Klimapolitik im engeren Sinne entstand mit Beginn der 1990er-Jahre. Seitdem ist in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für den menschengemachten Klimawandel und seine Risiken etwa in Gestalt der Erderwärmung und der Zunahme extremer Wetterereignisse stark gestiegen. Umweltpolitik hingegen reicht historisch noch weiter zurück und beinhaltet auch Probleme, die nicht direkt mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht wurden und werden, wie zum Beispiel den Erhalt der Artenvielfalt, Lärmschutz oder Kritik an der Gentechnologie.
Klimaschutz als soziale Bewegung
Henrike Knappe
1962 beschrieb Rachel Carson in ihrem Buch Silent Spring (Stummer Frühling) das massenhafte Vogelsterben durch industriell eingesetzte Pestizide und regte ihre Leserinnen und Leser an, sich vorzustellen, wie nach einem Winter im Frühjahr keine Vogelstimmen mehr erklingen, sondern die Natur einfach stumm bleibt. Diese Vorstellung drohender Naturzerstörung mobilisierte viele Menschen auch in der Bundesrepublik Deutschland dazu, gegen die industrielle Umweltzerstörung zu protestieren. Die moderne Umweltbewegung war geboren. Anfangs informell organisiert und einem bestimmten Ziel gesellschaftlichen Wandels verpflichtet, gehörte sie zu den sogenannten neuen sozialen Bewegungen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden und deren Strukturen sich mit der Zeit verfestigten.
Zur gleichen Zeit beobachteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Erwärmung der Erde seit der Industrialisierung, forschten und diskutierten über den Treibhauseffekt. Anfang der 1990er-Jahre gab es dann einen gesicherten wissenschaftlichen Konsens darüber, dass es den menschengemachten Klimawandel durch Treibhausgase, vor allem durch Kohlendioxid (CO2), gibt. Der Weltklimarat begann seine Berichte zum Klimawandel zu veröffentlichen.
Die Umweltbewegung hatte schon vor den 1990er-Jahren auf umweltschädigende Tatbestände hingewiesen, wie zum Beispiel die Verbrennung fossiler Energie, die Luftverschmutzung, das Waldsterben sowie die industrielle Land- und Viehwirtschaft, die ursächlich mit zum Klimawandel beitrugen. Der Klimawandel an sich war allerdings noch kein herausstechendes Thema. So war es auch in der DDR, wo es ab Anfang der 1980er-Jahre Umweltgruppen gab, die sich meistens unter dem Dach der evangelischen Kirchen organisierten. Die Möglichkeiten zu protestieren waren dort allerdings viel begrenzter als in der alten Bundesrepublik und so konzentrierten sich viele DDR-Umweltaktivistinnen und -aktivisten darauf, praktischen Naturschutz, also beispielsweise den Schutz von Lebensräumen für Tiere oder von Naturlandschaften, zu betreiben und einen ökologischen Lebensstil vorzuleben.
Erste Vorzeichen der heutigen Klimaproteste deuteten sich in der Umweltbewegung der 1970er- und 1980er-Jahren jedoch schon an. So wurde verstärkt die Erde als Ganzes in den Blick genommen. Es ging nicht mehr "nur" darum, gegen Fabriken an bestimmten Orten oder die Wasserverschmutzung in bestimmten Flüssen zu protestieren: Die moderne Umweltbewegung machte nun vielmehr darauf aufmerksam, dass das Überleben des Planeten als Ganzes durch Umweltzerstörung gefährdet sei.
In den 1990er-Jahren erlebte die Umweltbewegung einen Globalisierungsschub. Es begann die Zeit der globalen Klimakonferenzen. So zog es viele nun bereits fest etablierte Umweltverbände – wie WWF, Greenpeace oder den BUND – auch auf die internationale Ebene, wo sie zunehmend Gehör fanden und sich zu weltweiten Koalitionen zusammenschlossen. Die vormalige Umweltbewegung wurde vielfältiger, anerkannter und internationaler in ihren Themen und Aktionsformen.
Eine richtige "Bewegung" begann erst wieder im Sommer 2018, als sich Greta Thunberg das erste Mal vor den schwedischen Reichstag setzte und ihren Klimastreik begann. Am 15. März 2019 fand der erste global organisierte Protesttag der nun gegründeten Bewegung Fridays for Future (FFF) statt. An ihm nahmen nach Angaben der Organisatorinnen und Organisatoren 300.000 Menschen in Deutschland teil, was in der Einschätzung des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) als beeindruckender Mobilisierungserfolg der Bewegung gewertet wird.
Was unterscheidet Fridays for Future von vorherigen Umweltprotesten?
Ein grundsätzlicher Unterschied liegt im Charakter ihrer Forderungen: FFF fordert etwas, zu dem sich eigentlich sowieso (fast) alle Staaten der Welt verpflichtet haben, nämlich die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens. Allerdings zeichnet sich ab, dass vielfach und gerade auch in Deutschland die Ziele des Abkommens kaum eingehalten werden, auch weil sie mit massiven Einschnitten in Energiewirtschaft, Industrie, Gebäudesektor, industrielle Landwirtschaft und gesellschaftliche Gewohnheiten verbunden sind.
FFF verknüpft ebenso wie die weitaus radikaler auftretende Umweltbewegung Extinction Rebellion (dt: Rebellion gegen das Aussterben) ihre Forderungen ganz klar mit den akuten, krisenhaften Erscheinungsformen des Klimawandels. Während Extinction Rebellion jedoch vor allem durch spektakuläre Aktionen zivilen Ungehorsams – wie Verkehrsblockaden in europäischen Großstädten im Oktober 2019 – Politik und Gesellschaft auf ihre Verantwortung für das massenhafte Aussterben von Tieren und Pflanzen und den Klimawandel hinweisen will, tritt FFF gemäßigter auf und fordert einen ökologisch verträglichen Lebensstil von sich selbst, aber auch der Gesamtgesellschaft. Das verbindet sie mit der früheren Umweltbewegung in Westdeutschland und der DDR, geht jedoch darüber hinaus, weil auch FFF eine größere Dringlichkeit und einen umfassenderen Ansatz artikuliert.
Ein weiteres Charakteristikum liegt in der starken Betonung, die FFF auf Klimagerechtigkeit legt. Mit dem Begriff der Klimagerechtigkeit wird kritisiert, dass viele Staaten des Globalen Nordens, also die Industrieländer, die größten Verursacher des anthropogenen Klimawandels sind, wogegen viele Länder des Globalen Südens, die sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer, von seinen Auswirkungen am stärksten betroffen sind. Zwar wurde das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung (CBDR-principle) bereits auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED) in Rio de Janeiro 1992 festgeschrieben. In den nachfolgenden UN-Klimaverhandlungen wurde es jedoch immer wieder, gerade von Staaten des Globalen Nordens, in den Hintergrund gedrängt.
Neben dem Charakter ihrer Forderungen unterscheidet sich FFF von früheren Bewegungen durch das Profil der Teilnehmenden. Während die frühere Umweltbewegung von Studierenden und der bürgerlichen Mitte getragen wurde, beteiligen sich an FFF laut ipb-Studie wesentlich jüngere Bevölkerungsgruppen. Ungefähr die Hälfte aller Protestierenden bei der Demonstration in Berlin am 15. März 2019 war zwischen 14 und 19 Jahre alt. Die eigene Betroffenheit durch die absehbaren Folgen des Klimawandels in der nahen Zukunft mobilisiert gerade Jugendliche, denn sie werden die Versäumnisse der Gegenwart vor allem zu tragen haben. Unterstützt sahen sie sich dabei durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, welcher das deutsche Klimaschutzgesetz wegen unzureichender Regelungen für die Zeit bis 2050 für verfassungswidrig erklärte und die Politik zu Nachbesserungen aufforderte.
Karikatur: Recht ehrgeizig (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)
Karikatur: Recht ehrgeizig (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)
Gleichzeitig beteiligen sich an den Demonstrationen viel mehr Frauen als sonst bei früheren Protesten, fast 60 Prozent sind weiblich laut ipb-Studie. Auch die führenden Personen der Bewegung, allen voran Greta Thunberg und in Deutschland Luisa Neubauer, sind weiblich. Trotzdem ist auch FFF eine Bewegung, die, ähnlich wie die früheren Umweltproteste, stark der Mittelschicht entstammt und vornehmlich weiß ist.
All diese Merkmale, die die Themen und Aktionsformen von FFF und Extinction Rebellion voneinander und von früheren Umweltbewegungen unterscheiden, lassen sich zum Teil mit den spürbaren Folgen des vorangeschrittenen Klimawandels erklären. Auf das Erkennen und die Bekämpfung weltweiter Probleme in der Umweltzerstörung seit den 1970er-Jahren folgte mit der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis der Erderwärmung und ihrer inzwischen (etwas durch Dürresommer) deutlich spürbaren Folgen die Einsicht in ein umfassenderes Problem, das für das Leben auf unserem Planeten existenziell bedrohlich wird. Gleichzeitig zeigten sich Regierungen und Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten nicht in der Lage, den Klimawandel effektiv aufzuhalten. Aus diesen widersprüchlichen Eindrücken speist sich das Engagement der gegenwärtigen sozialen Klimabewegungen.
Verteilungsfragen
Christina Camier
Die Klimaschutzziele der Bundesregierung führen zu einem Umbau des Energiesystems, der sich weitreichend auf die Gesellschaft auswirkt. Dabei gewinnen Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen an Bedeutung: Wie werden die mit dem Umbau des Energiesystems verbundenen Kosten und Nutzen gerecht verteilt? Vor welchen Belastungen und Entlastungen stehen die privaten Haushalte? Wie sieht eine sozial gerechte Nachhaltigkeit aus, die sicherstellt, dass die Belastungen nicht gerade die Gruppen in der Bevölkerung treffen, die sie sich am wenigsten leisten können?
Eine sozialverträgliche Kostenverteilung trägt entscheidend dazu bei, dass auch finanziell schwächere Haushalte ohne allzu große Belastungen Klimaschutzmaßnahmen umsetzen können. Je umfassender die Gesellschaft die Energiewende unterstützt, desto größer wird die Widerstandsfähigkeit des komplexen Energiesystems.
Sozialer Ausgleich als wichtige Zielsetzung
Der zweite Forschungsbericht der Monitoring-Kommission "Energie der Zukunft", den das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019 herausgegeben hat, zeigt eine soziale Schieflage zwischen unterschiedlichen Einkommensgruppen auf und empfiehlt der Bundesregierung, einer Energiearmut entgegenzuwirken.
Energiearmut ist in Deutschland nicht eindeutig definiert. Das Sozialgesetzbuch (SGB) berücksichtigt bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) und Sozialhilfe (SGB XII), die das Existenzminimum für ein menschenwürdiges Leben garantieren soll, auch den Energiebedarf. In einer Analyse über Energiearmut als soziales Problem hat ein Forscherteam der Universität Siegen vereinfachend als Indikator festgelegt: "Ein Haushalt gilt als energiearm, wenn dessen (OECD-gewichtetes) Haushalts-Nettoeinkommen nach dem Abzug der (OECD-gewichteten) Energiekosten unter der 60-Prozent Armutsgefährdungsschwelle liegt". Als armutsgefährdet gelten Personen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. Nach Maßgabe dieses Indikators waren im Jahr 2008 21,5 Prozent der 39,5 Millionen deutschen Haushalte von Energiearmut bedroht.
Geringverdienende – in schlecht isolierten Mietwohnungen in den Außenbezirken der Städte, weit entfernt von ihren Arbeitsstätten und zum Pendeln gezwungen – waren 2017 stärker von den Kosten der Energiewende betroffen als Haushalte mit höherem Einkommen: Bei niedrigen monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 1300 Euro belief sich der Anteil der Energieausgaben auf rund 11 Prozent der gesamten Konsumausgaben. Allein die Ausgaben für Heizung, Kochen und Strom machten bei Geringverdienenden fast 9 Prozent aus. Bei Haushalten mit durchschnittlichem Einkommen betrug der Anteil dieser Ausgaben nur knapp 6 Prozent.
In dem vom Bundesforschungsministerium geförderten Kopernikus-Projekt Energiewende-Navigationssystem (ENavi) hat ein Forscherteam im Jahr 2019 Kriterien aufgestellt, die soziale Nachhaltigkeit von Klimaschutzmaßnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben: Effektivität, Kosteneffizienz und Resilienz bewerten die Beiträge zu energie- und klimapolitischen Zielen sowie die Kosten der Zielerreichung. Nebenwirkungen werden unter den Aspekten wirtschaftliche Planungssicherheit und Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlfahrt, Schutz der menschlichen Gesundheit, Umwelt- und Ressourcenschonung sowie Förderung des sozialen Zusammenhalts betrachtet. Legitimität, ethische Akzeptabilität und Legalität zeigen die Vereinbarkeit mit rechtlichen, politischen und ethischen Normen. Das Kriterien-Set hilft, Zielkonflikte aufzuzeigen und konstruktiv anzugehen.
Eine andere Forschergruppe hat 2019 in einem Policy-Brief weitreichende politische Maßnahmen zur Entlastung einkommensschwacher Haushalte empfohlen. Zusätzlich zu den beschriebenen "Abwrackprämien" für Heizung und Auto sollten der Empfehlung zufolge der Kauf besonders energiesparender Haushalts- und IT-Technologien sowie eine bedarfsgerechte Gebäudesanierung gefördert werden. Die Förderung sollte einkommensschwache Haushalte unterstützen und gleichzeitig die Stromnachfrage senken.
Das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung
Im Oktober 2019 hat das Bundeskabinett das Klimaschutzprogramm 2030 beschlossen, das beschreibt, wie Deutschland seine Klimaziele bis 2030 erreichen soll. Im Januar 2020 trat das Klimaschutzgesetz in Kraft, das die Einhaltung der Klimaziele gesetzlich festlegt und Verfahren bei Verfehlung der Ziele regelt. Finanziert werden die Maßnahmen durch den Energie- und Klimafonds, dessen Mittel vor allem aus dem Emissionshandel stammen.
Beim Emissionshandel werden Umweltzertifikate ausgegeben, die zu einer begrenzten Menge von Schadstoffausstoß berechtigen. Einnahmen, die durch das Klimaschutzprogramm entstehen, sollen explizit nicht als zusätzliche Bundesmittel genutzt werden, sondern für Klimaschutzmaßnahmen und zur finanziellen Entlastung der Bürgerinnen und Bürger.
Förderprogramme für energetische Sanierungen und Maßnahmen, die zu emissionsärmerem Verkehrsverhalten anreizen sollen, zeigen die Bemühungen und gleichzeitig die Schwierigkeiten, Klimaschutz sozial gerecht zu gestalten.
Seit Januar 2021 werden fossile Brennstoffe (wie Benzin, Öl und Gas) für Verkehrsmittel und Heizung mit einer CO2-Abgabe belegt. Mit den CO2-Einnahmen soll ein Teil der "EEG-Umlage" (Umlage zur Förderung erneuerbarer Energien nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz) ersetzt werden, sodass die Strompreise sinken.
Für einkommensschwache Berufspendlerinnen und -pendler, die auf ein eigenes Auto angewiesen sind – weil beispielsweise ihr Zuhause in kostengünstigen Vororten nicht gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden ist –, erhöhen sich durch die CO2-Bepreisung jedoch deutlich die Fahrtkosten. Als Ausgleich wurde die steuersparende Pendlerpauschale ab dem 21. Kilometer seit Januar 2021 um fünf Cent angehoben und soll ab Januar 2024 um weitere 3 Cent erhöht werden. Geringverdienende, die wegen eines zu geringen Einkommens nicht von der Pauschale profitieren würden, erhalten eine Mobilitätsprämie von 14 Prozent der erhöhten Pendlerpauschale.
Durch die CO2-Bepreisung erhöhen sich auch die Heizkosten. Die erhöhten Kosten, staatliche Prämien und Fördergelder sollen Anreize schaffen, alte Ölheizungen gegen energieeffiziente Heizungsanlagen auszutauschen, energieeffiziente Fenster einzubauen sowie Wände und Dächer zu dämmen. Davon können jedoch nur Eigenheimbesitzer profitieren. Für Haushalte mit geringem Einkommen wurde im Januar 2021 beim Wohngeld eine CO2-Komponente als Heizkostenzuschuss eingeführt.
Mobilität soll nachhaltiger und gleichzeitig bezahlbarer werden. Rad- und Gehwege sowie der öffentliche Nahverkehr sollen ausgebaut werden. Für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs hat die Bundesregierung die Bundesfinanzhilfen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes sukzessive erhöht, von 332 Millionen Euro im Jahr 2019 auf jährlich eine Milliarde Euro ab 2021 und ab 2025 auf zwei Milliarden Euro. Das Bahnfahren wurde billiger, indem seit Januar 2020 die Mehrwertsteuer für Tickets im Fernverkehr von 19 auf 7 Prozent gesenkt wurde.
Der Aufbau eines integrierten Umweltverbundes aus öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV), Fuß- und Radverkehrsnetz kommt jedoch nur schleppend voran. In Berlin wurde zum Beispiel im Juli 2018 ein Mobilitätsgesetz verkündet, das die Bausteine für eine umweltfreundliche und gleichzeitig komfortable Berliner Mobilitätswende festlegte. Ein Netzplan für ein integriertes Radverkehrsnetz, das alle im Alltag wichtigen Standorte der Stadt schnell, sicher und bequem verbindet, sollte binnen eines Jahres nach Inkrafttreten des Gesetzes, also bis Juli 2019, erfolgen. Doch erst im Herbst 2020 wurde der Entwurf eines Radverkehrsplans vorgelegt.
Die Ladeinfrastruktur für Elektromobilität soll bis 2030 auf eine Million Ladepunkte in Deutschland ausgebaut werden. Laut Ladesäulenkarte der Bundesnetzagentur waren im März 2021 erst rund 35.000 Normalladepunkte und über 5700 Schnellladepunkte im Betrieb.
QuellentextHöchstrichterliche Mahnung
[…] Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – kein Urteil, weil nur schriftlich ergangen – könnte sich […] als "epochal für den Klimaschutz" erweisen. Erstmals hat das Gericht den Gesetzgeber zu konkreten Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel verpflichtet. Das Programm, das Bundestag und Bundesregierung bis Ende des nächsten Jahres abzuarbeiten haben, klingt zwar überschaubar. Sie müssen den Fahrplan für die Zeit nach 2030 festlegen, also die weitere Reduktion der Treibhausgas-Emissionen, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erfüllen – die Begrenzung des Temperaturanstiegs auf deutlich unter zwei und möglichst auf 1,5 Grad. Das Klimaschutzgesetz hingegen, mit seinem Etappenziel einer Verringerung der Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990, bleibt zumindest formal unangetastet.
Jedoch hat der Beschluss […] das Potenzial, dem Gesetzgeber in Klimaschutzfragen das Bundesverfassungsgericht als dauerhaften Mahner und gelegentlichen Antreiber zur Seite zu stellen. Erstens ist nun die bisher umstrittene Klagebefugnis geklärt. Bürger und Aktivistinnen können Klimaschutz einklagen, übrigens sogar dann, wenn sie, wie einige der Beschwerdeführer, aus Bangladesch oder Nepal kommen. Dem Gericht wird es in Zukunft nicht an Verfassungsbeschwerden zum Klimaschutz mangeln.
Zweitens, und noch wichtiger: Grundrechte können auch dann heute und aktuell verletzt sein, wenn die spürbaren Einschränkungen erst noch in der Zukunft liegen. Nach den Worten des Gerichts hat der Gesetzgeber hohe Lasten zur Minderung der Emissionen "unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030" verschoben. Will man aber das "Paris-Ziel" erreichen, dann muss man in den Jahren danach die Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgase immer dringender und kurzfristiger ergreifen. "Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind", heißt es in der Entscheidung. Die Freiheit als Nullsummenspiel: Wenn sie heute zu großzügig und klimaschädlich ausgeschöpft wird, dann wird sie morgen umso erdrückender eingeschränkt werden. Das Gericht spricht von einer "intertemporalen Freiheitssicherung", ein Begriff, der den Brückenschlag über die Generationen hinweg ins Grundgesetz importiert.
Und schließlich drittens: Sollte irgendjemand in politischer Verantwortung sich nun darüber freuen, dass man den Karlsruher Beschluss heftig loben kann, aber zugleich nicht viel unternehmen muss, dürfte dies ein Fehlschluss sein. Nicht nur, weil das Gericht dem Gesetzgeber eine "besondere Sorgfaltspflicht" auch zugunsten künftiger Generationen aufgibt, nicht nur, weil es verlangt, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten, nicht nur, weil es schreibt, man könne sich nicht hinter anderen Staaten verstecken. Es wird vor allem ein Satz sein, der die Klimapolitik künftig verfassungsrechtlich unter Druck setzen wird.
Der Klimaschutz, den das Gericht auch ohne ausdrückliche Erwähnung in Artikel 20a Grundgesetz verankert sieht, genieße zwar keinen unbedingten Vorrang, sondern müsse in der Abwägung mit anderen Gütern und Prinzipien in Ausgleich gebracht werden. "Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu."
Das bedeutet: Mit jedem Zehntel Grad Temperaturanstieg, mit jedem verfehlten Klimaziel wächst die Schlagkraft des Grundgesetzes und damit die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Supervisor in Sachen Klimaschutz. […] Das Bundesverfassungsgericht ist künftig beim Kampf gegen den Klimawandel mit im Spiel. […]
Wolfgang Janisch, "Zum Klimaschutz gezwungen", in: Süddeutsche Zeitung vom 30. April / 1.–2. Mai 2021
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur teilweisen Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetzes verweist auf eine verhältnismäßige, intertemporale Lastenverteilung der Emissionsminderung. Um die in Art. 20a GG verankerten Entfaltungs- und Freiheitsrechte auch für zukünftige Generationen zu schützen, ist Klimaschutz schon heute verpflichtend und die erforderlichen Emissionsminderungen können nicht vertagt werden.
Akzeptanz für Klimapolitik
Ingo Wolf
Die weltweiten Maßnahmen und Instrumente zur Bekämpfung des Klimawandels sind vielfältig und reichen von der Besteuerung klimaschädlicher Gase – beispielsweise durch Kohlendioxid-Steuern (CO2) – über die finanzielle Förderung (Subventionierung) erneuerbarer Technologien wie Solaranlagen bis hin zu Informationskampagnen mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit für den Klimaschutz in der Bevölkerung zu erhöhen.
Lokale Proteste beispielsweise beim Bau neuer Windräder verdeutlichen jedoch, dass der Weg der Energiewende nicht ohne Hindernisse verläuft. Der Erfolg dieser Politik wird maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, eine breite gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung für diese Maßnahmen zu erreichen.
Unter dem Begriff Akzeptanz versteht man im Allgemeinen eine positive Reaktion (einzelner) Personen oder Organisationen etwa auf politische Maßnahmen und Technologien. Diese positiven Reaktionen können entweder rein passive Bekundungen sein, zum Beispiel eine positive Einstellung zum Bau einer Solaranlage, oder mit konkreten Handlungen einhergehen, zum Beispiel mit dem Wechsel zu einem ausgewiesenen Ökostromanbieter. In der Forschung werden vier Ausprägungen der Akzeptanz unterschieden, die sich auf der Einstellungs- (negativ – positiv) und der Verhaltensebene (passiv – aktiv) von Personen voneinander trennen lassen:
Ablehnung (negativ/passiv): Darunter fallen Personen, die eine negative Einstellung gegenüber Maßnahmen der Energiewende, etwa gegenüber Windrädern, haben, jedoch nichts dagegen unternehmen.
Widerstand (negativ/aktiv): Dazu zählen Personen, deren negative Einstellungen zu aktivem Protest gegen den Ausbau von erneuerbaren Energien führen.
Befürwortung (positiv/passiv): Die Personen haben eine positive Haltung gegenüber der Energiewende, ohne sich jedoch aktiv daran zu beteiligen. Der größte Teil der Bevölkerung ist dieser Gruppe zuzuordnen.
Unterstützung (positiv/aktiv): Positive Einstellung und aktives Mitmachen wie zum Beispiel das Engagement bei Fridays for Future-Demonstrationen kennzeichnen diese Gruppe.
Persönliche Einstellungen und die Unterstützung von Klimaschutzmaßnahmen sind in der Gesellschaft unterschiedlich ausgeprägt und können mitunter widersprüchlich sein. So befürwortet die Mehrheit der Menschen in Deutschland die Energiewende, manche sind jedoch nicht davon begeistert, wenn in der Nähe ihres Hauses ein Windrad aufgestellt wird. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen wird im Wesentlichen durch zwei Faktoren beeinflusst: zum einen durch individuelle Merkmale der Bürgerinnen und Bürger und zum anderen durch die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung politischer Maßnahmen.
Individuelle Faktoren
Die Faktoren, die auf die Akzeptanz von Energie- und Klimapolitik Einfluss haben, wurden bereits in zahlreichen wissenschaftlichen Studien untersucht. Die Ergebnisse von Metaanalysen (Zusammenfassungen von Einzelstudien) zeigen, dass soziodemografische Merkmale wie Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung im Vergleich zu anderen Merkmalen nur einen geringen Einfluss auf die Einstellung zur Klima- und Energiepolitik ausüben.
Im Allgemeinen werden klimapolitische Maßnahmen von jüngeren Menschen eher akzeptiert als von älteren. Frauen tendieren in diesem Zusammenhang zu positiveren Haltungen als Männer. Weiterhin kann sich ein höheres Einkommens- und Bildungsniveau positiv auf die Akzeptanz klimapolitischer Maßnahmen auswirken. Die Effekte können jedoch im Einzelnen in verschiedenen Themenbereichen der Energiewende bzw. für bestimmte Politikinstrumente unterschiedlich ausfallen.
Eine bedeutsamere Rolle hinsichtlich der Akzeptanz klimapolitischer Instrumente spielen verschiedene sozialpsychologische Merkmale. Besonders starken Einfluss haben hierbei allgemeine (moralische und ethische) Werte und die politische Orientierung der Menschen. Die Akzeptanz für klimafreundliche Politik ist am größten bei Personen, deren Wertvorstellungen auf den Prinzipien sozialer Gleichheit (Egalitarismus) und Uneigennützigkeit (Altruismus) beruhen und die sich moralisch verpflichtet fühlen, die Umwelt zu schützen.
Menschen, die den Umwelt- und Klimawandel und die damit verbundenen Risiken als drängendes Problem betrachten und ein höheres Umweltbewusstsein haben, stimmen in der Regel klimaschützenden Maßnahmen eher zu. Weltanschauungen und Wertevorstellungen (Ideologien) spiegeln sich auch in der Neigung zu bestimmten politischen Parteien und dem konkreten Wahlverhalten wider. So stehen Wählerinnen und Wähler konservativer Parteien klimaschützenden Maßnahmen tendenziell reservierter gegenüber als diejenigen linksgerichteter Parteien.
Karikatur: Nicht vor unserer Haustür (© Gerhard Mester)
Karikatur: Nicht vor unserer Haustür (© Gerhard Mester)
Die Bewertung politischen Handelns entsteht jedoch nicht in einem sozialen Vakuum. Auch die Ansichten und Haltungen des persönlichen Umfeldes, beispielsweise Freunde oder Arbeitskollegen, prägen die eigene Haltung. Ebenso beeinflussen soziale Normen, also von anderen erwartetes und akzeptiertes Verhalten, individuelle Einstellungen. Umweltfreundliche Einstellungen im sozialen Umfeld können folglich dazu beitragen, Klimaschutzmaßnahmen zu akzeptieren und zu unterstützen. Der Grad des sozialen Einflusses wird jedoch auch von der Qualität der Beziehung und dem Vertrauen zwischen den Personen bestimmt. Dies gilt nicht nur für den privaten Bereich. Vertrauen in die Kompetenz und Unbescholtenheit (Integrität) politischer Akteurinnen und Akteure ist eine wichtige Einflussgröße in der Bewertung von (Klima-)Politik.
Ausgestaltung und Umsetzung von Maßnahmen
Trotz der großen Vielfalt politischer Maßnahmen zum Schutz des Klimas sowie ihrer Ausgestaltung – beispielsweise in Form von Verboten oder finanziellen Anreizen – gibt es einige generelle Merkmale, die für ihre gesellschaftliche Akzeptanz von Bedeutung sind.
Ein zentraler Faktor für die Akzeptanz von Energiepolitik ist die wahrgenommene Fairness: Wie sind der Nutzen und das Risiko verteilt, wer ist am politischen Entscheidungsprozess beteiligt? Die Akzeptanz sinkt, wenn bestimmte gesellschaftliche Gruppen (beispielsweise Bürgerinnen und Bürger) den Großteil der Kosten tragen, während andere Akteure (beispielsweise Unternehmen) hauptsächlich die Vorteile genießen. Auch das Gefühl, dass sie nicht ausreichend an dem Entscheidungsprozess beteiligt und ihre Interessen nicht ausreichend berücksichtigt wurden, kann dazu führen, dass Klimaschutzmaßnahmen abgelehnt werden.
Instrumente, die nachweislich zur Erreichung der Klimaschutzziele beitragen und daher als sinnvoll und effektiv wahrgenommen werden, erfahren grundsätzlich eine hohe gesellschaftliche Zustimmung. Insbesondere Maßnahmen, die einen individuellen, gruppenspezifischen oder wirtschaftlichen Nutzen versprechen – beispielsweise für die eigene Gemeinde oder das eigene Unternehmen –, erfahren eine hohe Akzeptanz.
QuellentextNicht in meinem Hinterhof!
[…] Windräder müssen gebaut werden. Doch sobald sie vor der eigenen Haustür entstehen, ist es mit der Zustimmung vorbei. Und die nächste Haustür ist im dichtbesiedelten Deutschland nie weit weg. Was folgt, sind oft genug aufgebrachte Bürger, die Initiativen gründen, Bürgerbegehren anzetteln und am Ende die Pläne von Politik und Wirtschaft durchkreuzen oder wenigstens empfindlich verzögern und verteuern. […] Der Nimby [abgeleitet von dem englischen Akronym "Not in my backyard" (Nicht in meinem Hinterhof)], ist zum Prototypen des protestwütigen Bürgers geworden, egoistisch, fortschrittsfeindlich, renitent. Jemand, der sein eigenes Interesse über das Gemeinwohl stellt.
Doch so bequem es wäre, die schleppende Digitalisierung oder Energiewende auf Nimbys zu schieben – so problematisch ist es auch, wie die Politikwissenschaftlerin Julia Zilles sagt. An der Universität Göttingen erforscht sie Bürgerproteste. "Wenn von Nimbys die Rede ist, schwingt oft etwas Diffamierendes mit", sagt sie. Es unterstellt Egoismus. Dabei ist räumliche Nähe oft nur der erste Auslöser des Protestes. "Es ist beeindruckend, wie viel Expertise da aufgefahren wird", sagt Zilles. Doch wer jemanden in die Nimby-Schublade stecke, entkräfte damit jedes Argument, weil dem Gegenüber die Kompetenz abgesprochen werde, sich objektiv zu dem Thema zu äußern.
Die Leute selbst sehen sich ohnehin anders, weiß die Politologin aus vielen Gesprächen. "Sie haben ein positives Selbstbild ihres Engagements und ihrer Verantwortung, was aus demokratischer Sicht erst mal positiv ist." Die eigentlichen Probleme entstehen auch nicht, weil Bürger bei Projekten mitsprechen wollen, sondern weil sie es zu einem Zeitpunkt einfordern, an dem der politische Prozess längst abgeschlossen ist. Der gewählte Gemeinderat hat in einem Konsensverfahren entschieden, vielleicht sogar mit großer Mehrheit. Bürgerprotest formiert sich aber erst, wenn die Bagger losrollen.
"Wer diese Erfahrung – zu spät dran zu sein – einmal gemacht hat, engagiert sich dann in den Nachbargemeinden", sagt Zilles. Es geht also nicht nur um den eigenen Hinterhof. So war in den vergangenen Jahren zu beobachten, wie sich Bürgerinitiativen zunehmend professionalisieren. Im Internet, über Facebook oder Whatsapp vernetzen sich Interessierte, stellen "Erste-Hilfe-Pakete" zusammen oder tauschen sich über kreative Protestformen aus. Auf "anleitungen-buergerproteste.de" gibt es gleich 50 Vorschläge – von unangekündigten Demonstrationen, die hier "Smart Mob" heißen, bis zur "Krönung", der Bürgerinitiative. Unterstützung gibt es zudem von einer großen Mehrheit der Deutschen. Einer Bertelsmann-Studie zufolge zeigten sich 80 Prozent der Befragten pro Bürgerentscheid und Bürgerinitiative. Fast jeder Dritte hat selbst schon aktiv teilgenommen.
Damit Bürgerbeteiligung und Großprojekte sich nicht ausschließen müssen, wenden sich Planer an Menschen wie Ingo Seeligmüller. Der Soziologe und Medienwissenschaftler ist Geschäftsführer der Leipziger PR-Agentur Neulandquartier. Seine Aufgabe ist es nicht mehr nur, Pläne nach außen möglichst verständlich zu vermitteln. Die "One-to-Many-Kommunikation", wie er das nennt, reiche heute nicht mehr. Es brauche mindestens den Dialog mit Anwohnern und manchmal eben auch eine Kooperation. […] Damit es funktioniert, schaut er sich für seine Kunden an, welche Ängste und Sorgen Anwohner haben, analysiert alle Interessensgruppen, prüft, ob es Vorgeschichten gibt und in welchem Umfang Bürger beteiligt werden können. "Der Knackpunkt liegt aber in der Frage, was Beteiligung eigentlich heißt", sagt Seeligmüller und erklärt erstmal, was es nicht heißt: wirklich entscheiden zu dürfen. "Das obliegt immer noch unseren Behörden und Verwaltungen."
Trotzdem können Bürger Impulse liefern und frühzeitig signalisieren, wo eine Anlage geduldet werde und wo mit Widerstand zu rechnen sei. "Da wird der Planer auf eine Alternative aufmerksam gemacht, die er zuvor aus irgendeinem Grund ausgeschlossen hat – vielleicht weil er dachte, dass diese Variante bei den Leuten nicht auf Akzeptanz stößt."
Der Agenturchef beobachtet aber, dass Bürgerinitiativen oft auch dann den Diskurs eines Projekts lenken, wenn sie nur wenige Mitglieder und Unterstützer haben. "Jeder kann inzwischen zum Sender werden", sagt er. "Was wir im Moment erleben, ist ein verzerrtes Bild, in dem sich öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung nicht decken." Empörungswellen können schneller heraufbeschworen werden als jede noch so ausgefeilte Kommunikationsstrategie. Wenn es nicht mehr um das "Wie", sondern nur noch um das "Ob" gehe, seien die Fronten endgültig verhärtet. […]
Bei allem, was mit der Energiewende zusammenhängt, zeigt sich das besonders deutlich. Hier häufen sich Proteste, sagt Politikwissenschaftlerin Zilles, weil es sich um ein dezentrales Projekt handelt. Früher haben sich Großkraftwerke an einem Fleck konzentriert. Heute können Windkraftanlagen überall verstreut werden, vor allem in den ländlichen Regionen. Kleine Protestformen sind die Folge, weil Bewohner schwach besiedelter Regionen normalerweise keine Chance haben, echte Mehrheiten zu bilden. Neunzigprozentige Zustimmung zur Windkraft auf Bundesebene verfange sich letztlich in lokalen Interessen, erklärt die Politikwissenschaftlerin. "Entscheidungen werden als entkoppelt wahrgenommen." Berlin diskutiert, plant, weist Bauland aus und fordert Unternehmen auf, sich für Projekte zu bewerben. "Den Protest bekommt aber der Bürgermeister oder Lokalpolitiker ab."
Erst mal anzuerkennen, dass Windräder oder riesige Neubauprojekte, die insgesamt gewollt und gebraucht werden, auch eine Belastung sein können, sei das Erste. Andere Dinge könnten folgen: Man könnte die Anwohner entschädigen oder ihnen günstigeren Strom anbieten, wenn sie das Windrad schon vor die Nase gesetzt bekommen. Auch über repräsentativere Beteiligungsformate wird nachgedacht, mit Bürgergremien, die nach demographischen Kriterien, aber letztlich zufällig ausgewählt werden. In anderen Staaten oder auf europäischer Ebene ist das schon üblich. […]
Anna-Lena Niemann, "Schuld war wieder mal der Nimby", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. Januar 2020 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
QuellentextVon der Windkraft profitieren
Kleine Ortschaften finden sich im Hunsrück zwischen den riesigen Wäldern, in denen hohe Windräder stehen, nur vereinzelt. Und in drei Vierteln der Orte, die sich finden, wohnen weniger als 500 Menschen. Nur etwas mehr als 100.000 Einwohner zählt der [Hunsrück-]Kreis insgesamt. Wo wenige Menschen leben, ist der Energieverbrauch gering. Und auch der Protest. Das ist Grund Nummer eins, warum ausgerechnet der Hunsrück in Rheinland-Pfalz zu dem Vorzeigebeispiel der Energiewende schlechthin geworden ist.
Grund Nummer zwei: Im Hunsrück profitieren die Bürger von der Windkraft. Die mehreren hundert Windkraftanlagen im Kreis stehen beinahe ausschließlich auf Gemeindegebieten. Nicht private Landbesitzer verdienen mit ihnen Geld, sondern die Ortschaften selbst. Während sich die Windkraft bundesweit in einer schweren Krise befindet, der Ausbau zuletzt fast zum Erliegen kam, werden im Hunsrück weiterhin Windräder errichtet. Der Landkreis produziert heute mehr als dreimal so viel Strom, wie er verbraucht. 272 Prozent seines Bedarfs stammen aus der Windkraft. Bundesweit sind es 18 Prozent.
In Neuerkirch, einem kleinen Örtchen mitten im Hunsrück […] und im Nachbarort Külz kommen auf 800 Einwohner 18 Windräder. Sie produzieren 45 Mal so viel Energie, wie die beiden Dörfer verbrauchen. Und die Pachteinnahmen bleiben in der Gemeinde.
Mit den neuen Einnahmen finanzierte man einen Bürgerbus, der Senioren zu Ärzten und Geschäften fährt, und E-Bikes, die alle nutzen dürfen. Die Gemeinde kauft alte Häuser, saniert sie und unterstützt Bürger, die auf Brachflächen bauen wollen, mit bis zu 25.000 Euro. […]
Neuerkirch ist wie viele andere Kommunen im Rhein-Hunsrück-Kreis der Vorzeigekommune Schnorbach gefolgt, die ein nach ihr benanntes Modell entwickelt hat: klimafreundliche Leistungen der Bürger werden gefördert, etwa Photovoltaik-Anlagen oder der Austausch "energiefressender" Kühlschränke durch Energiesparmodelle. Und dann wären da noch "LED-Tauschtage", an denen Anwohner alte Glühbirnen bringen können und bis zu 15 LED-Lämpchen kostenfrei erhalten.
271 Windkraftanlagen sind im Kreis am Netz oder im Bau. Rund die Hälfte der 137 Städte und Gemeinden erhält dadurch eine Pacht, die andere Hälfte Ausgleichszahlungen durch sogenannte Solidarpakte. Sieben Millionen Euro Pacht kommen jedes Jahr zusammen. Im Gegensatz zu allen anderen Einnahmen wie etwa der Gewerbesteuer können die Städte und Gemeinden das Geld vollständig behalten. Das macht für viele der kleinen Kommunen einen enormen Unterschied. Sie können nun wieder etwas tun, was sie schon lange nicht mehr konnten: investieren. In Straßen, in Schulen, in Vereine, in Spielplätze, in Kindergärten.
[…]. Den Vorwurf, die Windkraftanlagen seien "Schreddermaschinen" für die Vögel, nennen die Leute im Hunsrück "Kappes". Quatsch. Viele Rotmilane und Schwarzstörche hätten sich wieder angesiedelt. Vögel also, an denen Windanlagen vielerorts scheitern. […]
Bundesweit geht der Ausbau neuer Anlagen zurück. Meist sind fehlende Flächen, mangelnde Akzeptanz und langwierige Klagen die Gründe. Mit Unverständnis blickt man im Landkreis auf die Pläne der Bundesregierung, einen Mindestabstand von tausend Metern zu Wohngebieten einzuführen. Nur etwas mehr als 80 Anlagen sind bundesweit in der ersten Jahreshälfte 2019 errichtet worden. So viele seien einst allein hier im Landkreis binnen eines Halbjahres entstanden, sagt man im Hunsrück.
Mit dem Geld der Windkraft entstehen weitere Projekte. In Neuerkirch etwa wurde eine Nahwärmeanlage errichtet, bestehend aus einem Solarthermie-Feld, dem größten im Bundesland, und einer Holz-Hackschnitzel-Verbrennungsanlage. Mit den Nahwärmeleitungen wurden Glasfaseranschlüsse verlegt. Nun qualmt kein Schornstein mehr. Das Projekt wurde von den Bürgern mitgestaltet, der Zusammenhalt im Ort wuchs.
Auch das Thema Sonnenenergie ist im Kreis alles andere als abgeschrieben. Obwohl die Förderung von Solaranlagen sinkt, kommen neue hinzu. Denn gleichzeitig sind die Modulpreise gesunken, auch ist die Energie- und Speichertechnik besser geworden. Im Kreis stehen 4500 Solaranlagen, etwa jeder achte Haushalt besitzt eine, fast 20 Prozent des Strombedarfs werden so gedeckt. […]
Die Kreisverwaltung will mit Vorzeigeprojekten vorangehen. So können die Bürger etwa ihre Baum- und Strauchschnittabfälle an einem der 125 Sammelplätze abgeben – mit dem gehäckselten Holz wird dann geheizt. Die Wärme geht an Schulen, Kindergärten, ein Schwimmbad und Altenheime. Damit ersetzt der Landkreis nach Angaben des kommunalen Betreibers rund 800.000 Liter Heizöl im Jahr. Viel Geld gespart wird damit nicht, das ist auch nicht das Ziel. Es darf nur nicht mehr kosten als die nichtgrüne Alternative. "Wir müssen uns um den Abfall ja sowieso kümmern", sagt Thomas Lorenz, Vorstand der Rhein-Hunsrück-Entsorgung. "Das Konzept würde in jeder ländlichen Kommune der Welt funktionieren."
Der Kreis hat sich schon 2011 ein Klimaschutzkonzept gegeben. Es sieht vor, bis 2050 komplett klimaneutral zu sein. "Früher hat der ländliche Raum nur Lebensmittel an die Ballungsräume gegeben, heute ist es Energie", sagt [Frank-Michael] Uhle [in der Kreisverwaltung für Klimaschutz zuständig]. Die Energiewende bezeichnet er als "riesengroßes" Wirtschaftsförderungsprogramm. […]
Julian Staib, "Die Wende", in: Frankfurter Allgemeine Woche vom 24. Januar 2020 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom FrankfurterAllgemeine Archiv
Bei politischen Instrumenten, die die persönliche Freiheit und bestehende Lebensgewohnheiten einschränken, sieht es dagegen anders aus: Je stärker die vermeintliche Einschränkung, desto mehr sinkt die Akzeptanzbereitschaft. Im Allgemeinen werden anreizbasierte Maßnahmen (beispielsweise die Kaufprämie für Elektroautos) im Vergleich zu einschränkenden Maßnahmen (beispielsweise die Innenstadtmaut für PKWs mit Verbrennungsmotoren) bevorzugt. Erstere sind jedoch in der Regel weniger wirksam als letztere. Eine aufeinander abgestimmte Kombination dieser beiden Maßnahmentypen hat sich als die effektivste Form für nachhaltige Verhaltensveränderungen herausgestellt.
Zweifel an der menschengemachten Erderwärmung
Charlotte Unger / Clara Mewes / Kathleen A. Mar
Inzwischen gibt es mehr wissenschaftliche Erkenntnisse über den Klimawandel als noch vor einigen Jahren, und extreme Wetterereignisse wie Hitzewellen, Trockenheit und Unwetter machen ihn stärker fühlbar. Trotzdem existieren in einigen Teilen der Bevölkerung – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – Zweifel an der menschengemachten Erderwärmung. Der Personenkreis, der die Erkenntnisse der Wissenschaft und gut belegte Fakten über den Klimawandel nicht anerkennt, wird auch als "Klimawandelskeptiker" oder "Klimafaktenleugner" bezeichnet. Es gibt sie in allen Bevölkerungsschichten, unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkommen oder politischer Einstellung.
Die Klimawandelskepsis beruht meistens auf einem oder mehreren der folgenden Irrtümer: Einer davon lautet: "Menschen sind nicht schuld an den Veränderungen". Während sich die Forschung zu 97 Prozent darüber einig ist, dass vor allem menschliches Handeln den Klimawandel verursacht, behaupten Klimafaktenleugner, dass nicht der Mensch, sondern ausschließlich die Sonne an der Erderwärmung schuld sei. Der Einfluss der Sonne und die Intensität ihrer Strahlen werden in wissenschaftlichen Modellen und Berechnungen aber bereits berücksichtigt.
Obwohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgefunden haben, dass sich die Temperaturen in den vergangenen 2000 Jahren auf Grund menschlicher Aktivitäten so schnell und so stark verändert haben wie noch nie zuvor, argumentieren Klimafaktenleugner, dass der Klimawandel ein rein natürlicher Prozess sei und es schon immer Kalt- und Warmzeiten gegeben habe.
Daran schließt sich die Behauptung an, die "beobachteten Veränderungen seien ‚ganz normal‘‚ ‚nicht so schlimm’ oder gar ‚positiv‘"; vielfach wird betont, dass Temperaturveränderungen von einigen Graden Celsius "keine großen Auswirkungen auf das Leben auf der Erde hätten, und behauptet, dass die Erde grüner geworden sei, Pflanzen dank des Kohlenstoffs besser wüchsen und mehr Ertrag bringen könnten". Ignoriert werden dabei die komplexen Zusammenhänge von Wetter und Klima, von Temperatur- und Meeresspiegelanstieg und die Häufung extremer Wettereignisse in unserem Erdsystem.
Karikatur: Fake News (© Gerhard Mester)
Karikatur: Fake News (© Gerhard Mester)
Schließlich beteuern viele Klimawandelleugner: "Menschen können nichts gegen die Veränderungen tun", um sich so der Handlungsverantwortlichkeit zu entziehen. Auch diese Argumente sprechen auf die vermeintliche Natürlichkeit des Klimawandels an oder aber heben die Machtlosigkeit des Einzelnen oder Deutschlands gegenüber einer globalen Herausforderung hervor.
In den USA ist der Personenkreis, der Falschaussagen zum Klimawandel und Verschwörungsmythen verbreitet, bereits seit dem Ende der 1980er-Jahre sehr aktiv und einflussreich. In Deutschland ist ihr Einfluss auf Öffentlichkeit und Politik jedoch eher gering: Laut ARD-DeutschlandTrend vom Mai 2019 sind nur 13 Prozent der Deutschen der Meinung, dass der Mensch keinen Einfluss auf den Klimawandel hat. Dennoch kann auf Grund der Präsenz von Klimawandelleugnern in den Medien leicht der Eindruck entstehen, dass ihre Stimme unverhältnismäßig viel Gewicht hat.
Falschinformationen und Klimawandel-Zweifel werden vor allem von selbsternannten Think Tanks, Instituten und Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums verbreitet. Solche Gruppen treten als Sprachrohr der Zweifelnden auf und wenden sich meist an die gesamte Bevölkerung. Hinter der Verbreitung von klimawandelskeptischen Aussagen stehen nicht nur persönliche Zweifel und die Abweichung von eigenen Erfahrungen (z. B. die Beobachtung des alltäglichen Wetters) und den Erkenntnissen der Wissenschaft, sondern häufig auch politische und ökonomische Interessen.
Insbesondere konservative Think Tanks stehen oft in Verbindung mit Energiekonzernen, die ihr Geschäftsmodell auf herkömmliche Energiegewinnung stützen, und anderen die Umwelt belastenden Industrien. In den USA hat eine Reihe von Studien belegt, dass es zwischen Energiekonzernen und Think Tanks viele finanzielle Verflechtungen gibt. Die Finanzierung solcher Organisationen ist jedoch häufig schwer zu verfolgen. Viele der öffentlich auftretenden Klimafaktenleugner sind Personen, die zwar eine gewisse Nähe zu den Naturwissenschaften haben, aber keine anerkannten Klimaforscher sind. Und dennoch geben sie sich in der Öffentlichkeit als glaubwürdige Experten mit wissenschaftlicher Autorität auf dem Gebiet aus.
Auch im politischen Raum, vorzugsweise am Rand des rechten politischen Spektrums, gibt es Tendenzen, den Klimawandel zu leugnen, klimawandelskeptische Botschaften zu verbreiten, die menschengemachte Erderwärmung als Märchen und die Klimaschutzdebatte als Hysterie zu bezeichnen. Fälschlicherweise wird in solchen Kreisen verbreitet, dass die Aussage des Weltklimarates, die Klimaänderungen seien vorwiegend menschengemacht, wissenschaftlich nicht gesichert sei.
Klimafaktenleugner lehnen zudem meist Klimapolitik und Maßnahmen zum Klimaschutz ab. Diese Ablehnung stützt sich unter anderem auf die Angst vor den sozialen Folgen des Klimaschutzes – wie möglichen Jobverlusten und höheren Preisen für Benzin, auf wirtschaftliche Interessen oder sie beruht auf Antipathien wie etwa gegenüber Windrädern in der Landschaft.
Skepsis gegenüber dem Klimawandel wird auch durch verschiedene Medien, Zeitungen, Magazine oder Onlineangebote verbreitet. Zum einen werden dort Artikel mit gegenteiligen vermeintlichen Fakten und Argumenten veröffentlicht oder es wird bekannten Klimawandelskeptikern eine Plattform geboten. Generell erscheinen klimaskeptische Beiträge gehäuft im Zeitraum vor und nach Klimatagungen der Vereinten Nationen. Gegenüberstellungen, vermeintliche Streitgespräche und Diskussionen zwischen Wissenschaftlern und Klimaskeptikern gehören aber auch in traditionellen Printmedien zu beliebten journalistischen Formaten. Das ist insofern problematisch, als hier Behauptungen von Klimawandelskeptikern auf eine Stufe mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gestellt werden.
Zum anderen sind auch das Internet und vor allem soziale Medien wie Facebook, Twitter und YouTube beliebte Kanäle für die Verbreitung von Falschmeldungen und skeptischen Botschaften zum Klimawandel. Die schnelle Verbreitung durch solche Medien, aber auch eine überproportionale Vertretung all dieser skeptischen Initiativen, birgt die Gefahr, dass ihre Behauptungen auch ohne Fachwissen geglaubt und weiterverbreitet werden.
Grundsätzlich bedienen sich Wissenschaftsverleugnungen stets derselben Methoden: Sie verdrehen oder verfälschen Studienergebnisse, reißen Zitate oder Fakten aus dem Zusammenhang heraus und bedienen sich nicht zuletzt auch an Verschwörungserzählungen. Die Artikel zitieren häufig Klimastudien aus Fachzeitschriften und wirken somit zunächst wissenschaftlich. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass sie nur jene Studien zitieren, die passende Ansatzpunkte für ihre Argumentation hergeben und dann deren Kernaussagen verdrehen, diese aus dem Kontext reißen und andere Studien unerwähnt lassen. Zusätzlich setzen solche Artikel auf die Ängste von Menschen. Sie sprechen die emotionale Seite der Menschen an und lassen Rationalität und Vernunft außer Acht.
QuellentextPopulismus und Wissenschaft
[…] Populismus und Wissenschaft – ein Spannungsverhältnis, das vielen Forscherinnen und Forschern schon länger Kopfzerbrechen bereitet. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse werden durch populistische Kräfte ohne jeden Gegenbeweis einfach weggewischt. […]
Auch bei der Klimapolitik äußern sich auffällig oft fachfremde Personen und erklären, die internationale Forschung sei nicht ernst zu nehmen. Ähnliche Diskussionen sind bei den Themen Impfen oder auch Risiken durch Zigarettenrauch zu beobachten. Der Präsident der Deutschen Forschungsgesellschaft, Peter Strohschneider, beklagt bereits 2017 Wissenschaftsfeindlichkeit und populistischen Anti-Intellektualismus. […]
Aber warum breiten sich populistische Konzepte auch in der Wissenschaft aus? Warum versuchen autoritäre Politiker […] die Wissenschaft auf Linie zu bringen? Populistische Vereinfachungen und autokratische Durchgriffsideologien verhießen, den Zumutungen der modernen Welt schadlos entkommen zu können, sagt Strohschneider. Deswegen würden die Kräfte dahinter den sachlichen Diskurs verächtlich machen und methodische Wahrheitssuche sowie die Begründungsbedürftigkeit von Geltungsansprüchen negieren. Was dann noch bleibe, seien "alternative Fakten". In der Öffentlichkeit entstehe der Eindruck, es stünden sich zwei Meinungen gegenüber und man könne sich einfach aussuchen, welche "Wahrheit" am besten ins eigene Weltbild passe. Allerdings solle niemand dem Irrtum erliegen, Wissenschaft würde "die" Wahrheit liefern.
Wissenschaft liefere vielmehr verschiedene Anhaltspunkte und methodisch verlässliches Wissen. [...] Das Wissen stehe "unter Revisionsvorbehalt – allein dann ist ja an Erkenntnisfortschritte zu denken". Außerdem sei eine Haltung offener Ehrlichkeit nötig, ebenso wie die Fähigkeit, von sich selbst Abstand nehmen zu können, "also die eigene Expertise nicht schon für das Ganze von Wissenschaft zu halten, die methodische Verlässlichkeit wissenschaftlichen Wissens nicht mit so etwas wie absoluter Gewissheit zu verwechseln". Forschung solle gesellschaftliche und politische Diskurse informieren, könne aber nicht an ihre Stelle treten. […]
Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi hat sich mit dem Einfluss von Expertinnen und Experten auf die Politik beschäftigt. Er betont, die moderne Gesellschaft sei angewiesen auf Sachverständige: "Man kann heute so wenig gegen Experten sein, wie man gegen Verkehr, Geld oder Steuern sein kann. Ohne Experten würden nicht nur die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates lahmgelegt, das gesellschaftliche Leben als Ganzes würde über kurz oder lang zusammenbrechen. Das wissen sogar jene Politiker, die Stimmung machen gegen Experten, um sich mit dem sogenannten Volk gegen die sogenannten Eliten zu verbrüdern. Sobald eine Entscheidung von gewisser Komplexität ansteht, greifen auch Populisten auf den Rat von Experten zurück. Nur tun sie es diskreter. […]
Populismus bedeutet nicht, dass die Politik auf Expertinnen und Experten verzichtet, sondern dass sie die Inszenierung mit ihnen vermeidet. Stattdessen werde eine Darbietung der starken souveränen Führungsfigur geboten, verpflichtet allein der Stimme des Volkes, die gewissermaßen aus ihrem Bauch heraus zu den Menschen spreche. Hirschi meint, Fachleute seien in der modernen Wissensgesellschaft zu einer Konkurrenz für die Politik geworden: "Dass Experten eine derart beliebte Zielscheibe von Populisten werden konnten, war nur möglich, weil sie zuvor von Politikern staatstragender Parteien zu Garanten einer neuen, wissensbasierten Politik hochstilisiert worden waren. […] Experten haben dadurch ein symbolisches Gewicht erhalten, das zuerst zu einer repräsentativen Last, und dann zu einem Reputationsrisiko geworden ist."
Patrick Gensing leitet seit 2017 die Abteilung "ARD-faktenfinder", die er aufgebaut hat. Er lebt in Hamburg.
Patrick Gensing, Fakten gegen Fake News oder Der Kampf um die Demokratie", © Duden 2019, Bibliographisches Institut Berlin, S. 83–95