstrationsobjekte dar, wenn staatliche Organe diese Grundsätze so offensichtlich verletzten. Insofern war die "Spiegel"-Affäre ein Glücksfall für die Entwicklung zur funktionsfähigen Demokratie.

Dieser Text ist eine stark gekürzte Version des Beitrags "Meilenstein der Pressefreiheit - 50 Jahre 'Spiegel'-Affäre" des Dortmunder Journalismus-Historikers Horst Pöttker, erschienen im Juli 2012 in "Aus Politik und Zeitgeschichte". In der ursprünglichen Version geht Pöttker auch auf Politik und Öffentlichkeit im Deutschland der 1950er Jahre ein sowie auf problematische Folgen der "Spiegel"-Affäre für die politische und journalistische Kultur der Bundesrepublik heute.

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Dr. phil.-hist. habil., geb. 1944; Professor für Theorie und Praxis des Journalismus, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Journalistik der TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50, 44227 Dortmund. horst.poettker@tu-dortmund.de Externer Link: http://www.journalistik-dortmund.de/poettker.html