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Auf dem Weg in den Zusammenbruch (1982 bis 1990) | Geschichte der DDR | bpb.de

Geschichte der DDR Editorial Auf dem Weg in die Diktatur (1945 bis 1949) Der Ausbau des neuen Systems (1949 bis 1961) Im Zeichen von Reform und Modernisierung (1961 bis 1971) Der Schein der Normalität (1971 bis 1982) Auf dem Weg in den Zusammenbruch (1982 bis 1990) Literaturhinweise und Internetadressen Autor, Impressum und Anforderungen

Auf dem Weg in den Zusammenbruch (1982 bis 1990)

Andreas Malycha

/ 23 Minuten zu lesen

Anfang der 1980er Jahre ist Honeckers Strategie, über Sozialleistungen die SED-Herrschaft zu stabilisieren, praktisch gescheitert. Die Menschen gehen zu Hunderttausenden auf die Straße. Am 3. Oktober 1990 ist die DDR Geschichte.

Günter Schabowski (© AP)

Der Beginn des Niedergangs

Wachsende Unzufriedenheit

Vor allem in den staatlichen Betrieben wuchs die Unzufriedenheit. Es fehlte an technischen Ausrüstungen, Ersatzteilen und Rohstoffen, sodass sich die Stillstandszeiten der Maschinen häuften. Arbeitsorganisation und Arbeitsdisziplin waren miserabel und die Motivation der Beschäftigten näherte sich dem Nullpunkt. Es kam nun häufiger vor, dass Einkäufe von knappen Konsumgütern während der Arbeitszeit erledigt wurden. Immer öfter musste sich der Parteisekretär im Werk die Frage gefallen lassen­, ob die Parteiführung überhaupt die reale Lage der Arbeiter kenne. Da sich viele Werke, wie zum Beispiel in der Chemieindustrie, in einem beklagenswerten Zustand befanden, häuften sich die Betriebsunfälle und Havarien. Im Chemiekombinat Bitterfeld herrschten Bedingungen, die die Gesundheit der Belegschaft akut gefährdeten. Die unkontrollierte Freisetzung von Schadstoffen und das Ignorieren von Grenzwerten belasteten die Umwelt. Dies führte zur Bildung von unabhängigen Natur- und Umweltschutzgruppen, insbesondere in den südlichen industriellen Ballungsgebieten der DDR.

Hinzu kam der Missmut über das nicht eingelöste Versprechen, im Gleichklang mit der internationalen Anerkennung der DDR die Reisefreiheit auszuweiten. In immer stärkerem Maße forderten DDR-Bürger ihr Recht auf Freizügigkeit, das die DDR-Führung mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 offiziell anerkannt hatte. Es stieg die Zahl derjenigen, die einen "Antrag auf ständige Ausreise" beim DDR-Innenministerium stellten. Hatten 1978 offiziell 11 287 Bürger eine Übersiedlung nach Westdeutschland bzw. West-Berlin beantragt; waren es 1984 schon 36 699. Daran konnten auch die Schikanen staatlicher Instanzen sowie örtlicher SED-Leitungen nichts ändern, die den Alltag vieler Ausreiseantragsteller erschwerten.

Darüber hinaus ließ ein Generationenkonflikt, der sich seit den 1970er Jahren in der DDR herausgebildet hatte, die Loyalität gegenüber dem SED-Staat und damit die innere Stabilität der Gesellschaft schwinden. Hatte die "Aufbaugeneration" noch fabelhafte soziale Aufstiegschancen erhalten, blieb der in der DDR aufgewachsenen Generation der Karriereweg oftmals versperrt. Die soziale Mobilität nahm rapide ab, die freie Berufswahl wurde insbesondere im akademischen Bereich zunehmend eingeschränkt. So wuchs unter den "in die DDR Hineingeborenen" die Unzufriedenheit darüber, dass die "Alten" ihren Lebensentwürfen im Weg standen. Auch aus beruflicher Perspektivlosigkeit entwickelten sich gesellschaftliche Konflikte, die dann im Herbst 1989 offen aufbrachen.

Im letzten Jahrzehnt der DDR waren jedoch nicht Verweigerung, Ausreise oder gar Widerstand die typischen Verhaltensmuster der großen Mehrheit. Insgesamt herrschte eher eine Mischung aus Mitwirkung und Distanz, aus symbolischer Teilnahme und Rückzug in private Nischen, die kleine Freiheiten oder Freiräume erlaubten. Unter den echten und vermeintlichen Zwängen zur Anpassung als Überlebensstrategie äußerte man sich privat anders als öffentlich – in den Parteien, Organisationen, im Kreis der Kollegen im Betrieb. Auf diese Weise entstand ein von Konformität geprägtes, fast kleinbürgerliches Milieu, in dem viele mit einem gewissen Stolz auf das materiell-sozial Erreichte blickten. Zugleich wuchs der Ärger darüber, dass die politische Führung der Bevölkerung noch immer elementare demokratische Grundrechte verweigerte. Wie viele Menschen sich letztlich aus Opportunismus oder Angst vor Repressionen mit den politischen Verhältnissen arrangierten, vermag niemand zu sagen. Man darf allerdings nicht das bis zuletzt aufrecht erhaltene Ausmaß an Repression übersehen, das Partei und Staat zur Verfolgung vermeintlicher oder tatsächlicher Gegner aufbrachten. Daneben gab es aber auch noch immer junge Menschen, die sich durch ihr Elternhaus, die Schule und Jugendorganisationen für die Idee des Sozialismus begeistern ließen. Doch auch ihnen fiel es zunehmend schwerer, ihre ganz persönlichen Erfahrungen im "realen Sozialismus" mit den Idealen einer sozial gerechten Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen.

Wirtschaftlicher Verfall

Die Wirtschaft der DDR stand Anfang der 1980er Jahre vor dem Zusammenbruch. Die Ziele des Fünfjahrplans 1981 bis 1985 konnten die Kombinate und volkseigenen Betriebe nicht erfüllen, sodass sie stillschweigend korrigiert werden mussten. Im Interesse des kurzfristigen Erfolges kürzte die Regierung den materiellen Aufwand und die Investitionen für die Forschung, wodurch die technologische Basis der Industrie immer mehr vernachlässigt wurde. Die steigenden Rohstoffkosten auf dem Weltmarkt mussten mit zusätzlichen Exporten vor allem von Konsumgütern, Maschinen und Ausrüstungen bezahlt werden. Diese wurden unter anderen Markennamen in den Versandhauskatalogen und Kaufhäusern Westdeutschlands zu Billigpreisen angeboten, während die eigene Bevölkerung auf sie verzichten musste.

Weiter verschärft wurde die Wirtschaftskrise durch den Umstand, dass sich die Erdöllieferungen aus der UdSSR, für die Preise unter Weltmarktniveau gezahlt wurden, von 1982 bis 1987 um insgesamt rund 13 Millionen Tonnen verringerten. Dies wirkte sich besonders auf den Export von Erdölprodukten aus, der noch bis Mitte der 1980er Jahre hohe Devisengewinne eingebracht hatte.

Drohende Zahlungsunfähigkeit

Allein innerbetriebliche Improvisationskunst und der westliche Devisentropf vermochten den wirtschaftlichen Verfall halbwegs aufzuhalten. Doch die ständig steigenden Kreditzinsen und Tilgungsraten ließen die Schuldenlast der DDR gegenüber dem Westen bis 1981 auf 23 Milliarden DM der Deutschen Bundesbank anwachsen. 1982 stand die DDR kurz davor, die Zahlungsunfähigkeit zu erklären und damit das Vertrauen des internationalen Geldmarktes zu verlieren. Rettung in der Not brachte 1983 ein Milliardenkredit bundesdeutscher Banken, den der staatliche Devisenbeschaffer und MfS-Offizier Alexander Schalck-Golodkowski mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß eingefädelt hatte.

Die Finanzspritze in Milliardenhöhe rettete zwar die Zahlungsfähigkeit der DDR und sorgte für wirtschaftliche Entspannung. Sie hatte aber auch einen von Strauß geforderten politischen Preis: Im Spätsommer 1983 begann für die Öffentlichkeit überraschend der Abbau der 1972 auf Weisung Honeckers installierten Selbstschussanlagen ("Tötungsautomaten") und der einst auf sowjetische Weisung verlegten Minen an der innerdeutschen Grenze. Ende 1984 waren die Selbstschussanlagen demontiert, Ende 1985 die Minen geräumt. Zugleich versprach die DDR Erleichterungen bei deutsch-deutschen Familienzusammenführungen.

Ost-West-Konfrontation

Im Verhältnis zwischen Washington und Moskau kam es in den 1980er Jahren zu einer drastischen Verschlechterung. Dazu trug der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 maßgeblich bei. Immer mehr trat politische und militärische Konfrontation an die Stelle der Entspannungspolitik. Mit der Stationierung sowjetischer atomarer Raketen mittlerer Reichweite (SS 20) in der DDR und der Tschechoslowakei erreichte der Warschauer Pakt eine militärtechnische Überlegenheit in Europa. Die NATO antwortete mit dem Brüsseler "Nachrüstungsbeschluss" vom Dezember 1979, der 1983 zur Stationierung moderner amerikanischer nuklearer Mittelstreckenraketen (Pershing-II, Cruise Missiles) in Westdeutschland führte. Begleitet wurde die weltpolitische Entwicklung durch krisenhafte wirtschaftliche Erscheinungen auf den Weltmärkten, innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und nicht zuletzt in der Sowjetunion.

Dort litten die Menschen in den 1980er Jahren unter Missernten und großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, nicht zuletzt infolge des Rüstungswettlaufs mit den Vereinigten Staaten, und es war – nicht nur wirtschaftlich-technologische – Stagnation eingetreten, die auch Auswirkungen auf die anderen RGW-Länder hatte. Die Verhältnisse änderten sich auch nicht nach dem Tod des seit 1964 amtierenden Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breschnew, und in den kurzen Amtszeiten seiner Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko. Erst Michail Gorbatschow, der ab 11. März 1985 als Generalsekretär der KPdSU folgte, leitete angesichts der tief greifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise der Sowjetunion mit Glasnost und Perestroika ("Offenheit" und "Umgestaltung") Reformen ein.

Deutsch-deutsche Beziehungen

Im Schatten der deutlichen Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen stand zu Beginn der 1980er Jahre auch das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Ungeachtet ihrer Loyalitätspflichten im jeweiligen Bündnis bemühten sich beide Seiten jedoch, die wechselseitigen Beziehungen nicht zu gefährden, die sie als "Sicherheitspartnerschaft" und "Verantwortungsgemeinschaft" begriffen. Für Honecker waren nicht zuletzt die wirtschaftlichen Verbindungen zur Bundesrepublik wichtig.

Im Dezember 1981 kam es zum mehrfach verschobenen Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der DDR. Am Werbellinsee bei Berlin konnten allerdings nur einige kleinere Verbesserungen im deutsch-deutschen Verhältnis erzielt werden. Bereits 1979 war ein Energieabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterzeichnet worden; in den 1980er Jahren wurde der Kreditrahmen ("Swing") im deutsch-deutschen Handel erweitert. Beim Besuch Honeckers im September 1987 in Bonn wurden drei weitere Abkommen geschlossen. Im Ausland wurde der Empfang Honeckers, den man in Bonn protokollarisch mit anderen ausländischen Gästen gleichen Ranges gleichstellte, als ein Sich-Abfinden mit der staatlichen Teilung verstanden. Staatsrechtlich machte die Bundesrepublik der DDR jedoch keine Zugeständnisse, eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR kam nicht in Frage.

Die Opposition formiert sich

Frieden schaffen ohne Waffen

In den 1980er Jahren führte die zunehmende Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens, vor allem der Jugendlichen und Heranwachsenden, in der DDR zu immer stärkeren Protesten, die hauptsächlich unter dem Dach der evangelischen Kirche organisiert wurden. Angeregt durch die westdeutsche Protestbewegung gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik bildeten sich, angelehnt an Kirchengemeinden, örtliche Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen. Der Ost-Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann initiierte zusammen mit dem Regimekritiker Robert Havemann den Aufruf "Berliner Appell – Frieden schaffen ohne Waffen". Den Slogan "Frieden schaffen ohne Waffen" trugen Jugendliche als Plakette auf ihrer Kleidung genauso wie einen von den evangelischen Kirchen in der DDR offiziell herausgegebenen Aufnäher, der die von der Sowjetunion den Vereinten Nationen geschenkte Plastik "Schwerter zu Pflugscharen" zeigte und auf die entsprechende Bibelstelle verwies. Die Staatsmacht reagierte in der gewohnten Weise: In Schulen, öffentlichen Einrichtungen und auf Straßen und Plätzen wurden Jugendliche zum Teil gewaltsam zum Entfernen dieses Symbols von ihrer Kleidung veranlasst. Im Februar 1982 wurde Eppelmann vorläufig festgenommen.

QuellentextOppositionelle im Schutzraum der Kirche

[...] [I]n den Kirchen waren weder polizeiliche Voranmeldungen nötig noch staatliche Einflußnahmen auf die Inhalte der angebotenen Themen möglich. Wenn Gemeindekirchenrat und Pfarrer ihr Einverständnis erklärten, konnte man kurzfristig Informations-Andachten, Fürbitten oder Mahnwachen ansetzen, denen regelmäßig Zeichen vorausgingen, die Kundige wohl zu deuten wußten. Zuerst traten paarweise sportliche und ordentlich frisierte junge Männer in der Umgebung der betroffenen Gebäude auf. Sie [...] standen betont unauffällig in Hausfluren und musterten aufmerksam die Vorübergehenden oder saßen in Personenkraftwagen [...] und beobachteten das Leben und Treiben auf der Straße. Gelegentlich tauchten Mannschaftswagen mit grün uniformierten Bereitschaftspolizisten und Hunden auf. [...]

Dann näherten sich grüppchenweise oder einzeln die erwarteten "feindlich-negativen Kräfte" und strebten der einladend geöffneten Kirchentür zu. Sie bevorzugten das Sechziger-Jahre-Outfit – lange Haare, Bärte, Nickelbrille, Stirnband, verwaschene Jeans, grüne Kutten, malerische Tücher und Umhängetaschen aus Jute, die Damen in flatterigen langen Kleidern in Schwarz – und pflegten sich zur Begrüßung zu umarmen und flüchtige Küßchen auszutauschen. Die Stasi fasste sie als Jugendliche mit "feindlich-dekadentem Äußeren" zusammen. [...]

Trotz ihres bewusst zur Schau getragenen "Andersseins" konnten die Kirchenbesucher eine gewisse Bravheit kaum verleugnen. [...] Auf den alten Fotos fallen der heilige Ernst und die sanfte Ent- schlossenheit der Kirchenbesucher auf. Es fehlte das Grell-Provozierende der westlichen Demo-Kultur. Niemand randalierte, niemand war "vermummt", kaum jemand trug Schilder, Fahnen oder Symbole vor sich her. [...] Die Veranstaltungsbesucher begegneten den aggressiven Kontrolleuren nach Möglichkeit betont friedlich, ging es ihnen doch um den Abbau von Feindbildern und die Überwindung von Haß [...].

[...] [Das] politische Gewicht, das die Oppositionsgruppen für einen kurzen historischen Moment erlangten, [darf] nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie bis in den Spätsommer 1989 hinein über keinen nennenswerten Anhang verfügten. Sie bewegten sich am Rande des normalen Alltags. Die große Mehrheit der Bevölkerung beachtete ihre Aktivitäten kaum und erfuhr von ihnen nur über die sehr zurückhaltende, distanzierte Berichterstattung der westlichen Medien. [...] Selbst bei großzügigster Rechnung handelte es sich dabei statistisch gesehen um einen zu vernachlässigenden Anteil von weniger als einem halben Promille der hauptstädtischen Gesamtbevölkerung. Zwei oder drei Dutzend Aktivisten trugen die Opposition über Jahre hinweg. Prominente Künstler, Schriftsteller oder Wissenschaftler fehlten [...] gänzlich [...].

[...] Das individuelle Aufbegehren ist inmitten einer Umwelt des alltäglichen Opportunismus der biographische Ausnahmezustand, für den die wenigen Oppositionellen einen ausgesprochen hohen Preis zahlten. Er bestand – jedenfalls für alle außerhalb des kirchlichen Dienstes Beschäftigten – im Verzicht auf bürgerliche Normalität, berufliches Fortkommen, familiäre Unbeschwertheit. Nach der Wende wurden die Folgen dieses Verzichts schmerzhaft deutlich.

Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, 2, durchgesehene Auflage, Berlin 1999, S. 262 f.

Am 20. September 1982 veranstaltete der evangelische Pfarrer Christian Führer in der Nikolaikirche in Leipzig das erste montägliche Friedensgebet, "offen für alle". Die Montagsgebete wurden eine der Keimzellen der friedlichen Revolution von 1989. Allerdings konnten oder wollten sich nicht alle Kirchenleitungen im Interesse ihrer traditionellen Gemeindeglieder und ihrer Beziehungen zum SED-Staat mit den Aktionen der Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen identifizieren. Das führte in den folgenden Jahren zu einer gewissen Emanzipation der aktivsten jungen Regimekritiker von der Kirche. So kam es im März 1986 zur Gründung der "Initiative Frieden und Menschenrechte" durch Bürgerrechtler wie Wolfgang Templin, Bärbel Bohley, Gerd und Ulrike Poppe sowie den Schriftsteller Lutz Rathenow.

Inhaltlich konzentrierten sich die meisten informellen Gruppen der 1980er Jahre auf Themen wie Menschenrechte und Pluralismus oder ließen sich von pazifistischen und ökologischen Ideen leiten. Es waren zunehmend nicht mehr nur kirchliche Kreise, die über Wehrdienstverweigerung und zivilen Friedensdienst, Ächtung von Kriegsspielzeug und die verheerenden Folgen der Umweltverschmutzung laut nachdachten. Die SED-Führung reagierte im Vergleich zu den 1950er Jahren mit subtilen Methoden: Kurzzeitige Verhaftungen, geheimdienstliche Observierungen, langjährige Haftstrafen und der Zwang zur Ausreise in den Westen sollten einschüchtern und psychisch zermürben. Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS wurden benutzt, um die Gruppenzusammenhänge zu schwächen und deren Aktionsfeld einzuschränken. Der geballten Staatsmacht gelang es jedoch nicht, die Formierung der DDR-Opposition zu verhindern.

Reformverweigerung

Als die Pläne des sowjetischen Partei- und Staatschefs Gorbatschow für die Umgestaltung und Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, für Perestroika und Glasnost, in der UdSSR im Januar 1987 in der DDR bekannt wurden, avancierte zum ersten Mal in der Geschichte der DDR ein Generalsekretär der KPdSU zum Hoffnungsträger breiter Kreise der DDR-Bevölkerung und auch vieler SED-Mitglieder. Sie erwarteten, dass die SED-Führung den Reformkurs Gorbatschows unterstützen und mitvollziehen würde. Doch das Politbüro blockte jeglichen Reformansatz vehement ab. In einem Interview mit dem DDR-Korrespondenten des Hamburger Magazins "stern" im April 1987, das vom SED-Zentralorgan nachgedruckt wurde, sagte das Politbüromitglied Kurt Hager: "Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Diese Äußerung verursachte in breiten Kreisen Enttäuschung und Wut.

Ausreisewelle

Während die regimekritischen Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen innerhalb der DDR die Gesellschaft reformieren wollten, sahen nun immer mehr Menschen nur in der Flucht und Übersiedlung in den Westen eine Möglichkeit, ihr Leben frei zu gestalten. Als im Mai 1989 Ungarn überraschend mit dem Abbau der Grenzbefestigungen zu Österreich begann und dies auch über die westlichen Fernsehsender in der DDR bekannt wurde, schwoll der Strom von Fluchtwilligen aus der DDR nach Ungarn an. In der Nacht zum 11. September 1989 öffnete Ungarn die Grenze für DDR-Bürger, und in wenigen Tagen waren bereits 15 000 in Österreich angekommen, die in die Bundesrepublik weiterreisten.

Während die Grenzen Ungarns geöffnet blieben, besetzten Bürger der DDR auch die Botschaft der Bundesrepublik in Prag, um ihre Ausreise zu erzwingen. Bis Ende September stieg die Zahl der Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände auf etwa 6000 Personen. Um Entlastung zu schaffen, ließ Honecker sie am 30. September mit Sonderzügen über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik bringen. In der DDR versuchten Verzweifelte auf die Flüchtlingszüge aufzuspringen, während in Prag Massen neuer DDR-Flüchtlinge in die geräumte Bonner Botschaft strömten. Daraufhin wurde der pass- und visafreie Verkehr zwischen der DDR und der CSSR auf Honeckers Anordnung am 3. Oktober "zeitweilig" ausgesetzt, um die Ausreisewelle zu stoppen. Bei einer von Honecker angewiesenen zweiten Ausreiseaktion kam es am 4. Oktober in Dresden, als Flüchtlingszüge mit rund 10000 Menschen aus Prag den von Sicherheitskräften hermetisch abgeriegelten Hauptbahnhof passierten, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und einer aufgebrachten Menschenmenge, darunter viele Fluchtwillige.

Organisierte Oppositionsbewegung

Im Sommer und Herbst 1989 traten regimekritische Gruppen mit Reformforderungen an die Öffentlichkeit. Ausgangspunkt einer breiten Oppositionsbewegung waren die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989, die unbeeindruckt von den Änderungen der Wahlgesetze in der Sowjetunion, Ungarn und Polen in Form der Einheitswahl, ohne Auswahlmöglichkeiten zwischen mehreren Kandidaten, stattgefunden hatten. Die Wahlergebnisse waren wie schon in den Vorjahren manipuliert worden, doch diesmal hatten Angehörige von Friedens- und Umweltgruppen vielerorts die Auszählung der Ergebnisse in den Wahllokalen beobachtet und erhoben den Vorwurf der "Wahlfälschung". Die anschließenden zahlreichen Proteste und Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden Honecker wurden von breiteren Bevölkerungskreisen bis hinein in die SED unterstützt und trugen dazu bei, die gesellschaftliche Isolation der oppositionellen Gruppen zu überwinden. Mit gestärktem Selbstvertrauen, mit neuen Initiativen und Organisationsformen stellten die Bürgerrechtler die Opposition auf ein breiteres Fundament.

Im Juli 1989 unterzeichneten die Theologen Markus Meckel und Martin Gutzeit den "Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen". Am 7. Oktober gründeten 43 Personen im Pfarrhaus in Schwante (Brandenburg) die "Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP)". Anfang September 1989 wurden alle, "die an einer Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen", aufgerufen, Mitglieder des "Neuen Forums" zu werden. Den Gründungsaufruf unterzeichneten 30 Personen, unter ihnen Bärbel Bohley. In wenigen Tagen schlossen sich 4000 Menschen an. Mitte September 1989 trat als dritte Gruppe die "Bürgerbewegung Demokratie Jetzt" mit der Forderung nach einer friedlichen demokratischen Erneuerung der DDR an die Öffentlichkeit. Anfang Oktober konstituierte sich schließlich trotz massiver Behinderungen durch Polizei- und Staatssicherheitskräfte in Ost-Berlin die Reformbewegung "Demokratischer Aufbruch". Im Zentrum der Forderungen oppositioneller Bewegungen standen die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, politische Reformen und unabhängige Wahlen.

QuellentextDer Gründungsaufruf des Neuen Forums

Anfang September 1989, auf dem Höhepunkt der Ausreisewelle, meldete sich erstmals in der Geschichte der DDR eine politische Opposition offen zu Wort, trat aus dem sowohl schützenden als auch einengenden Bereich der Kirche heraus und bekannte sich unmißverständlich zu ihrer Rolle. An den Schwarzen Brettern vieler Gemeinden hing ein Papier mit der Überschrift "Aufbruch 89 – Neues Forum" und verkündete folgendes:

"In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein. Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit. In Staat und Wirtschaft funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten nur mangelhaft. Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlage ist gehemmt [...] Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen Dialogs über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land nachdenken und miteinander sprechen. Von der Bereitschaft und dem Wollen dazu wird es abhängen, ob wir in absehbarer Zeit Wege aus der gegenwärtigen krisenhaften Situation finden. Es kommt in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an,

  • daß eine größere Anzahl von Menschen am gesellschaftlichen Reformprozeß mitwirkt,

  • daß die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden.

Wir bilden deshalb eine politische Plattform FÜR DIE GANZE DDR, die es den Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählten wir den Namen NEUES FORUM [...] Allen Bestrebungen, denen das NEUE FORUM Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen. Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglied des NEUEN FORUM zu werden. Die Zeit ist reif."

Die insgesamt 30 Unterschriften stammten sowohl von bekannten Oppositionellen als auch von bisher nicht öffentlich hervorgetretenen Personen. Bei der Lektüre des Textes fällt sein hoher Allgemeinheitsgrad auf. Weder enthielt er ein Bekenntnis zum Sozialismus – was Christa Wolf und Stephan Hermlin noch Ende des Monats als Begründung anführten, dem Aufruf nicht beizutreten – noch sprach er sich eindeutig für eine neue soziale Ordnung aus. Er bekannte sich nicht zum Fortbestand der DDR und forderte trotzdem nicht die deutsche Einheit. Alle wichtigen Fragen wollte er im Rahmen eines künftigen gesamtgesellschaftlichen Dialogs beantworten. Genau diese Offenheit verlieh dem Neuen Forum seine enorme Durchschlagskraft. Bei den Erstunterzeichnern klingelten Tag und Nacht die Telefone, immer mehr Menschen solidarisierten sich und überschritten die unsichtbare Grenze zwischen Angst und Engagement, die sie jahrzehntelang sorgfältig beachtet hatten, und mit jeder Unterschrift sank das persönliche Risiko. Es dauerte nicht lange, bis der Aufruf ohne Geheimniskrämerei in Betrieben und wissenschaftlichen Instituten kursierte und an öffentlichen Anschlagsbrettern erschien.

Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur, Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Bonn 1999, S. 310f.

Massenproteste

Die SED-Führung sah sich im Herbst 1989 nicht nur einer zunehmend breiter werdenden oppositionellen Bewegung gegenüber. Vor allem in Leipzig beteiligten sich nach den montäglichen Friedensgebeten in der Nikolaikirche trotz verstärkten Einsatzes von Polizei sowie Angehörigen der Staatssicherheit, trotz Festnahmen und Verurteilungen wegen "Zusammenrottung" immer mehr Menschen an Demonstrationen. Waren es zunächst Hunderte, die Reise-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit forderten, so gingen bald Tausende für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf die Straße. Bereits am 2. Oktober demonstrierten mehr als 20000 in der Leipziger Innenstadt. Am 9. Oktober 1989 waren es trotz angedrohter militärischer Gewalt durch aufmarschierende Sicherheitskräfte 70000 Menschen. Sie skandierten "Wir sind das Volk". Mehr als 120000 Menschen beteiligten sich dann am 16. Oktober in Leipzig an der bis dahin größten Demonstration für Reformen und demokratische Erneuerung in der DDR. Nach Friedensgebeten in den evangelischen Kirchen zogen sie, diesmal unbehelligt durch die Sicherheitskräfte, erstmals auch mit Transparenten und Plakaten in großer Zahl durch die Innenstadt. Auf diesen forderten sie "Freie Wahlen", "Pressefreiheit", "Meinungsfreiheit", "Neue Männer braucht das Land", "Die Mauer muß weg", "Ökologie statt Ökonomie", "Zivildienst ist ein Menschenrecht". Spätestens jetzt hatte begonnen, was als "friedliche Revolution" in der DDR in die Geschichte eingehen sollte.

Das Ende der SED-Herrschaft

Die Absetzung Honeckers

Honeckers Auftritt auf der offiziellen Feier zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR im Berliner "Palast der Republik" am 6. Oktober 1989 zeigte vor allem einen alten Man, der nicht gewillt war, Veränderungen in Staat und Gesellschaft zuzulassen. Angesichts dieses Starrsinns und um die Macht der SED zu retten, zwang eine Mehrheit von Mitgliedern des SED-Politbüros Honecker, am 18. Oktober 1989 vor einem eilig einberufenen ZK-Plenum aus "gesundheitlichen Gründen" seinen Rücktritt zu erklären. Anschließend wählte das Zentralkomitee der Partei Egon Krenz zum neuen Parteichef. Er war seit 1983 Mitglied des Politbüros und galt als Kronprinz Honeckers. Am 24. Oktober 1989 wählte ihn die Volkskammer zum Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR.

Der Nachfolger Honeckers gab zwar mit seinem Begriff von der "Wende" zu verstehen, dass sich die SED-Führung nun um Kurskorrekturen bemühen würde. Eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft und Reformen in Politik und Staat standen jedoch nicht auf der politischen Agenda. Die Menschen auf den Straßen der DDR aber forderten einen sofortigen und deutlichen Bruch mit der bisherigen Politik und denen, die für sie verantwortlich waren. So wurde die SED-Führung von den Ereignissen, die von einer breiten Bevölkerungsmehrheit bestimmt wurden, überrollt. Denn zur gleichen Zeit gingen die Demonstrationen im ganzen Land weiter, erfassten neben den Bezirks- und Großstädten auch Mittel- und Kleinstädte und nahmen an Teilnehmerzahlen und Intensität zu. An manchen Tagen demonstrierten in der gesamten DDR mehrere hunderttausend Menschen. Die meisten Teilnehmer verzeichneten die Montagsdemonstrationen in Leipzig, wo sich am 30. Oktober wieder rund 200000 beteiligten.

Öffnung der Grenze

Währenddessen hielt die Massenabwanderung von DDR-Bürgern weiter an. Nachdem die DDR den pass- und visafreien Verkehr mit der CSSR am 1. November wieder zugelassen hatte, setzte erneut der Ansturm von Ausreisewilligen auf die Bonner Botschaft in Prag ein. Am 3. November öffnete die CSSR ihre Grenze zur Bundesrepublik für DDR-Bürger, woraufhin allein vom 4. bis zum 6. November mehr als 23 500 Menschen die DDR über die CSSR verließen. Unter dem Druck der Ereignisse legte die Regierung der DDR am 9. November 1989 eine vorgezogene Ausreiseregelung vor, die bis zum Inkrafttreten eines neuen Reisegesetzes gelten sollte. Diese "zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR in das Ausland" bedeutete faktisch die Einführung der allgemeinen Reisefreiheit, die zuvor auf den Massendemonstrationen gefordert worden war. Als das Politbüromitglied Günter Schabowski dies während einer Pressekonferenz am frühen Abend des 9. November bekannt gegeben hatte, strömten hunderttausende Menschen noch in der Nacht zum 10. November über die offiziellen Grenzübergangsstellen in die Bundesrepublik und nach West-Berlin. Die Bilder der tanzenden Menschen auf der Berliner Mauer wurden im Ausland nicht nur als Ausdruck für den starken Veränderungswillen der Ostdeutschen wahrgenommen, sondern auch als Symbol für den Zusammenbruch des Sozialismus und das Ende des Kalten Krieges.

Quellentext9. November 1989: Tanz auf der Mauer

Der Werkzeugmacher Ralf Dickel, 34, aus dem Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg ist einer der ersten, die an jenem Donnerstag abend durch die Mauer kommen. Zuerst sehen wir nur seinen Kopf, den er neugierig um die Beton-Mauer reckt – wie jemand, der einen scheuen Blick in ein verbotenes Zimmer riskiert. Dann geht er zögernd ein paar Schritte weiter und schaut sich verstohlen um, als ob er fürchtet, doch noch an seinem grünen Parka zurückgehalten zu werden. Schließlich ist er da.

Am Grenzübergang Bornholmer Straße klatschen jetzt ein paar hundert West-Berliner Beifall, rufen, pfeifen und lassen Sektkorken knallen. Es ist genau 20.45 Uhr, Ralf Dickel reißt die Arme hoch und schreit: "Wahnsinn!"

Ein Wort, das in den nächsten Tagen millionenfach wiederholt werden wird: geflüstert, gestöhnt, gebrüllt, gesungen, geheult. Ein Wort, das wie kein anderes die neue Situation in Berlin und bald auch überall an der deutschen Grenze beschreibt: Fassungslosigkeit, Überraschung, Ungläubigkeit, Glück.

Als die Regierung der DDR die Grenzübergänge öffnet und Tag für Tag und Nacht für Nacht neue Breschen in den Beton der Berliner Mauer schlägt, taumelt die Stadt wie im Fieber. Am Kurfürstendamm liegen sich wildfremde Menschen weinend in den Armen, klatschen unzählige Hände auf die Dächer und Kühlerhauben der Trabants und Wartburgs, die mühsam durch die Spaliere der Schaulustigen kriechen.

Rund um die Gedächtniskirche steigt ein gigantisches Open-air-Spektakel, das rund um die Uhr von Zehntausenden Berlinern aus beiden Teilen der ehemaligen Reichshauptstadt gefeiert wird – mit Freibier und Erbsensuppe, mit Konfetti und Blumen. [...]
[Z]wischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz [...] Menschen stehen dicht an dicht, mit erhobenen Armen, die Finger zum Victoryzeichen gespreizt. Sie sitzen in den Bäumen, tanzen auf der hier zwei Meter breiten Mauerkrone und singen "We shall overcome".

Hunderte machen sich mit Hämmern und Meißeln am Betonwall zu schaffen, biedere Familienväter aus Castrop-Rauxel und Günzburg, aufgeregte Hausfrauen aus Uelzen und Wanne-Eickel, die sich bei der brisanten Werkelei von ihrem halbwüchsigen Anhang ablichten lassen. Immer wieder wird skandiert: "Die Mauer muß weg."

Überflüssig ist sie jetzt ohnehin geworden. Von Donnerstag nacht bis Sonntag abend strömen weit über zwei Millionen DDR-Bürger in den Westteil der Stadt – um den Ansturm zu bewältigen, schlägt der SED-Staat zehn neue Übergänge in die Mauer. Die Besucher aus dem Osten haben das West-Berliner Stadtbild verändert: [...]

Aufregend sind jetzt [...] die Spaziergänge durch West-Berlin geworden. Der Dokumentarfilmer Carsten Krüger, 36, war tagelang mit mehreren Teams unterwegs und staunte: "Komisch, auf der Straße schauen sich die Leute wieder an." Das hat meist nur einen Grund: Man will herausfinden, wer hier Osti ist und wer nicht. [...]

Trotz der vielfältigen Behinderungen – total überfüllte U- und S-Bahn-Stationen, die vorübergehend geschlossen werden müssen, Lebensmittelgeschäfte, in denen kein Einkauf mehr möglich ist, für den Verkehr gesperrte Straßen und Plätze – behalten die West-Berliner ihre Ruhe. Der Regierende Bürgermeister Walter Momper, der mehr als die meisten anderen Politiker Fingerspitzengefühl und Gelassenheit beweist, bringt es auf den Punkt: "Das kriegen wir schon hin." [...]

Werner Lähme, 48, aus der Ost-Berliner Mellenseestraße hat vor so viel Entgegenkommen Respekt: "Ich staune, daß die West-Berliner das alles so verarbeiten können – wir wären damit wohl überfordert gewesen." Den Schlosser Heiko Spärling, 22, aus Neustrelitz treffen wir in der Einkaufsmeile Tauentzien. "Schön", sagt er, "daß nach so vielen Jahren Mauer noch so viel Zusammengehörigkeitsgefühl da ist."

Werner Mathes / Tilman Müller, Stern extra, Hamburg, Nr. 3/1989.
In: Gisela Helwig (Hg.), Die letzten Jahre der DDR – Texte zum Alltagsleben, Köln 1990, S. 135ff.

Die Regierung Modrow

Bereits zwei Tage zuvor, am 7. November 1989, war der damals aus 44 Mitgliedern bestehende Ministerrat unter seinem Vorsitzenden Willi Stoph geschlossen zurückgetreten, blieb aber bis zur Wahl einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt. Die Volkskammer bestimmte am 13. November Hans Modrow zum Vorsitzenden des Ministerrates und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. Modrow, der bisher SED-Bezirkssekretär in Dresden gewesen war, galt als Reformer und Anhänger der Politik Gorbatschows. Kurz darauf gab Ministerpräsident Modrow seine Regierungserklärung ab und stellte seine Regierung vor. Dem neuen, erheblich verkleinerten Ministerrat gehörten jetzt 28 Mitglieder an. Die vier Koalitionspartner der SED – CDU, LDPD, NDPD, DBD – stellten zusammen elf Mitglieder. In seiner Regierungserklärung am 17. November versprach Modrow eine Wirtschafts-, Bildungs- und Verwaltungsreform sowie ein langfristig angelegtes Programm mit dem Ziel, Ökonomie und Ökologie in Übereinstimmung zu bringen.

Mit der Bildung der Regierung Modrow verlagerte sich die Macht in der DDR von der SED auf die Regierung, die sich jetzt nur noch der Volkskammer verantwortlich fühlte. Am 1. Dezember 1989 änderte die Volkskammer die Verfassung und strich den Passus über die führende Rolle der SED. Die Volkskammer war jedoch noch immer kein vom "Volk" frei gewähltes Parlament, sondern eine nach dem Willen der SED zusammengesetzte und nach einer von ihr inspirierten Einheitsliste beschickte Kammer. Umso mehr drängten die Menschen auf freie Wahlen.

Der Zerfall der SED

Im Herbst 1989 befand sich die SED selbst in einem rasanten Zerfallsprozess. Hatten der Partei noch Anfang des Jahres fast 2,3 Millionen Mitglieder angehört, häuften sich seit Oktober 1989 die Austritte: bis Ende Januar 1990 kehrten 907 480 Mitglieder und Kandidaten der Partei den Rücken. Am 3. Dezember traten Generalsekretär Krenz, das Politbüro und danach auch das Zentralkomitee geschlossen zurück. Am 6. Dezember erklärte Egon Krenz seinen Rücktritt als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates. Bei der Bevölkerung galt er als Vertreter der verhassten alten politischen Elite. Sein Nachfolger im Staatsrat wurde der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach. Wenige Tage zuvor waren die Blockparteien aus dem "Demokratischen Block" ausgetreten, in dem sie über vier Jahrzehnte hinweg nahezu bedingungslos der SED gefolgt waren.

Die SED-Parteibasis traute Krenz auch nicht zu, die SED zu retten. Als zeitweilige Parteiführung wurde ein aus 25 Mitgliedern bestehender Arbeitsausschuss gebildet, der einen von der Basis geforderten außerordentlichen Parteitag vorbereiten sollte. Dieser fand schließlich in zwei Abschnitten am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin statt. Nachdem Regierungschef Modrow sich auf dem Parteitag strikt gegen eine von vielen Delegierten geforderte Auflösung der Partei gewandt hatte, entschied sich eine große Mehrheit für die Weiterexistenz. Parteivorsitzender wurde mit 95,3 Prozent der Stimmen der Rechtsanwalt Gregor Gysi. In einer außenpolitischen Entschließung sprach sich der Parteitag für eine "souveräne sozialistische DDR" aus. Die Partei strebe eine "Vertragsgemeinschaft" mit der Bundesrepublik an und sei offen für die Idee konföderativer Strukturen. Schließlich wurde die Umbenennung der Partei in "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands / Partei des demokratischen Sozialismus (SED/PDS)" beschlossen. Seit Januar 1990 trat die Partei dann nur noch als "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) in Erscheinung.

Die Auseinandersetzung mit dem weltanschaulichen Erbe blieb eine Aufgabe, mit der sich die Partei noch auf Jahre hinaus beschäftigen musste, ohne sie jedoch zu bewältigen. Trotz heftiger innerparteilicher Diskussionen gelang es nicht, das Verhältnis zur alten SED hinsichtlich der Ideologie und des Personals gründlich und konsequent zu klären. Hartnäckig klammerte sich auch die neue Führung an ihr unrechtmäßig erworbenes Parteivermögen, mit dem sie die materielle Existenz der Partei sichern wollte. Erst im August 1998 konnte eine unabhängige Kommission ihren Abschlussbericht vorlegen, in dem sie die Höhe des sichergestellten ehemaligen SED-Vermögens mit 2,014 Milliarden DM bezifferte. Das von der Nachfolgerin der Treuhandanstalt, der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS), verwaltete Altvermögen der SED hatte aus Barmitteln und zahlreichen Immobilien bestanden. Es konnte nun nach den Bestimmungen des Einigungsvertrages an die neuen Länder und Berlin ausgezahlt werden, soweit es nicht an früher Berechtigte zurückzugeben war.

Runder Tisch

Da bis zum Dezember 1989 die alten politischen Strukturen fortbestanden, mussten auf dem Weg zur Demokratie in der DDR neue Wege beschritten werden. Auf Einladung der Kirchen trat deshalb am 7. Dezember der paritätisch besetzte "Zentrale Runde Tisch" im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin-Mitte zu seiner ersten Tagung zusammen. Unter der Gesprächsleitung von Kirchenvertretern trafen sich hier in den folgenden Monaten Vertreter von SED/PDS und der nach Eigenständigkeit strebenden Blockparteien mit Abgesandten der neu entstandenen oppositionellen Bürgerbewegungen. Es ging um einen grundsätzlichen Meinungsaustausch über die Situation in der DDR und Schritte zur Überwindung der Krise. Obwohl der "Runde Tisch" keine parlamentarische oder Regierungsfunktion ausüben konnte, existierte damit eine zweite quasi-parlamentarische Institution, die vor wichtigen Entscheidungen der Volkskammer mit eigenen Vorschlägen einbezogen wurde. Bereits auf der ersten Tagung sprachen sich die Teilnehmer für den 6. Mai 1990 als Termin für die ersten freien Wahlen in der DDR und für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung aus. Der im März 1990 vom "Runden Tisch" vorgelegte Entwurf einer neuen Verfassung spielte allerdings auf dem Weg zur deutschen Einheit keine Rolle mehr.

Von der friedlichen Revolution zur deutschen Einheit

Außenpolitische Rahmenbedingungen

Bereits zum Jahresende 1989 wurden die ersten Weichen gestellt, um die staatliche Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Am 28. November hatte Bundeskanzler Helmut Kohl ein Zehnpunkteprogramm verkündet, das als Ziel der Politik der Bundesregierung die staatliche Einheit in konföderativen Strukturen nannte. Am 1. Februar 1990 legte Regierungschef Modrow auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin sein Konzept "Deutschland, einig Vaterland" vor. Eine endgültige Lösung der deutschen Frage könne nur in freier Selbstbestimmung der Deutschen in beiden Staaten erreicht werden, in Zusammenarbeit mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und unter Berücksichtigung der Interessen aller europäischen Staaten. Fraglich war indes, wie die Sowjetunion und das westliche Bündnis auf die deutschlandpolitischen Initiativen reagieren würden.

Modrow hatte sich Ende Januar 1990 in Moskau vom sowjetischen Staats- und Parteichef Gorbatschow das Einverständnis zu seinem Plan einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten geholt. Am 10. Februar erhielten auch Bundeskanzler Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei einem Besuch in Moskau das Einverständnis der UdSSR. Im Kreml war man zu der Einsicht gekommen, dass die Wiedervereinigung Deutschlands unvermeidlich sei. Im Gegenzug sicherte die Bundesrepublik dem ökonomisch schwer angeschlagenen Riesenreich Wirtschaftshilfe in erheblicher Größenordnung zu. Dementsprechend sah Bonn von nun an keinen Anlass mehr, der Regierung Modrow mit einer Milliardenhilfe unter die Arme zu greifen. Ein entsprechender Wunsch, der aus anhaltender finanzieller Zwangslage und drohender Zahlungsunfähigkeit der DDR resultierte, wurde auf dem deutsch-deutschen Gipfel am 13./14. Februar 1990 zurückgewiesen.

Auf der Seite des Westens befürworteten zunächst nur die USA die Vereinigungspläne, während Frankreich und Großbritannien sich gegen eine Veränderung des Status quo in Europa sträubten. Sie befürchteten, eine künftige Dominanz des wiedervereinigten Deutschlands könnte das europäische Gleichgewicht stören. Doch Ende Februar 1990 hatten auch London und Paris erkannt, dass der innere Einigungsprozess Deutschlands nicht aufzuhalten war , verlangten aber die Einbindung des vereinigten Deutschlands in die NATO, um ihren sicherheitspolitischen Interessen zu entsprechen. Während seiner Gespräche mit Bundeskanzler Kohl am 15. und 16. Juli 1990 in Moskau und in seinem Jagdhaus im Kaukasus gab Gorbatschow schließlich sein Einverständnis zur Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands im westlichen Militärbündnis. Damit war der Weg frei für die sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zwischen den westlichen Bündnispartnern, der Sowjetunion und den Regierungschefs der DDR und der Bundesrepublik, in denen die konkreten Modalitäten der deutschen Einheit vereinbart wurden.

Die Volkskammerwahlen am 18. März 1990

Der Wahlkampf zu den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 machte die ungebremste Sogkraft der Bundesrepublik sichtbar. Die Stimmung in der Bevölkerung sprach inzwischen gegen eine reformierte DDR und für eine rasche Vereinigung mit dem westlichen Nachbarn. Deutlich wurde dies im Wandel der Losungen: Aus "Wir sind das Volk" wurde "Wir sind ein Volk". Die SPD, der Bund Freier Demokraten und vor allem das Wahlbündnis "Allianz für Deutschland", in dem sich die CDU mit der Deutschen Sozialen Union (DSU) und der Partei "Demokratischer Aufbruch" zusammengefunden hatte, konnten sich auf massive Wahlhilfe ihrer Partner in der Bundesrepublik stützen. So beherrschte die westliche Parteiprominenz weithin den Wahlkampf in der DDR.

Die Volkskammer-Wahlen 1990.

Die ersten freien Wahlen seit 1946 gewann das konservative Bündnis "Allianz für Deutschland" mit 47,8 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung erreichte mit 93,4 Prozent eine später nie wieder erzielte Höhe. Die SPD kam auf knappe 22 Prozent – ein Ergebnis, das weit unter ihren Erwartungen lag. Die PDS erreichte als drittstärkste politische Kraft 16,3 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Die Liberalen erzielten etwas mehr als fünf Prozent. Enttäuschend war das Ergebnis für die Bürgerbewegungen "Neues Forum", "Initiative Frieden und Menschenrechte" und "Demokratie Jetzt", die sich im "Bündnis 90" zusammengeschlossen hatten: Sie kamen auf nur 2,9 Prozent. In der programmatisch vielschichtigen Bürgerbewegung glaubten nicht wenige noch immer an die Reformierbarkeit der DDR, was in der Bevölkerung allerdings nicht mehr populär war. Zudem waren sie im Wahlkampf beträchtlich benachteiligt, da ihnen im Unterschied zu den großen Parteien kein funktionierender Apparat (Presse, Gebäude, Druckereien) zur Verfügung stand. Die Parteien der "Allianz für Deutschland", die SPD und der Bund Freier Demokraten bildeten eine Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU).

Währungs- und Wirtschaftsunion

Das Ergebnis der Volkskammerwahlen war ein eindeutiges Votum für die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik. Die meisten politischen Gruppierungen waren auf den Einheitszug aufgesprungen. Kontrovers diskutiert wurden nur noch das Tempo der staatlichen Vereinigung und die Vorgehensweise. Die ungebremste Westwanderung verschärfte die Wirtschaftskrise in der DDR und diktierte das Tempo. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990, mit der die D-Mark im Osten Einzug hielt, galt in der Bevölkerung als ein erster Schritt hin zur deutschen Einheit. Am 18. Mai 1990 unterzeichneten die beiden deutschen Finanzminister einen Staatsvertrag, mit dem die Löhne und Gehälter im Kurs von 1:1 umgestellt wurden. Sparguthaben konnten gestaffelt bis zu einem Betrag von 2000 bis 6000 Mark in DM umgetauscht werden, darüber hinaus galt ein Umrechnungskurs von 2:1.

Der Abschluss von Staatsverträgen

Als am 6. Juli 1990 die Verhandlungen über den Einigungsvertrag begannen, ging es um Einzelheiten des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Die staatliche Vereinigung nach Artikel 146 GG fand in der DDR-Regierung, vor allem aber in der Bundesregierung keine Zustimmung, weil sie das Bonner Grundgesetz ungültig und somit die Ausarbeitung einer neuen Verfassung notwendig gemacht hätte. Für eine langwierige Verfassungsdebatte fehlte jedoch die Zeit. Zudem entschieden über die Bedingungen der deutschen Vereinigung nicht allein die DDR und die Bundesrepublik. Nicht nur aus Paris und London, vor allem aus Warschau kam die Forderung, dass ein vereintes Deutschland die bestehenden Grenzen in Europa anerkennen müsse. Das betraf insbesondere die Grenze zu Polen. Der Bundestag und die Volkskammer sicherten daher am 21. Juni 1990 in einer Entschließung die "Unverletzlichkeit" der polnischen Westgrenze, also der in Westdeutschland jahrzehntelang umstrittenen Oder-Neiße-Grenze, sowie die Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität des östlichen Nachbarn uneingeschränkt zu.

Dieser Schritt machte nun endgültig den Weg für die internationale Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands frei. Nachdem die UdSSR der Zugehörigkeit des vereinigten Deutschlands zur NATO zugestimmt hatte, unterzeichneten Vertreter der DDR, der Bundesrepublik sowie Frankreichs, der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und der Sowjetunion am 12. September 1990 den Zwei-plus-Vier-Vertrag. Dieser Staatsvertrag beendete die Viermächte-Verantwortung in Bezug auf Berlin und "Deutschland als Ganzes", das vereinigte Deutschland erhielt seine staatliche Souveränität zurück. Im Zwei-Plus-Vier-Vertrag wurde darüber hinaus vereinbart, die Truppenstärke der deutschen Streitkräfte von 500000 auf 370000 Mann zu reduzieren und dauerhaft zu beschränken. Zudem verzichtete Deutschland auf die Herstellung, den Besitz von und die Verfügung über ABC-Waffen. Die Sowjetunion sicherte zu, ihre Truppen vom Gebiet der ehemaligen DDR bis spätestens 1994 abzuziehen, am 31. August 1994 verließen ihre letzten Militäreinheiten den Ostteil Deutschlands. Damit endete die seit 1945 währende sowjetische Militärpräsenz auf deutschem Boden.

In den deutsch-deutschen Verhandlungen ging alles ebenfalls sehr schnell. Am 31. August unterzeichneten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Staatssekretär Günther Krause den in nur acht Wochen ausgehandelten Einigungsvertrag, der die konkreten Bedingungen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik regelte: Änderungen im Grundgesetz, Fragen der Rechtsangleichung in Ostdeutschland, der öffentlichen Verwaltung und des ostdeutschen Staatsvermögens sowie verschiedene Aspekte der Bereiche Arbeit, Soziales, Frauen und Kultur. Strittige Fragen wie etwa die Forderungen nach einer Verfassungsdiskussion, des künftigen Regierungssitzes des vereinten Deutschlands oder einer einheitlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs wurden vertagt. Zudem wurde das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" vereinbart, mit dem die Enteignungen in der DDR nach 1949 rückgängig gemacht werden sollten. Hierfür mussten allerdings in einem komplizierten Prozess Vermögensfragen geklärt werden. Im Vorfeld des Einigungsvertrages hatte die Volkskammer bereits am 17. Juni das Treuhandgesetz verabschiedet. Die daraufhin eingerichtete Behörde, die der Aufsicht des Ministerpräsidenten unterstellt war, hatte den Auftrag, die in Staatshand befindlichen Betriebe, Grundstücke und Immobilien so rasch wie möglich in private Hand zu überführen. Am 20. September stimmten die beiden deutschen Parlamente dem Staatsvertrag mit großer Mehrheit zu.

Die deutsche Einheit

Noch vor der staatlichen Einheit hatten sich die DDR-Liberalen Mitte August mit der westdeutschen FDP vereinigt. Ende September vereinten sich die Sozialdemokraten und am 1. Oktober schlossen sich der "Demokratische Aufbruch" und die Bauernpartei der CDU an. Die Partei "Die Grünen" und das "Bündnis 90" einigten sich auf eine Zusammenarbeit bei der gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Verschiedene linke Gruppierungen verbanden sich mit der PDS.

Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes bei. Damit hörte die DDR auf, als Staat zu existieren. Mit der staatlichen Einheit wurden für alle Bürgerinnen und Bürgern der neuen Bundesländer jene Forderungen erfüllt, mit denen die Menschen im Herbst 1989 auf die Straße gegangen waren: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Erfahrung, mit friedlichen Massenprotesten, politischer Courage und gesellschaftlichem Reformwillen die kommunistische Diktatur im Osten zu Fall gebracht zu haben, wirkt bis heute.

QuellentextEltern und Großeltern erinnern sich

[...] Eine Projektwoche liegt vor ihnen: "Schild und Schwert der Partei". Gemeinsam mit einer Lehrerin, mit Johannes Beleites, Studienleiter der Evangelischen Akademie Thüringen, und mit Matthias Wanitschke, Mitarbeiter der Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, werden sich [25 Zehntklässler einer Regelschule aus einem kleinen Ort in Thüringen] über fünf Tage das Wirken der Stasi und die Mechanismen der SED-Diktatur erarbeiten.

Die Schüler, 15 oder 16 Jahre alt, [...] haben mit Menschen, die in der DDR gelebt haben, über die Erfahrungen mit dem MfS, der NVA und der Volkspolizei gesprochen. Die Jungen und Mädchen sollen jetzt ihre Interviewergebnisse vortragen. Die meisten haben ihre Großeltern und Eltern befragt. Ein Mädchen sagt, die DDR sei keine Diktatur gewesen: "Heute wird einem auch gesagt, was man machen muss."

Die meisten berichten aber, ihnen sei zu Hause geantwortet worden, die DDR sei "wohl mehr oder weniger eine Diktatur" gewesen. Allerdings kommt ihnen der Satz eher pflichtschuldig über die Lippen [...]. Die Schüler machen die verhaltene Kritik an der DDR aber sogleich wett: Die Kindheit dort, so hätten die daheim Befragten berichtet, sei doch schön gewesen, mit Schulspeisung, genug Kindergarten- und Arbeitsplätzen und dem guten Kinderprogramm des Fernsehens. Alles sei bestens organisiert gewesen. Weder die Reisefreiheit noch das Westfernsehen hätten ihnen gefehlt. Die Mutter sei gern zu den jungen Pionieren gegangen oder habe heute noch Freundinnen aus der FDJ. Von der Stasi hätten nur Einzelne etwas bemerkt.

Auch wenn die befragten Verwandten den Grenztruppen angehörten, und das waren nicht wenige, hatten sie angeblich keinen Kontakt zur Staatssicherheit. Die ehemaligen Angehörigen der "bewaffneten Organe" lobten ihren Kindern und Enkeln gegenüber die Solidarität und Kameradschaft in der Truppe. [...] Man habe zwar gewusst, dass man bespitzelt wird, aber man habe sich sicher und beschützt gefühlt. Konflikte mit dem SED-Staat waren offenbar die Ausnahme.

[...] Der Vater eines Jungen empfand die Schulungen des MfS während seines Militärdienstes als "schlecht". Wer bei der NVA seine Meinung sagte, habe 50 Mal den Fahneneid schreiben müssen. Das MfS habe ein Feindbild von den Verwandten im Westen vermittelt. [...]
Julia erzählt von ihrem Vater, der nicht zur Wahl gehen wollte. Daraufhin sei der Bürgermeister zu ihnen ins Haus gekommen, aber der Vater sei trotzdem nicht gegangen. Alex' Mutter hatte Respekt vor der Volkspolizei und der Stasi. Die seien immer und überall gewesen, und immer habe die Mutter Angst gehabt. Schon als Kind habe sie zu Hause gelernt, nichts gegen den Staat zu sagen und in der Schule nicht preiszugeben, dass sie zu Hause West-Fernsehen schauten.
Die Lehrerin offenbart den Schülern: "Ich habe eine Akte." Die Stasi beschattete sie beim Treffen mit West-Verwandtschaft am Hermsdorfer Autobahnkreuz und bescheinigte ihr, dass sie nicht zum Propagieren des Marxismus-Leninismus befähigt sei. [...]

Unter Anleitung der Tutoren nähern sich die Schüler der Frage, was die Stasi gewesen ist, und die Jungen, die am Morgen noch schüchtern waren, tauen auf. Die SED habe die Stasi gegründet, um ihre Macht zu sichern, sagt Toni. Philipp sagt, ohne Stasi hätte es Chaos gegeben, und Steven sagt, es wäre "nicht so geordnet gewesen, sondern es hätte Aufstände gegeben wie heute in Afrika". Christopher beschreibt, dass es in der DDR keine Gewaltenteilung gab, denn die Stasi habe im Gegensatz zu heutigen Geheimdiensten ermittelt, verhaftet und die Menschen eingesperrt [...].

Die andere Gruppe befasst sich [...] mit der Frage nach Tätern und Opfern in der DDR. Die Schüler haben einen Beitrag von Bummi, dem Bären, gelesen, in dem die SED als die große Familie gepriesen wird. Bummi ist eine Erfindung des Zentralrats der FDJ und bis heute der Titelheld einer Kinderzeitschrift. Bummi hat im Internet eine Fangemeinde, die sich zur Kindheit und Geborgenheit in der DDR bekennt. Auch alle Zehntklässler kennen den gelben Bären. Als Kontrast haben sie einen Text über die "Politisch ideologische Diversion" (PiD) gelesen, für deren Bekämpfung die Hauptabteilung XX des MfS zuständig war. Als PiD galt jede von der Linie der SED abweichende Einflussnahme auf die Meinungsbildung. [...]

Am zweiten Tag, dem Dienstag, arbeiten sich die Zehntklässler durch das Erfurter Archiv der Stasiunterlagenbehörde. Auf 1,4 Millionen Karteikarten wurden dort während 40 Jahren Sozialismus die Daten von 2,5 Millionen Menschen allein aus dem kleinen Bezirk Erfurt festgehalten. Die Schüler bereiten die Gespräche mit zwei Zeitzeugen vor. Michael Schlosser, ein damals 38 Jahre alter Kraftfahrzeugschlosser und Fuhrparkleiter des Fernsehstudios Dresden, ist 1983 von der Staatssicherheit verhaftet worden. Er erhielt vier Jahre und sechs Monate Haft wegen versuchter Republikflucht. Grit Angermann war im selben Jahr 18 Jahre alt, als sie Losungen wie "Neue Männer braucht das Land" oder "Anarchie" in Weimar auf Wände malte. Sie wurde zu sechs Monaten Haft wegen Rowdytums verurteilt. Sie gelangte sechs Wochen nach ihrer Haftentlassung in den Westen nach Kassel. Schlosser wurde freigekauft und zog nach Alzey. Die Schüler studieren die Akten und bereiten Fragen an die Zeitzeugen vor. Schlosser kommt am Mittwoch, Grit Angermann am Donnerstag. [...]

Am Freitag schließlich spielen die Schüler Szenen aus dem Alltag der DDR nach, in denen sie das, was sie sich die Woche über erarbeitet haben, noch einmal erleben. In der Schlussrunde am Ende der Woche sind die Schüler erstaunt, wie viel sie über die DDR und die Stasi als "Schild und Schwert der Partei" erfahren haben.

Claus Peter Müller, "Diktatur mit schöner Kindheit", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. März 2011

Am 14. Oktober 1990 fanden in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen statt. Nach der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990, aus der die CDU als stärkste Partei hervorging, wurde Helmut Kohl zum ersten Bundeskanzler des vereinten Deutschland gewählt.

Der mit der Einheit Deutschlands verbundene gesellschaftliche Umbruch veränderte die Lebenswelten der Ostdeutschen dramatisch. Für viele Menschen eröffneten sich dadurch neue Möglichkeiten der beruflichen und privaten Selbstentfaltung. Politische Gängelung, Gesinnungsterror und die Angst vor politischer Repression gehörten der Vergangenheit an. Der Einzug der westdeutschen Konsumwelt beendete auch die ostdeutsche Mangelwirtschaft. Doch zugeich mussten auch die Konsequenzen der Marktwirtschaft bewältigt werden, die insbesondere viele Arbeiter in den bislang staatlichen Betrieben überraschten. Millionen Beschäftigte in Wirtschaft und Verwaltung wurden arbeitslos, weil die privatisierten Betriebe den Übergang zur Marktwirtschaft nicht schafften oder große Staatsbetriebe geschlossen wurden.

Quellentext"Das Kollektiv war alles, der Einzelne nichts"

[...] G. A.: Mit welchen Gefühlen sind Sie in die Wiedervereinigung gegangen?
Kowalzcuk: Mit Freude, aber auch mit Unsicherheit. Wir wussten ja nicht, was genau geschehen würde, welche konkreten Veränderungen auf uns zukommen. Aber natürlich überwog die Freude, dass die SED-Diktatur zu Ende ist. [...]

G. A.: Ihnen war die historische Bedeutung des Tages bewusst?

Kowalzcuk: Gar keine Frage, ja. Wobei die historisch bedeutsamen Ereignisse in den Monaten zuvor passiert waren: die Massenflucht, die Massendemonstrationen in Leipzig, der Fall der Mauer, die freien Wahlen in der DDR. Das sind die eigentlichen Wegmarken der Einheit.
G. A.: Knapp elf Monate zuvor war die Mauer gefallen. Wie erinnern Sie sich daran?

Kowalzcuk: Es war ein Tag der Selbstbefreiung. Nicht der Staat öffnete die Mauer, die Bürger erzwangen den Durchbruch. Gerade viele Ost-Berliner hatten die Sehnsucht, einfach durch die Mauer zu fahren und zu schauen, was dahinter ist. Wir sind ja mit dem Westen im Kopf groß geworden. Ich wollte in die Plattenläden gehen, in die Buchhandlungen. Jeden Abend hörte ich im Radio, was auf der anderen Seite in den Clubs los war, oder den WestWetterbericht. Klingt seltsam, aber nun galt das West-Wetter auch für mich. [...]
G. A.: Wie erinnern Sie sich an die DDR?
Kowalzcuk: Für mich war dieser Staat von vorne bis hinten unerträglich. Die schönen Erlebnisse waren alle im familiären Bereich oder mit Freunden. Aber das System DDR? Da entdecke ich nichts, das man hätte bewahren sollen.

G. A.: Auch nicht Dinge wie die umfassende Kinderbetreuung?

Kowalzcuk: Wenn man in Kindergärten und Schulen ging, war es unerträglich. In den Kitas mussten die Kinder mit Kriegsspielzeug spielen, Disziplin und Ordnung, das Kollektiv waren alles, der Einzelne nichts. Das Ziel war, die Individualität der Kinder zu brechen. In der Schule ging das weiter. Permanent wurde vorgeschrieben, was man zu lesen hatte. Man musste ständig in militärähnlichen Formationen aufmarschieren. Es gab zahllose ideologische Tabuthemen. [...]

G. A.: Also gar nichts, was sich gelohnt hätte, ins vereinte Deutschland rüber zu retten?

Kowalzcuk: Nein. Ich bin froh, dass man mit der DDR Tabula Rasa gemacht hat. Man kann nicht aus einem Gesamtsystem einzelne Aspekte herausgreifen. Die Einzelteile bedingen einander.

G. A.: Können Sie die Debatte nachvollziehen, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht?

Kowalzcuk: Ich reagiere ziemlich allergisch auf Versuche, die Verhältnisse in der DDR zu verniedlichen. Es gab nur 600 Rechtsanwälte für 17 Millionen Menschen. Wer das Land ohne Genehmigung verlassen wollte, wurde verhaftet oder erschossen. Das Recht konnte in der DDR jederzeit durch die herrschenden Kommunisten gebeugt werden. Willkür und Unrecht waren systembedingt. Wie kann man da nicht von einem Unrechtsstaat sprechen?

G. A.: Viele Ex-DDR-Bürger reagieren verletzt.
Kowalzcuk: Politik, Publizistik und Wissenschaft haben es versäumt deutlich zu machen, dass, wenn man von einem Unrechtsstaat spricht, kein Urteil fällt über die Menschen, die in diesem System lebten. Viele DDR-Bürger fühlen sich durch den Begriff in ihrer Lebensbiografie entwertet und wehren sich dagegen. Dafür habe ich Verständnis. [...]
G. A.: Sind sich Ost- und Westdeutsche nah, oder sind sie einander fremd geblieben?

Kowalzcuk: Es bestehen nach wie vor Unterschiede im Denken und Verhalten. Aber warum auch nicht? In einem großen Land wie der Bundesrepublik gibt es diese Unterschiede eben, zwischen Nord und Süd, Ost und West. Die Vielfalt ist doch das Kennzeichen einer offenen Gesellschaft. Ich bin froh, dass es sie gibt.

"Dieser Staat war unerträglich". Interview von Kai Pfundt mit Ilko-Sascha Kowalzcuk, Projektleiter bei der Stasiakten-Behörde in Berlin, in: Bonner General-Anzeiger Bonn vom 2./3. Oktober 2010

Mit der Aktion "Aufbau Ost" versuchte die Bundesregierung in den folgenden Jahren, in den neuen Bundesländern ein selbst tragendes wirtschaftliches Wachstum zu erreichen, die Abwanderung in den Westteil Deutschlands zu stoppen, die hohe Arbeitslosigkeit abzubauen und die Transferabhängigkeit zu reduzieren. Bis 1995 wurden allein 82 Milliarden DM aus dem Fonds Deutsche Einheit für den Wiederaufbau im Osten aufgewendet. Die Maßnahmen hatten jedoch nicht in allen Bereichen den gewünschten Erfolg. Im Westen rief die Höhe der Kosten der Einheit Unmut hervor. Im Osten verbreitete sich das Gefühl, als Deutsche "zweiter Klasse" angesehen zu werden. Auf diese Weise haben die Deutschen die vielfach beschworene innere Einheit auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht erreicht. In den Köpfen vieler lebt die Erinnerung an das, was sie in den vierzig Jahren ihrer Trennung erlebten, fort. Um die Zukunft zu gestalten, bedarf es der Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte, die frei von neuen oder alten Legenden sein sollte.

QuellentextErinnerung und Identität

Erinnerungen an die Vergangenheit [...] legitimieren, motivieren und vereinen die Bevölkerung durch Geschichtsschreibung und "Gründungsmythen" oder Zeremonien, wie Gedenkstätten oder auch Jahrestage. [...]

Erinnerungen sind ebenfalls eng mit individueller Identität verknüpft. Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, senden Botschaften aus über die Person, als die wir gesehen werden wollen. [...]

Das bedeutet auch, dass Erinnerungen, ob kollektiv oder individuell, in der Gegenwart geschaffen werden. Sie werden von sozialen, kulturellen und politischen Faktoren beeinflusst und unterliegen Machtkonstellationen. Dies betrifft zum Beispiel die Frage, wer Versionen der Vergangenheit kreieren und diese be- oder verurteilen darf. [...] Offizielle Versionen der Geschichtsschreibung geben vor, was als erinnerungswürdig gilt. Somit hängt nationale Geschichtsschreibung von den Zukunftsvisionen momentaner Führungseliten ab, das heißt von Regierungen, Amtsinhabern, Intellektuellen. Erinnerungen, kollektive und individuelle, werden meistens, wenn auch nicht immer, durch persönliche Erzählungen [...] geteilt. [...]

Maurice Halbwachs prägte den Begriff "kollektives Gedächtnis". Er argumentierte, dass intimste Erinnerungen an die weiter reichenden Erinnerungen einer Gruppe, ob Familie, Freundeskreis oder Nation, gebunden sind. Wir können nur erinnern, was von der Gruppe als legitim betrachtet wird, und versuchen, unsere Erfahrungen innerhalb des von der Gruppe vorgegebenen Rahmens zu verstehen. [...]

In "Umbruchsgesellschaften" bestehen besondere Probleme beim Umgang mit der Vergangenheit. Dies betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch andere vormals sozialistische Länder. Mit dem Ende des Sozialismus und der Delegitimierung dieses Systems vollzog sich ein extremer Wertewandel. Die Menschen heute müssen ein anderes Wertmaß an die Vergangenheit anlegen. Entscheidungen, Taten, Lebensweisen, die in der sozialistischen Gesellschaft "normal" waren, werden in Rückschau auf den Kommunismus in ein kritisches und oft negatives Licht getaucht. [...] Dieser Vorgang erwies sich als äußerst kompliziert. Viele Werte, die jahrzehntelang eingeübt und tradiert wurden, bestehen weiterhin in der Gesellschaft und beeinflussen Wahrnehmung und Verhalten dieser Menschen. Darüber hinaus können individuelle Lebenserfahrungen nicht einfach uminterpretiert werden. Geschichten auf einmal nach neuem Raster zu erzählen oder damals völlig "normale" Erlebnisse in Frage zu stellen, ist schwer, wenn nicht gar unmöglich. Vor allem ist dies schwierig, wenn die Basis, auf der die Vergangenheit bewertet wird, noch umkämpft ist. [...]
Der Begriff "Vergangenheitsbewältigung" entstand in der alten Bundesrepublik in Bezug auf den Umgang mit Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Er umfasste eine Kombination von historischer Forschung, Gedenken und Trauerarbeit, in dem Versuch, dieses schwierige Kapitel zumindest zu "meistern". Mit der Wiedervereinigung wurde das Modell Vergangenheitsbewältigung auf die DDR übertragen. [...] In Bezug auf die DDR-Vergangenheit war der gängige Begriff nun "Vergangenheitsaufarbeitung". [...] Durch den Fokus auf den Diktaturcharakter des vergangenen Staates und durch die Parallelität des Umgangs mit der NS-Zeit akzentuierte die offizielle Geschichtsschreibung das Herrschaftssystem und die Opposition. Dieser Vorgang wiederum führte zu einem dichotomisierten Bild der DDR, mit Opfern auf der einen Seite und Tätern auf der anderen. [...]
Mittlerweile ist der Terminus "Vergangenheitsaufarbeitung" im Osten Deutschlands allerdings belastet. Ähnlich wie die "Vereinigung durch Übernahme" durch die Bundesrepublik, wird "Aufarbeitung" als ein vom Westen gesteuerter Prozess gesehen, der über die individuell und kollektiv erlebte Vergangenheit zu richten scheint. Verbunden mit Erfahrungen der Abwertung ostdeutscher Kultur und persönlicher Errungenschaften im Vereinigungsprozess sowie dem realen Verlust von Arbeitsplätzen und radikaler Veränderung der Umgebung in allen Lebensbereichen, führte dies Mitte der neunziger Jahre zu Nostalgie und einer Art "Trotz-Identität". "Ostalgie" focht hierbei westdeutsche Hegemonie an und präsentierte ein alternatives "Deutsch-Sein". [...] Seit Mitte der neunziger Jahre scheint die trotzige "Ossi-Identität" aber einem subtileren Gefühl von "Zu-Hause-Sein" gewichen zu sein, was wiederum eine flexible Auseinandersetzung mit den "anderen" Deutschen zulässt. [...]

Anselma Gallinat, Sabine Kittel, "Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheite heute", in: Thomas Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation?, Berlin 2003, S. 309 ff.

studierte von 1978 bis 1983 Geschichte an der Universität Leipzig. Er ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt "Die SED zwischen Mauerbau und Mauerfall. Strukturen, Eliten und Konflikte (1961-1989/90)" am Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des politischen Systems in der DDR, speziell die Geschichte der SED, und die Wissenschaftsgeschichte der DDR.

Kontakt: »malycha@ifz-muenchen.de«