Auch wenn Deutschland oft den Ruf hat, in Sachen Digitalisierung rückständig zu sein, sind mittlerweile knapp 90 Prozent der Bevölkerung online, bei den 14- bis 29-Jährigen sind es sogar 100 Prozent. Mittlerweile nutzt die Hälfte derjenigen, die das Internet frequentieren, Social Media-Kanäle wie Facebook, Instagram oder Twitter. Die intensive Nutzung dieser Kanäle wirkt sich auch auf die demokratische Partizipation und die Debattenkultur aus.
Auf der einen Seite ist der Zugang zu Wissen so niedrigschwellig und damit auch so demokratisch wie nie zuvor, noch vor wenigen Jahrzehnten war er viel stärker an die finanziellen Möglichkeiten von Menschen gebunden. Auf der anderen Seite stellt das die Menschen jedoch vor neue Herausforderungen. Der ehemalige Vorsitzende von Wikimedia Deutschland, Sebastian Moleski, schrieb dazu in der von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Publikation "Die digitale Öffentlichkeit: Wie das Internet unsere Demokratie verändert": "Zuvor bestand die Herausforderung darin, Quellen zu beschaffen, um Wissen zu erhalten. Heute liegt ein weit höherer Anspruch auf dem Filtern, Auswählen und Bewerten der meist umfangreich vorhandenen Informationen."
Diese Kompetenz ist auch deswegen nötig, weil ein beachtlicher Anteil von Informationen in den Sozialen Medien Falsch- oder gezielte Desinformationen enthält.
Eine Studie, die im Mai 2020 die Wissenschaftler Heidi Oi-Yee Li, Adrian Bailey, David Huynh und James Chan von der Ottawa Universität in Kanada veröffentlichten, zeigte zum Beispiel, dass mehr als ein Viertel der meistgesehenen englischsprachigen COVID-19-Videos auf YouTube irreführende oder ungenaue Informationen enthielt. Nach einer anderen Analyse, die Avaaz, eine international tätige soziale Bewegung, die vor allem Online-Aktivismus betreibt, im Januar 2020 veröffentlichte, wiesen 16 Prozent der Top-100-Videos auf YouTube, die basierend auf dem Suchbegriff "Erderwärmung" empfohlen wurden, Fehlinformationen über den Klimawandel auf.
Im Januar 2020 wurde auf einer Fachkonferenz in Barcelona eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne in der Schweiz und der Bundesuniversität Minas Gerais in Brasilien vorgestellt. Sie befasste sich mit der Rolle von YouTube bei der Radikalisierung und hatte dazu über 300.000 Videos, zwei Millionen Empfehlungen und 79 Millionen Kommentare ausgewertet. Die Analyse zeigte, dass YouTubes Empfehlungssystem rechtsextreme Kanäle unterstützt. Die Algorithmen der Videoplattform sind so angelegt, dass immer radikalere Inhalte präsentiert wurden – und zwar unabhängig von der Thematik.
Dabei hatte der Konzern bereits 2019 bekanntgegeben, dass nachgebessert werde, um die Verbreitung von Verschwörungserzählungen einzuschränken. Darüber hinaus gab YouTube an, unter einschlägigen Videos Wikipedia-Links zu setzen, die ebenfalls aufklären sollten.
Das Problem: Videos wirken generell glaubhafter und überzeugender und lösen meist viel mehr Emotionen aus als Texte. Außerdem wurden die Wikipedia-Artikel nicht speziell dafür geschrieben, die Inhalte der Videos zu dekonstruieren. Es ist also fraglich, ob dieser Versuch der Videoplattform die gewünschten Früchte trägt.
Ob sich durch soziale Medien der Verschwörungsglaube vermehrt hat, lässt sich empirisch nicht eindeutig beantworten, da es keine Studien gibt, die die Entwicklung von Verschwörungsglauben über eine lange Zeit betrachten. Aus verschiedenen psychologischen Studien ist aber bekannt, dass bereits die einmalige Konfrontation mit Verschwörungserzählungen Konsequenzen hat: Menschen, die im Experiment Verschwörungserzählungen zu lesen bekamen, fühlten sich danach stärker von der Gesellschaft entfernt, waren misstrauischer oder beispielsweise weniger bereit, ihr Kind impfen zu lassen – und zwar unabhängig von der eigenen Voreinstellung.
Zwischen Fluch und Segen: Wie beeinflussen soziale Medien unsere Gegenwart?
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Ob sich durch soziale Medien der Verschwörungsglaube vermehrt hat, lässt sich empirisch nicht eindeutig beantworten. Doch viele der dort verbreiteten Inhalte sprechen vor allem Emotionen an und enthalten ungenaue oder fehlerhafte Informationen.
Pia Lamberty ist Doktorandin am Lehrstuhl Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verschwörungsmentalität und Verschwörungsglauben, Kognitive Verzerrungen, Psychologische Reaktionen auf Terrorismus und Repräsentationen von Geschichte und Intergruppenbeziehungen. Zum Thema Verschwörungsmythen, auch in Hinblick auf deren Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, hat sie schon verschiedene Veröffentlichungen vorgelegt. Darunter zuletzt 2020 gemeinsam mit Katharina Nocun: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.
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