Einleitung
In Osteuropa verfolgten die kommunistischen Parteien unter Lenkung der Sowjetunion nach 1945 eine einheitliche Strategie zur Durchsetzung des Sozialismus, indem sie zunächst Bündnisse mit Parteien des nichtkommunistischen Spektrums eingingen. Ein weiterer maßgeblicher Faktor für die kommunistische Politik waren die Sicherheitsbedürfnisse der Sowjetunion. Nach den katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs für Wirtschaft und Leben der eigenen Bürgerinnen und Bürger wollte sie sich vor einer befürchteten militärischen Aggression des Westens durch einen Sicherheitsgürtel befreundeter Staaten schützen.
Ungeachtet dieser gemeinsamen Richtlinien gab es in jedem Land des sowjetischen Einflussbereichs Besonderheiten in Situation und Vorgehensweise. In der Nachkriegs-Tschechoslowakei vollzog sich die Machtkonsolidierung der Kommunisten relativ spät, im Februar 1948. Die Umwandlung zur Diktatur erfolgte nach einer Formulierung des englischen Historikers Josef Rothschild in einem relativ "sanften Übergang".
Phase des Übergangs
Die besondere Lage der Tschechoslowakei lässt sich auf zweierlei Art charakterisieren: Zum einen stand dem Land im Unterschied zu anderen Staaten eine politische Elite aus der Vorkriegszeit zur Verfügung, die im Verlauf des Krieges ihr Ansehen bei der Bevölkerung nicht eingebüßt hatte und von sich aus zur Kooperation mit der Sowjetunion bereit war.
Die Exilregierung unter Benes wandte sich unter dem Trauma des Münchener Abkommens, das als Verrat des einstigen Verbündeten Frankreich verstanden worden war, der Sowjetunion als internationaler Garantiemacht zu. Erleichternd hierfür wirkte der Umstand, dass bei den Mitte-Links-Parteien der Exilregierung sozialistische Orientierungen verbreitet waren, die zur damaligen Zeit auch in Westeuropa ihre Entsprechung fanden, etwa in der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien in Frankreich, in der Einrichtung eines kostenlosen nationalen Gesundheitsdienstes in Großbritannien oder auch im Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU der britischen Zone.
Benes verfolgte sogar ein eigenes weltpolitisches Konzept: Er war der Meinung, dass die Gesellschaften des Westens sich in Richtung auf einen Wohlfahrtssozialismus bewegten, während die Sowjetunion sich auf dem Weg von einer Diktatur zu einer sozialen Demokratie befände und interpretierte das als Annäherungsprozess beider Systeme. Eine demokratische und sozialistische Tschechoslowakei sollte dabei als Brücke dienen.
Unter diesem Blickwinkel war die Periode nach 1945 mehr als nur eine "gleitende kommunistische Machtübernahme", sie fußte vielmehr auf Gemeinsamkeiten aller Parteien der Nationalen Front. Neben den Absichten der politischen Eliten spielten aber auch die Interessen der städtischen und bäuerlichen Unterschichten eine Rolle. Sie waren Nutznießer eines umfassenden Umverteilungsprozesses von oben nach unten, und die Kommunisten verstanden es, sich als wichtigste Verteidiger dieser Umverteilung darzustellen. Sie wurzelten stärker in der Gesellschaft als die Kommunisten in den Nachbarländern Polen und Ungarn.
Kommunistische Machtübernahme
Bis Mitte des Jahres 1947 verlief die Entwicklung relativ geordnet. Dann kam es unter dem Druck internationaler und nationaler Ereignisse zu einer politischen Krise und Konfrontation der früheren Verbündeten. International vollendete sich in diesem Zeitraum die Spaltung zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. Damit vergrößerte die Sowjetunion ihren Druck auf die eigenen Verbündeten, sich der Lagerdisziplin unterzuordnen. Stalin unterband beispielsweise die Absicht der Tschechoslowakei, Marshallplanhilfe in Anspruch zu nehmen.
Konflikte im Innern kamen dazu: 1947 führte der Streit um die Vollstreckung der Todesstrafe an dem früheren Präsidenten des Satellitenstaates Slowakei, Jozef Tiso, zu wachsenden Spannungen zwischen Tschechen und Slowaken. Zusätzlich gerieten die Kommunisten, denen die öffentliche Meinung die Verantwortung für Versorgungsschwierigkeiten nach einer Missernte im selben Jahr anlastete, in die Kritik und starteten populistische Kampagnen zur Einführung einer "Millionärssteuer", zur Radikalisierung der Bodenreform und zur Vollendung der Verstaatlichung in der Industrie.
Im Vorfeld der Verabschiedung einer Verfassung und der Parlamentswahlen zum Frühjahr 1948 verstärkten sich die Dissonanzen zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerlichen Parteien. Die Kommunistische Partei setzte sich für die Aufstellung einer Einheitsliste ein. Die Sozialdemokraten hatten Ende November 1947 ihre linke Führung, die eng mit den Kommunisten zusammenarbeitete, abgewählt und damit die kommunistische Mehrheit in der Koalitionsregierung gefährdet.
Den unmittelbaren Anlass für die Machtübernahme stellte die am 20. Februar 1948 beantragte Demission einer Mehrheit der bürgerlichen Minister und eines Sozialdemokraten (zwölf von 26 Regierungsmitgliedern) dar. Mit ihrem Rücktrittsgesuch wollten sie gegen die Benachteiligung nichtkommunistischer Beamter in der Polizei protestieren. Mit dieser Aktion verbanden sie die Hoffnung, eine grundsätzliche Verbesserung der politischen Situation erreichen zu können, wobei sie vom Präsidenten eine Rückweisung ihrer Demission erwarteten.
Nach anfänglicher Überraschung reagierte die kommunistische Führung entschlossen und nutzte ihre bis dahin erworbenen Machtmittel: Sie mobilisierte die Gewerkschaften und andere Massenorganisationen. Am 20. und 23. Februar fanden Demonstrationen gegen die "bürgerlichen Minister" statt, am 24. Februar beteiligten sich große Teile der Industriearbeiterschaft an einem einstündigen Warnstreik. Da nur eine Minderheit der Minister ihren Rücktritt erklärt hatte, nicht aber, wie durch die Initiatoren erhofft, auch alle sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung, konnte jene im Amt bleiben. Der Präsident beugte sich dem politischen Druck und nahm die Rücktrittsgesuche der zwölf Minister an.
Damit war das Kräfteverhältnis eindeutig zugunsten der Kommunisten verschoben. In die neue Regierung wurden nur Politiker anderer Parteien aufgenommen, die sich den Kommunisten gegenüber als loyal erwiesen. Die Nationalversammlung wurde durch Einschüchterung und Verhaftung widerstrebender Abgeordneter diszipliniert. Sie bestätigte nicht nur die von den Kommunisten dominierte Regierung, sondern auch einen von den Kommunisten eingebrachten Verfassungsentwurf, der der sowjetischen Verfassung von 1936 folgte.
Am 30. Mai wurden die von den Kommunisten geforderten Wahlen nach einer Einheitsliste durchgeführt, die ihnen 211 von 300 Sitzen sicherten. Später wurde das formelle kommunistische Übergewicht noch einmal durch den erzwungenen Beitritt der Sozialdemokraten zur Partei verstärkt. Nachdem der Präsident alle Schritte der neuen Machthaber seit dem Februar durch seine Unterschrift bestätigt hatte, verweigerte er sich allerdings der neuen Verfassung und trat zurück.
Nach dem Februar 1948 wurden die nichtkommunistischen Parteien bedeutungslos, die Verstaatlichung der Industrie und des Handels wurde zügig vollendet, die Kollektivierung der Landwirtschaft vorangetrieben, die Verwaltung und die Armee von bürgerlichen Kräften "gesäubert", ein Kampf gegen die katholische Kirche begonnen. In diesem Zeitraum verstärkten sich sowohl die Repressalien gegen die Gegner der Kommunisten als auch die Auseinandersetzungen in der eigenen Partei, welche in einem Schauprozess gegen den früheren Generalsekretär der Partei Rudolf Slánský und weitere 13 führende Kommunisten im November 1952 ihren Höhepunkt fanden. So war nach dem Februar 1948 innerhalb weniger Jahre eines der freiesten Länder Osteuropas zu einer rigiden Diktatur geworden.
Mitte der fünfziger Jahre waren in der Tschechoslowakei fast 100 Prozent des gewerblichen Sektors staatlich reguliert, nahezu vier Fünftel des Außenhandels wurden mit den sozialistischen Staaten abgewickelt, die kulturellen Beziehungen zum Westen waren weitgehend gekappt, als Regimegegner angesehene Personen waren in Gefängnisse und Arbeitslager eingesperrt.
1954 wurden noch eine Reihe slowakischer Kommunisten, unter ihnen der spätere Parteichef Gustáv Husák (er war zwischen 1970 und 1987 Erster Sekretär der KP), wegen "Titoismus und slowakischem Separatismus" zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Der Begriff "Titoismus" bezieht sich auf den jugoslawischen Staatschef Josip Broz Tito (1953–1980), der 1947 nach einem Konflikt mit Stalin als Verräter bezeichnet worden war. Seitdem suchte man überall im Ostblock nach "Titoisten". Erst 1956 kam es zur Aussöhnung zwischen Tito und dem Nachfolger Stalins, Nikita S. Chruschtschow (Parteiführer 1953–1964).
Das Eigentum der katholischen Kirche befand sich in den Händen des Staates, die Klöster waren geschlossen und die meisten Bischöfe mitsamt dem Prager Erzbischof standen unter Hausarrest.
Zehn Jahre später hingegen befand sich die Tschechoslowakei an der Spitze der Reformbewegung in Osteuropa. Worin liegen die Ursachen dieses erstaunlichen Wandels?
Vom "Tauwetter" zum "Prager Frühling"
Den Ausgangspunkt bildete in allen Ländern des damaligen Ostblocks die Legitimitätskrise der herrschenden Kommunisten nach dem Tode des sowjetischen Staats- und Parteiführers Josef W. Stalin im März 1953, der meist zunächst eine Liberalisierung auf kulturellem Gebiet folgte. Die politische Verunsicherung wurde von einer Wirtschaftskrise flankiert. Außerdem herrschte in der Tschechoslowakei eine im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten stärker entwickelte demokratische Tradition, die aus den Zeiten der Nationalbewegung und der Ersten Republik stammte. Sie prägte auch einen Teil der Kommunisten, wie der Jurist und Reformkommunist Zdenek Mlynar; in seinem Buch "Nachtfrost" feststellte.
Ursachen für die Krise waren Zweifel der kommunistischen Funktionärsschicht am propagierten Wahrheitsmonopol der Parteiführung. Die tschechoslowakische Führung unter Antonín Novotný (1953–1968) hatte die so genannte Entstalinisierung lange Zeit verzögert, wurde aber durch die politische Initiative der sowjetischen Führung unter Chruschtschow 1961 zum Handeln gezwungen: Eine Reihe von Parteiführern, die sich in den Zeiten der stalinistischen Unterdrückung besonders engagiert hatten, wurde abgelöst. 1963 gelangte dadurch Alexander Dubcek (1921–1992) an die Spitze der slowakischen Parteiorganisation. Ehemals verfolgte Parteifunktionäre wurden rehabilitiert. 1968 stürzte schließlich auch der Erste Sekretär der KPCNovotny, sein Nachfolger wurde der slowakische Parteisekretär Dubcek.
Eine kulturelle Liberalisierung hatte bereits unmittelbar nach 1956 eingesetzt. Die Theater und die Literaturzeitschriften wurden wichtige Orte des "Tauwetters". Dieser Begriff stand symbolisch für die Hoffnung auf einen politischen Frühling. Nach langer Pause entstanden wieder bemerkenswerte Filme, Gedichte und Kunstwerke. Die Abschottung gegen den Westen und die eigenen Traditionen der Zwischenkriegszeit wurde aufgelockert. 1967 forderte der IV. Schriftstellerkongress eine gesellschaftliche Öffnung des Landes.
Die kulturelle Liberalisierung war vor allem für die Entstehung einer von der Politik unabhängigen Öffentlichkeit wichtig und schuf ein gesellschaftliches Klima, in der eigenes Denken möglich wurde und die Hemmschwellen für nichtkonformes Handeln sanken.
Für den Beginn wirklicher Reformen waren die wirtschaftlichen Schwierigkeiten entscheidend. Die sozialistische Tschechoslowakei hatte eine entwickelte Industrie geerbt. Nach 1948 wurde ihr aber ein Wirtschaftsmodell verordnet, das sich durch umfassende Verstaatlichung aller Wirtschaftsprozesse, die Ausschaltung des Marktes sowie eine hohe Zentralisierung und Bürokratisierung der Betriebsleitungen auszeichnete und schlecht zu den entwickelteren Bedingungen der tschechoslowakischen Wirtschaft passte. Anfang der sechziger Jahre sank die Produktion absolut. Es kam zu deutlichen Versorgungslücken und damit zu Druck auf die politische Führung, weil die verbesserte Versorgung der Bevölkerung mit Waren ein zentrales Versprechen ihrer Politik gewesen war.
In dieser Krisensituation begannen die kommunistischen Führer, sich der Kritik einiger Wirtschaftsfachleute zu öffnen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Ökonomen Ota Sik arbeitete ein Konzept für eine "sozialistische Marktwirtschaft" aus, das ab 1966 schrittweise umgesetzt wurde. Den Anfang machte eine Lockerung der zentralen Preisfestsetzung. Dann wurde ein neues System für die Finanzierung der Investitionen eingeführt. Die Planung sollte auf indirektem Weg über Kredite und Steuern erfolgen. Damit wollten die Reformer den differenzierten Interessen innerhalb des Wirtschaftssystems einen größeren Spielraum geben. Die Betriebe sollten mehr Selbstständigkeit erhalten und Erfolg oder Misserfolg ihrer Tätigkeit sollten sich in ihren Gewinnen oder Verlusten und dem Lohn der Beschäftigten deutlich niederschlagen. Auch Privateigentum an kleinen Unternehmen sollte wieder möglich sein.
Die wirtschaftliche Reform wurde von einer politischen Öffnung begleitet: Zunächst erhielten die Gewerkschaften mehr Spielraum, dann folgte eine umfassende Reform der betrieblichen Selbstverwaltung. Im Frühjahr 1968 wurde die Pressezensur abgeschafft, danach begann die Demokratisierung von Partei und Staat, wobei eine – wenn auch begrenzte – Pluralisierung des gesamten politischen Systems intendiert war. Das Ziel der kommunistischen Reformer für die Verbindung von sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokratie war ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz".
Spätestens an diesem Punkt entschlossen sich die Führungen der kommunistischen Nachbarländer, die dem Reformprozess von Anfang an skeptisch gegenübergestanden hatten, zum Eingreifen. Am 20. August 1968, kurz vor Mitternacht, begann der Einmarsch von 30 Divisionen aus fünf Staaten des Warschauer Paktes (UdSSR, Polen, DDR, Ungarn und Bulgarien), um den Reformprozess gewaltsam zu beenden. Die tschechoslowakische Führung wurde nach Moskau gebracht und erklärte sich nach tagelangen Verhandlungen zur Rücknahme der Reformen bereit. Parteichef Alexander Dubcek wurde am 17. April 1970 von Gustáv Husák abgelöst, im Juni 1970 erfolgte sein Parteiausschluss.
"Normalisierung" und "Charta 77"
In der folgenden Zeit der "Normalisierung" wurden viele Anhänger der Reformen mit Berufsverboten belegt, verfolgt und sozial deklassiert. Von der Mehrheit wurde zumindest äußerliche Anpassung verlangt. Als Gegenleistung bot das Regime den Anpassungswilligen einen im Verhältnis zu anderen Staaten des östlichen Europas höheren Lebensstandard. Die Fleischversorgung war – anders als in Polen – gesichert, und auf ein Auto musste nicht wie in der DDR mehr als zehn Jahre gewartet werden.
Dennoch waren nicht alle mit der "Normalisierung" zufrieden. Die Liberalisierung seit Anfang der sechziger Jahre war von vielen begrüßt und genutzt worden. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte im Frühjahr und Sommer 1968 das Gefühl des nationalen Aufbruchs genossen. Dem Enthusiasmus folgte nun tiefe Frustration. Mehr als die einzeln erfahrene Ungerechtigkeit wog vielfach dieser allgemeine Absturz aus nationaler Begeisterung in die Hoffnungslosigkeit.
Der "Prager Frühling" ist heute im Land umstritten. Zum dreißigsten Jahrestag der Ereignisse, der im Sommer 1998 begangen wurde, trat die Militärintervention und der Verrat der kommunistischen Reformer an ihren Idealen nach dem 21. August in den Vordergrund. An einer Mauer der Metrostation "Malá strana" prangte lange die Inschrift "Dubcek – zrádce!" (Verräter!). Wo die einen ein positives Erbe für eine demokratische Entwicklung sehen, können andere nicht mehr als den Kampf zweier kommunistischer Cliquen um die Macht erkennen. Die Schärfe der Auseinandersetzung zeugt von den Schäden, die die Militärintervention und der Abbruch der Reformpolitik in der Bevölkerung des Landes hinterlassen haben.
Auch wenn die meisten der Beteiligten 1968/1969 ein Ziel anstrebten, das heute nicht mehr von der Mehrheit getragen wird, eine "menschliche Form des Sozialismus", so ist das damals gezeigte Engagement dennoch bemerkenswert. Aus internen Unterlagen der Parteiführung geht hervor, dass im Ergebnis der Säuberung zwischen 1969 und 1970 mehr als ein Fünftel (21,7 Prozent) der Mitglieder die Partei verließen, im tschechischen Landesteil waren es sogar 31 Prozent, also mehrere hunderttausend Menschen, unter denen sich ein hoher Anteil von Hoch- und Fachschulabsolventen befand.
Anders als der "Prager Frühling" wird die "Charta 77" dagegen in ihrer politischen Bedeutung heute allgemein anerkannt. Václav Havel, seit 1989 Präsident des Landes, war einer ihrer Initiatoren.
Der Anlass für die Charta war der Prozess gegen Musiker der Rockband "The Plastic People of the Universe" im September 1976. Die Gruppe, die gleich nach der Invasion 1968 gegründet worden war, hatte in den Jahren zuvor mehrere alternative Musikfestivals initiiert. Während einer Veranstaltung im Februar wurden die Musiker inhaftiert und ihre Fans verhört. Gegen den Prozess erhob sich internationaler und tschechischer Protest. Die Solidarität mit diesen Musikern und ihren Fans führte einige Monate später dann zur Gründung der Menschenrechtsinitiative in Prag.
Sie verstand sich als Vertretung der Öffentlichkeit, als eine Bürgerinitiative, und wählte jeweils drei ihrer Unterzeichner zu Sprechern. Die ersten waren Václav Havel, der ehemalige Außenminister Jirí Hájek (1913–1993) und der bekannte Philosoph Jan Patocka (1907–1977). In der Charta arbeiteten frühere Kommunisten wie Jiri Hájek, Zdenek Mlynar; oder Jaroslav Sabata mit Menschen zusammen, die niemals Mitglieder der kommunistischen Partei gewesen waren wie Václav Havel, der Soziologe und Schriftsteller Rudolf Battek oder der Mathematiker und Philosoph Václav Benda. Zur Gruppe zählten sowohl Angehörige verschiedener Glaubensgemeinschaften als auch Atheisten.
Die "Charta 77" begann ihre Tätigkeit mit einer Erklärung am 1. Januar 1977, in der sie sowohl den Beitritt des Landes zu den beiden Erklärungen über Menschenrechte der UNO begrüßte als auch auf die staatlichen Verstöße gegen jene Rechte hinwies. 243 Bürgerinnen und Bürger, bekannte und unbekannte, unterzeichneten die Erklärung, nur einer zog seine Unterschrift später zurück. Schon im Sommer 1977 waren es über 600 und bis Ende Dezember 1989 verdreifachte sich diese Zahl. Die Charta veröffentlichte in den dreizehn Jahren ihrer Existenz 572 Dokumente und Informationen zur Menschenrechtssituation im Lande, zu konkreten Rechtsverstößen staatlicher Organe, über die Lage der Kirchen und Religionsgemeinschaften, über allgemeinere Themen wie den Frieden und den Umweltschutz, über philosophische Fragen und die Geschichtsschreibung. Der Kreis der Unterzeichner diskutierte auch die Beziehungen zu den Deutschen ohne Tabus. Die Charta wurde von Dissidenten aus Ungarn, Polen und der DDR begrüßt, und fand auch in Westeuropa Beifall von Intellektuellen und Politikern.
Der Staat reagierte mit Verleumdung und mit der Mobilisierung einer ihm genehmen Öffentlichkeit – so unterzeichneten bekannte Künstler während einer Versammlung im Nationaltheater eine "Anticharta" – sowie mit Repressalien. Bereits Mitte Januar wurden vier Aktivisten, unter anderem Havel, in Untersuchungshaft genommen. Andere wurden Tag für Tag, teilweise wochenlang verhört. Der Philosoph Jan Patocka starb am 13. März 1977 nach einem elfstündigen Verhör. Weitere Mitglieder der Initiative verloren ihre berufliche Anstellung oder wurden inhaftiert. Allein Havel verbrachte viereinhalb Jahre im Gefängnis.
QuellentextPro und Contra zur Charta 77
Was dürfen wir von der Charta 77 erwarten?
Unter den vielen Fragen, die uns Einheimische wie Fremde stellen [...], gehört die als Titel gewählte zu den brennendsten. [...] Viele Fragesteller gehen sogar soweit zu fragen: Wird die Charta die Lage in unserer Gesellschaft nicht noch schlimmer machen? Wird sie nicht weitere Repressalien auslösen, [...]
Beantworten wir die Fragen ganz offen: Keinerlei Nachgiebigkeit hat bis heute zur Verbesserung der Lage geführt, sondern nur zu ihrer Verschlimmerung. Je größer die Angst und die Servilität, desto frecher waren, sind und werden auch in Zukunft die Mächtigen sein. Es gibt kein anderes Mittel, als sie zu verunsichern. [...]
So stellen wir beispielsweise fest, dass heute die Menschen wieder wissen, dass es Dinge gibt, für die es sich lohnt zu leiden. Dass die Dinge, für die man eventuell leidet, gerade die Dinge sind, für die es sich lohnt zu leben. [...] Das wissen wir heute nicht zuletzt dank der Charta und allem, was mit ihr zusammenhängt. [...]
Jan Partocka, "Was dürfen wir von der Charta 77 erwarten?", in: Hans-Peter Riese (Hg.), Bürgerinitiative für die Menschenrechte, Köln/Frankfurt 1977, S. 305–308. Das Dokument vom 8. März 1977 ist der letzte Text, den der Autor vor seinem Tod am 13. März 1977 geschrieben hat.
Gegenpropaganda in der Rudé Právo vom 12. Januar 1977
"[...] Es handelt sich um eine staatsfeindliche, antisozialistische, volksfeindliche und demagogische Schmähschrift, die dreist und verlogen die Tschechoslowakische Sozialistische Republik und die revolutionären Errungenschaften des Volkes verleumdet. [...]
Die selbsternannten Weltverbesserer, die das Volk verachten, seine Interessen, seine gewählten Vertretungen, maßen sich das Recht an, unser Volk zu repräsentieren, sie verlangen einen Dialog mit der politischen und staatlichen Macht, und sie maßen sich sogar die Rolle eines ,Vermittlers in eventuellen Konfliktsituationen' an. [...]
Im politischen Sinne ist es ein buntes Gemisch menschlichen und politischen Strandguts. Zu ihm gehört V. Havel, ein Mensch aus einer Millionärsfamilie, ein verbissener Antisozialist, P. Kohout, ein treuer Diener des Imperialismus [...] L. Vaculík, Autor des konterrevolutionären Pamphlets ,2000 Worte', [...] J. Patocka, ein reaktionärer Professor, der sich in den Dienst des Antikommunismus gestellt hat [...], und andere, die für ihre konkreten staatsfeindlichen Aktivitäten bereits rechtskräftig verurteilt worden sind [...]."
Eda Kriseová, Václav Havel. Dichter und Präsident, Berlin 1991, S. 133 f.
Die Zeit der "Normalisierung" dauerte fast zwei Jahrzehnte. Im Unterschied zu Ungarn oder Polen regte sich in den achtziger Jahren außerhalb der Opposition kaum Widerstand in der Bevölkerung. Erst als sich im Herbst 1989 in den Nachbarländern zeigte, dass anders als 1968 keine Panzer gegen Demonstranten eingesetzt wurden, schüttelten auch die Tschechen das ungeliebte Regime ab. Aus den Netzwerken, die die Charta bildeten, entstand 1989 das "Bürgerforum" und aus ihm sind die Keimzellen vieler demokratischer Parteien hervorgegangen.