Salafismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen hat mehr mit der Moderne und deren Umformungsprozessen als mit islamischer Tradition zu tun. Erst im 20. Jahrhundert entstand der Begriff Salafiyya als Eigenbezeichnung für eine religiöse Strömung bzw. Gruppierung. Zeitgenössischer Salafismus ist demnach nicht, wie von ihm selbst behauptet, "der wahre Islam", sondern eben nur eine Projektion, eine Lesart aus der Neuzeit. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, die historischen Entwicklungen in gegebener Kürze zu skizzieren. Hierzu gehören sogenannte islamisch-puritanische Bewegungen des 17. Jahrhunderts sowie die Entstehung des Wahhabismus im 18. Jahrhundert, der als "modernistisch" benannte Reformsalafismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und islamistische Ideologien, die ab den 1920er-Jahren auftraten.
Purismus und Wahhabismus
Im 17. Jahrhundert strebte innerhalb des Osmanischen Reiches eine nicht ganz unbedeutende puristische Reformbewegung nach Reinheit im Glauben. Die Qadizadeli-Bewegung bestand aus Predigern, die sich gegen die Amoralität ihrer Zeit wandten. Unmoralisch war in ihren Augen der Genuss von Kaffee, Tabak, Wein sowie Singen, Tanzen und Musik. Den Besuch von Heiligengräbern und deren Verehrung verurteilten sie, weil die Heiligen damit unerlaubterweise in die Nähe Gottes gerückt würden. Auch gab es Konfliktpunkte mit Strömungen der islamischen Mystik, dem Sufismus, der damals dominanten religiösen Tradition. Dagegen setzte die puristische Erneuerungsbewegung die Wiederbelebung der Prophetenüberlieferungen, der Hadithkunde (hadīt).
QuellentextWas ist ein Hadith?
In den rund zweiundzwanzig Jahren, in denen Muhammad Gottes Botschaften an die Menschen weitergab, hat er sich vielfach zu seinen Offenbarungen und zu den unterschiedlichsten Ereignissen geäußert. Er sprach Empfehlungen, Verbote und Gebote aus oder erläuterte die göttlichen Botschaften. Diese "Aussprüche" oder "Überlieferungen" Muhammads nennt man Hadithe.
Die Gesamtheit der Überlieferungen wird als "Sunna" bezeichnet, auch dies ist ein arabisches Wort, das mit "Gewohnheit" oder "Tradition" übersetzt werden kann. Mit "Sunna" bezeichnet man aber nicht nur Aussagen des Gesandten, sondern auch seine Anweisungen, nachahmenswerte Handlungen, Billigungen von Handlungen Dritter, Empfehlungen und vor allen Dingen Verbote und religiös-moralische Warnungen, die im Koran nicht enthalten sind.
Die Hadithe wurden von unterschiedlichsten Menschen gehört, gesammelt und aufgeschrieben. Alle Sammler waren davon überzeugt, dass alle ihre aufgezeichneten Hadithe direkt von Muhammad stammten. Aber zunehmend entstanden auch Hadithsammlungen, bei denen man sich nicht mehr sicher war, ob Muhammad diese Aussagen wirklich so formuliert oder überhaupt gemacht hatte. Aus diesem Grund begannen Gelehrte damit, jeden einzelnen Hadith auf seine Zuverlässigkeit zu überprüfen. Daraus entwickelte sich die Hadithwissenschaft (´ilm al-hadīth).
Der Aufbau eines Hadith
Ein Hadith hat immer zwei Teile: die Überliefererkette (isnād) und den Überlieferungstext (matn). Der erste Teil besteht aus der Nennung vieler einzelner Personen, wobei die Person, die Muhammads Aussage tatsächlich persönlich hörte, am Ende der Kette steht. So folgt die Überliefererkette immer dem gleichen Aufbau: "Person A überliefert über Person B, die wiederum über Person C überlieferte, die wiederum über Person D überlieferte usw., dass er den Propheten – Gott segne ihn und spende ihm Heil – hörte, als er sagte: …" Und dann folgt der zweite Teil, also das, was der Prophet tatsächlich gesagt hat. […]
Die Personen, die berichten, nennt man "Gewährsleute", wobei man zwischen denen unterscheidet, die den Propheten selbst gehört oder gesehen und etwas davon überliefert haben (sahābī, Pl. ashāb), und denen, die einen sahābī trafen und etwas von ihm überliefert haben (tābī´ī, Pl. tābī´ūn).
[…] Die Hadithwissenschaft geht in erster Linie der Frage nach, ob Muhammad dieses oder jenes wirklich gesagt haben kann. Um dies herauszufinden, überprüfen die Gelehrten unter anderem, ob die Überliefererkette lückenlos und die eigentliche Aussage echt sind. Dabei versucht man, vor allem folgende Fragen zu lösen:
Zur Überliefererkette: Können sich wirklich alle Gewährsleute gekannt haben? Lebten sie überhaupt zur gleichen Zeit? Können sie den Propheten getroffen und gehört haben? Wie zuverlässig sind diese Personen? Verlässliche Informationen geben noch heute die "Bücher über die Gewährsleute" (kutub ar-ridschāl), die ausführliche Biographien über die einzelnen Personen enthalten.
Zu den Hadithtexten: Stimmt der Wortlaut von verschiedenen Hadithen überein? Wenn nicht, warum nicht? Wer hat diese Hadithe so zitiert? Stimmen die Inhalte der Hadithe mit den Aussagen im Koran überein, oder gibt es einen Widerspruch? […]
Doch warum sind Hadithe für Muslime so wichtig? Die Hadithe erklären Koranverse, die sonst für viele Menschen unverständlich sind. Sie erklären vor allem, wie Muhammad vor 1.400 Jahren zu bestimmten Dingen stand und wie er sie bewertete. Die Sunna des Propheten ist für Muslime nach dem Koran die zweitwichtigste Quelle für ihr tägliches Leben. […]
Der Islam. Für Kinder und Erwachsene, erklärt von Lamya Kaddor und Rabeya Müller, Verlag C. H. Beck, München 2012, S. 74 ff.
All diese Einstellungen, außer vielleicht die Ablehnung des Kaffeegenusses, charakterisieren noch heute die Salafistenszene. Die Hinwendung zum Hadith, zur Prophetenüberlieferung, war und ist eine Möglichkeit, sich gegen die etablierten islamischen Methodenschulen zu stellen. Denn der große Fundus klassischer Hadithsammlungen bietet dem Betrachter Interpretationsspielräume, die dieser ganz im Sinne seiner Absichten ausschöpfen kann, je nachdem, welche Überlieferung er auswählt und in welchen Kontext er sie stellt. Zusätzlich kommt die Schwierigkeit hinzu, dass die Authentizität der Überlieferungen unterschiedlich beurteilt wird.
Die Wissenschaft hat Reformbewegungen wie die Qadizadeli-Bewegung zum einen mit zunehmenden, sich ausdifferenzierenden wechselseitigen Abhängigkeiten innerhalb der muslimischen Gesellschaft erklärt, aber in diesem Zusammenhang auch auf die wachsende Verflechtung der muslimischen mit der europäischen Welt hingewiesen. Andererseits lassen sich Ausbrüche von moralistischem Aktivismus, wie sie im 10. und 11. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt hatten, im Laufe der Geschichte immer wieder beobachten.
Der Begründer des Wahhabismus, Ibn Abd al-Wahhab (Muhammad ibn Abd al-Wahhab, 1702–1792), folgte dieser Tradition des moralistischen Aktivismus. Er orientierte sich an Ahmad ibn Hanbal (Ah˙mad ibn H˙anbal, 780–855), dem Begründer der hanbalitischen Schule, der kleinsten der Methodenschulen. Diese bestand auf einer wortgetreuen Auslegung des Korans, lehnte koranische Metaphern ab und unterschied sich in ihrer theologisch-dogmatischen Geisteshaltung von den anderen drei sunnitischen und den schiitischen Rechtsschulen. Diese Elemente wurden Jahrhunderte später Grundlage des Wahhabismus und salafistischer Konstruktionen.
Der Wahhabismus entstand auf der arabischen Halbinsel, im Norden des heutigen Saudi-Arabien. Die Verbundenheit mit dem Königshaus Saud gehört seit dem 18. Jahrhundert bis heute zu den Wesensmerkmalen des Wahhabismus. Sie geht zurück auf einen wechselseitigen Treueeid, den Ibn Abd al-Wahhab und der Emir Muhammad Ibn Saud einander leisteten. Der Pakt zielte auf die Errichtung eines Staates, bei dem der Emir für die politischen, militärischen und Ibn Abd al-Wahhab für die religiösen Angelegenheiten zuständig sein sollten.
Während "Wahhabit" bereits kurz nach Gründung des ersten saudischen Staates im Jahre 1744 von den Gegnern dieser religiösen Neuinterpretation als Schmähbegriff geprägt wurde, bezeichneten sich dessen Anhänger lieber als "Einheitsbekenner" (ahl at-tauhīd). Keinesfalls wollten sie nach einer religiösen Autorität benannt werden, da doch gerade sie nach ihrem Eigenverständnis keine individuelle Auslegung, sondern den einen richtigen, reinen Glauben vertraten.
Muhammad Ibn Abd al-Wahhab entwickelte eine Lehre, deren Kern die rigide Anwendung von Rechtsvorschriften und eine extreme Definition des Monotheismus war. Dies widersprach der Tradition der sunnitischen Rechtsschulen und machte den größten Teil seiner muslimischen Zeitgenossen in seinen Augen zu Ungläubigen. Ibn Abd al-Wahhab bekämpfte einen vermeintlichen Heiligen- und Gräberkult im Volksislam, den Sufismus (mystischer Islam) und die Schiiten. All diesen Glaubensrichtungen und ihren Anhängern unterstellte er Vielgötterei, da ihre Verehrung sich nicht auf Gott allein konzentriere. Der wahre Monotheist müsse den Kontakt mit ihnen vermeiden und sich aktiv gegen sie einsetzen, da er sich sonst auf eine Stufe mit diesen Ungläubigen begebe.
Das von Muhammad Ibn Abd al-Wahhab verfasste "Buch des Monotheismus" (kitāb at-tauhīd) genießt unter Salafisten bis heute hohes Ansehen und ist in deutscher Übersetzung seit 2008 im Internet abrufbar. Die rigide Dogmatik Ibn Abd al-Wahhabs wurde vom Königshaus Saud zur Staatsreligion erhoben. Es sieht sich bis heute nicht nur als Hüter der Kaaba, der Pilgerstätte in Mekka, sondern auch als Statthalter des Islam allgemein.
Der Salafismus der Gegenwart teilt mit dem Wahhabismus das enge Monotheismusverständnis und die damit einhergehende Abneigung gegen Sufis (islamische Mystiker), Schiiten und Nichtmuslime. Auch die strenge dogmatische Ausrichtung und deren Herleitung verbinden ihn mit dem Wahhabismus. Aber die heutigen Salafisten lösen sich auch von der in Saudi-Arabien verbindlichen Orientierung an der hanbalitischen Schule und kündigen zum Teil ihre Loyalität gegenüber der saudischen Monarchie stillschweigend oder sogar ausdrücklich auf. Damit denkt der Salafismus die radikalen Ideen Ibn Abd al-Wahhabs konsequent zu Ende.
Modernistischer Reformsalafismus
Ein weiterer historischer Entwicklungsstrang des Salafismus ist eine reformistische Strömung, die um die Wende zum 20. Jahrhundert entstand. Ihr Einfluss auf die Salafisten von heute ist zwar weitaus geringer als der des Wahhabismus, doch können einzelne Vertreter dieser modernistischen Reformströmung, die in der islamwissenschaftlichen Literatur auch als klassischer Salafismus bezeichnet wird, durchaus als allgemein prägende Vordenker angesehen werden. Sie hatten erlebt, wie sich die europäischen Mächte Kolonien und somit wirtschaftlichen und politischen Einfluss im Orient verschafften und diesen als schwach und rückständig erscheinen ließen. Dadurch sahen sie sich dazu veranlasst, eine Rückbesinnung auf den Koran und auf die Zeit der ersten Muslime zu fordern, obwohl sie den Errungenschaften der Moderne, vor allem den technischen, durchaus aufgeschlossen gegenüber standen. Ihrer Ansicht nach hatte die Vernachlässigung der Religion zum Niedergang des islamischen Herrschaftsbereiches geführt (Dekadenztheorie). Diese Strömung des modernistischen Reformsalafismus war von Indonesien bis zum Maghreb zu beobachten, am sichtbarsten und von besonders nachhaltiger Wirkung aber war sie in Ägypten.
Einer ihrer wichtigsten Vertreter war der in Kairo lebende panislamische Aktivist al-Afghani (Ğamāl ad-Dīn al-Afğānī, 1838–1897). Durch das Zusammenstehen aller Muslime (Panislamismus) sollte dem Vormarsch der europäischen Mächte Einhalt geboten werden. Al-Afghani befürwortete eine westliche, technische Bildung für die Muslime. Das tradierte Religionsverständnis der sunnitischen Rechtsschulen ließ er außerhalb seines elitären Schülerzirkels unangetastet.
Sein bedeutendster Schüler Muhammad Abduh (Muh˙ammad Abduh, 1849–1905) war Modernist und befürwortete auf lange Sicht die Übernahme eines parlamentarischen Systems. Andererseits überwarf er sich mit der Kairoer al-Azhar Universität, einer bedeutenden religiösen Autorität der islamischen Welt, da sie in seinen Augen zu philosophie- und literaturfreundlich und zu wenig religiös ausgerichtet war. Für die Entwicklung des Islamismus ist er vor allem durch seinen Meisterschüler Muhammad Rashid Rida (Muh˙ammad Rašīd ibn ´Alī Rida, 1865–1935) von Bedeutung.
Rashid Rida wollte dem Islam, dessen deutliche Überlegenheit er nachzuweisen suchte, zu neuer Geltung verhelfen. Rida entwarf das Modell eines islamischen Staates. Sein Buch "Das Kalifat oder Groß-Imamat" erschien 1923 kurz vor der Abschaffung des osmanischen Kalifats im Jahre 1924. Für Rida ist das Kalifat durch Konsens, Prophetentradition und klassische politische Theorie verbindlich gefordert. Allerdings könne das Amt aus Mangel an geeigneten Persönlichkeiten nicht besetzt werden. Nur die ersten vier Kalifen nach Muhammads Tod hätten dem geforderten Ideal entsprochen. Stattdessen schlägt Rida vor, Religionsgelehrte als Repräsentanten des Volkes einzusetzen und die Gesetzgebung in die Zuständigkeit von "Entscheidern" zu geben, die maßgeblich auch aus dem Kreise der Religionsgelehrten stammen sollten. Verbindlich sei das Prinzip der Konsultation (šura) zwischen Herrscher und Volk. Klassische Regeln zum Widerstandsrecht gegen Ungerechtigkeit seien zu respektieren.
Auch für die Reformsalafisten ist die Hinwendung zum Hadith, zu den Prophetenüberlieferungen, kennzeichnend. Wie bereits die Puristen des 17. und 18. Jahrhunderts nutzten auch die Reformsalafisten den großen Fundus klassischer Hadithsammlungen, um je nach getroffener Auswahl eigene Kontexte zu legitimieren und sich gegen den etablierten Konsens der Rechtsschulen zu stellen. Kein Vertreter des Reformsalafismus hatte eine klassische theologische Ausbildung genossen. Sie waren theologische Laien.
Begründer des Islamismus
Nur wenige Jahrzehnte später nahm Hasan al-Banna (Hasan al-Banna, 1906–1949) eine herausragende Rolle ein. Im Alter von 23 Jahren gründete er die sunnitische Muslimbruderschaft, die er im Laufe seines Lebens zu einer Massenbewegung in Ägypten machte. Bis heute ist die Muslimbruderschaft ein politischer Faktor in Ägypten und ist auch in anderen Ländern der muslimischen Welt präsent. Die Zahl der aktiven Mitglieder wird in Ägypten auf ca. eine Million und in Deutschland auf mindestens 1.300 Anhänger geschätzt. Etliche islamistische Organisationen wie zum Beispiel die palästinensische Hamas, die tunesische Ennahda oder die im Sudan regierende "Nationale Kongresspartei" sind aus ihr hervorgegangen.
Al-Banna war der Sohn eines Uhrmachermeisters und arbeitete als Lehrer. Früh betätigte er sich als Laiengelehrter. Westlichen Einflüssen gegenüber misstrauisch, galt er als bodenständig, fromm und unintellektuell. Seine Organisation sprach vor allem die Mittelschicht an und war auch für die unteren Gesellschaftsschichten offen. Kernthemen der Muslimbrüder waren die islamische öffentliche Ordnung und der Antikolonialismus. Konflikte innerhalb der Bruderschaft wurden im Interesse der Einheit eher heruntergespielt. Schon kurz nach der Gründung der Muslimbruderschaft im Jahre 1928 richtete die Bewegung Schulen, Krankenhäuser und wohltätige Einrichtungen ein. Während 1936 die Bruderschaft circa 20.000 Mitglieder zählte, wurde sie 1944 schon auf eine halbe Million Mitglieder geschätzt und hatte erheblichen Einfluss auf Staat und Gesellschaft in Ägypten gewonnen.
Ab 1940 formierte sich innerhalb der Muslimbruderschaft ein militanter "Geheimer Apparat", über dessen Existenz bis 1948 nur wenige Mitglieder informiert waren. Solche Geheimapparate waren damals auch bei Parteien nicht ungewöhnlich. Nach Kriegsende kam es zu ersten Anschlägen auf britische Einrichtungen, später auf Behörden und Regierungsangestellte. Ab 1948 beteiligten sich Muslimbrüder aktiv am Kampf um Palästina. Als Ende 1948 der Polizeichef von Kairo bei bewaffneten Zusammenstößen getötet wurde, wurde die Muslimbruderschaft zunächst aufgelöst. Kurze Zeit später kam Hasan al-Banna durch ein Attentat ums Leben, das aller Wahrscheinlichkeit nach von der Geheimpolizei ausgeführt wurde.
Al-Banna hinterließ eine streng organisierte Massenbewegung, deren Organisationsstruktur am Vorbild westlich-christlicher Organisationen und politischer Parteien, einschließlich der faschistischen und marxistisch-leninistischen Massenparteien Europas, orientiert war. Viele Aktivitäten im Wohltätigkeitsbereich verschafften der Muslimbruderschaft eine große Breitenwirkung. Innerhalb der Organisation konnten engagierte Mitglieder unabhängig von der eigenen Herkunft im Rang aufsteigen. Früh bildeten sich Vertretungen der Muslimbruderschaft in anderen arabischen Ländern wie Syrien oder Jordanien. Aus dem palästinensischen Zweig ging 1987 die Hamas hervor. Auch nach dem Tod Al-Bannas verfolgte die Muslimbruderschaft das Ziel, eine auf der eigenen Interpretation des Islam basierenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu etablieren; notfalls auch mit gewaltsamen Aufständen gegen die jeweilige Staatsmacht.
Eine weitere Persönlichkeit, deren geistiger Einfluss auf radikale Gruppen bis heute nicht zu unterschätzen ist, war der Ägypter Sayyid Qutb (Saiyid Qutb, 1906–1966). Er hatte zunächst wie Banna eine ähnliche Lehrerausbildung durchlaufen, arbeitete dann aber im Bildungsministerium und später als Publizist. Er war intellektueller als Banna, interessierte sich in jungen Jahren für den Kairoer literarischen Zirkel und schrieb Literaturkritiken. Für das Massenelend und die sozialen Missstände in Ägypten nach dem Kriegsende 1945 machte er den Westen verantwortlich, dem er Materialismus und moralische Prinzipienlosigkeit vorwarf. Die pro-britische Politik der ägyptischen Regierung lehnte er ab. Sein erstes Buch aus dem Jahr 1949 widmete sich der "Sozialen Gerechtigkeit im Islam".
Qutb trat erst 1953 der Muslimbruderschaft bei, der er zuvor mangelnde Entschlossenheit im Kampf gegen die Briten vorgeworfen hatte. Nach einem versuchten Attentat auf Ministerpräsident Gamal Abdel Nasser, für das die Muslimbruderschaft verantwortlich gemacht wurde, kam es zu Massenverhaftungen und Todesurteilen. Auch Qutb wurde verhaftet, 1964 für kurze Zeit entlassen, 1965 wieder inhaftiert und ein Jahr später mit zwei weiteren Angeklagten zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil wurde am 29. August 1966 vollstreckt. Während seiner Haft schrieb Qutb zwei weitere Werke, "Im Schatten des Korans" und "Wegzeichen", die bis heute große Wirkung entfalten. Sayyid Qutb war unter anderem überzeugt, dass die muslimischen Länder unter der Knechtschaft autokratischer Regime stünden und von diesen nur durch die Herrschaft des "wahren Islam" erlöst werden könnten.
Wahhabismus und Islamismus
Maßgebend in der Entwicklung des Salafismus ist die punktuelle Verschmelzung des saudischen Wahhabismus und seiner salafistisch-puristischen Strömung mit dem Islamismus ägyptischer Prägung. Aus diesem Prozess entstanden weitere Verzweigungen und Ausdifferenzierungen bis hin zum radikalen Salafismus, der den aggressiven Dschihad propagiert.
Aufgrund der Verfolgung durch das Nasser-Regime in Ägypten und die Regime in Syrien und Irak flohen viele Angehörige der Muslimbruderschaft nach Saudi-Arabien. Die Immigranten wurden aufgrund ihrer guten allgemeinen Bildung und ihrer Religiosität bald in den akademisch-religiösen Bildungsapparat integriert.
Seit den 1960er-Jahren wird durch die Universität in Medina, aber auch durch saudische Stiftungen weltweit islamistisches Gedankengut salafistischer Prägung verbreitet. Etliche Muslime kommen aus verschiedenen Ländern zum religiösen Studium an die Universität nach Medina, was durch Stipendien saudischer Einrichtungen gefördert wird. So hat heute die wahhabitisch geprägte Auslegung des Islam eine angesichts ihrer theologischen und moralischen Strenge erstaunlich weite Verbreitung.
Autoritäten des zeitgenössischen Salafismus
Bedeutende Vertreter des populären Salafismus sind Al-Albani (Muh˙ammad al-Albanī, 1914–1999), Ibn Baz (´Abd al-Azīz ibn Baz, 1910–1999) und Ibn Uthaymin (Ibn ´Utaymīn, 1925–2001), die alle in Saudi-Arabien gewirkt haben. Aus ihren Büchern speist sich ein Großteil der heutigen Ideologie. Ihr Wirken und Auftreten als puritanische Gelehrte verstärkte eine Vergeistigung (Spiritualisierung) der salafistischen Bewegung.
Ibn Baz wurde in Saudi-Arabien geboren und erblindete mit 16 Jahren. Nach seiner religiösen Ausbildung wirkte er an der Universität in Medina, wo er stellvertretender Direktor war. Anfang 1990 forderte er gemeinsam mit Ibn Uthaymin Reformen im Rechtssystem des bisher absolutistisch regierten Saudi-Arabien und wurde zum Vorsitzenden des ständigen Komitees für Rechtsfragen und 1994 als Minister für religiöse Studien ins Kabinett berufen.
Ibn Uthaymin unterrichtete bis kurz vor seinem Tod "Islamisches Recht" in Saudi-Arabien. Er war Mitglied des Konsultativrats, der die Aufgabe hat, die Regierung zu beraten. Gemeinsam mit Ibn Baz veränderte er über den Wahhabismus hinaus die traditionelle sunnitische Gelehrsamkeit zugunsten einer salafistischen Prägung. Entscheidungen und Beurteilungen sollten nur aus dem Koran und den Prophetenüberlieferungen abgeleitet sein; der Konsens der (früheren) Gelehrten sei nur gültig, wenn er durch diese Quellen belegt sei.
Al-Albani gilt als Autorität im Bereich der Prophetenüberlieferungen. Er lehrte an der Universität von Medina und vertrat wie Ibn Baz und Ibn Uthaymin eine fundamentalistische Ausrichtung und den Anspruch, den einzig wahren Islam zu vertreten. Mit ihrem Eindeutigkeits- und Wahrheitsanspruch setzten sie sich über tradierte Methoden der islamischen Gelehrsamkeit hinweg und vertraten eine sehr rigide und dogmatische Interpretation des Islam. Al-Albani hat nachweisbar aus den Prophetenüberlieferungen zielgerichtet die Stellen ausgewählt, die seine eigene Meinungsfindung bestätigten. So bediente er sich auch Überlieferungen, deren Authentizität nach traditioneller Beurteilung als nicht gesichert gilt. Infolgedessen wurde vieles als religiös verboten (haram) tituliert, was bisher durchaus erlaubt war: das Hören von Musik (nur Gesang und Trommeln seien gestattet), das Gratulieren Andersgläubiger zu deren Festen. Auch Make-up bezeichnete al-Albani als "Zierde der rebellischen und ungehorsamen Frauen von Europa", das für Musliminnen natürlich verboten sei.
All dies widerspricht der gängigen Praxis und dem Lebensalltag der Muslime – selbst in einem Land wie Saudi-Arabien, das als besonders streng in der Auslegung islamischer Regeln gilt. Traditionell wurde den koptischen Christen in Ägypten, den syrischen Christen oder den Juden im Jemen zu religiösen Festen gratuliert, was durchaus auch mit Prophetenüberlieferungen oder Koranversen belegt werden kann. Ebenso spielt Musik von Nordafrika bis Indonesien innerhalb der religiösen und kulturellen Sphäre traditionell eine wichtige Rolle.
Die innermuslimische Kritik an diesen Theoretikern des Salafismus richtet sich vor allem gegen deren rigides Religionsverständnis, das eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Religionsgeschichte, der Wirkungsgeschichte, dem eigenen Standpunkt oder historischen Bezügen vermissen lässt. Ohne Kontext und (soziologische und literaturwissenschaftliche) Bezüge, also die angemessene Einordnung, bliebe lediglich ein Ansammeln religiös-verklärten Wissens. Eine Annäherung an die eigentliche Intention Gottes sei so unmöglich.
Vom Purismus zum Dschihad
Al-Albani, Ibn Baz und Ibn Uthaymin sowie deren puristische Anhänger lehnen das offene gesellschaftliche Engagement in Form der Beteiligung an Parteien oder Gruppen ab. Dies gefährde die Einheit der Muslime und die Reinheit des Glaubens. Nach diesem Vorbild propagieren auch deutsche Salafisten eine moralische Abschottung. Allerdings sind sie, entgegen ihrer Selbstzuschreibung, sehr wohl politisch. Denn ihr Missionseifer reicht weit über das Private hinaus, ist das ersehnte Ziel doch eine Gesellschaft nach dem Vorbild der erträumten Urgemeinde in Medina.
Wenn – wie im September 2014 geschehen – junge männliche Salafisten samstagabends durch eine deutsche Innenstadt ziehen, um andere junge Menschen vom Gang zur Disco abzuhalten, sich dabei in grell-orangene Jacken mit der Aufschrift "Sharia-Police" kleiden und die gefilmte Aktion ins Internet stellen, orientieren sie sich an der wahhabitisch-salafistischen Praxis, wie sie teilweise in Saudi-Arabien oder dem Sudan vorkommt.
Gesetztere Salafisten mögen über diese Provokation womöglich die Köpfe schütteln. Andererseits steht die Aktion aber sinnbildlich für das Anliegen fast aller Salafisten: durch Mission die Gesellschaft zu verändern. In diesem Sinne sind auch die Aussagen nicht nur deutscher Prediger gerade hinsichtlich der Gewaltfrage oft zweideutig. Al-Albani rechtfertigt zum Beispiel Selbstmordattentate von Palästinensern als Märtyreroperationen, sofern sie innerhalb einer militärisch "sinnvollen" Aktion erfolgten.
Wie sehr hier kulturelle und religiöse Umbrüche stattgefunden haben, zeigt sich daran, dass vor 1993 aus der sunnitisch-arabischen Welt kein einziges Selbstmordattentat mit religiöser Begründung bekannt ist. Der Prophet Muhammad verdammte vielmehr den Wunsch zu sterben und auch die Hoffnung auf ein Zusammentreffen mit dem Feind.
Dschihad (gīhād) bedeutet in der wörtlichen Übersetzung "Anstrengung", und zwar eine Anstrengung zum Wohlgefallen Gottes. Krieg heißt auf Arabisch "Harb" (harb). Im heutigen Sprachgebrauch wird der Begriff Dschihad in vielen arabischsprachigen Ländern auch im Sinne einer allgemein-gesellschaftlichen Anstrengung benutzt: etwa ein Dschihad für ein besseres Gesundheits- oder ein besseres Bildungswesen. Spätestens seit dem Denker al-Ghasali (al-Gāzzalī, 1058–1111) unterscheidet die islamische Theologie zwischen einem "großen Dschihad", der die Anstrengung bzw. den Kampf gegen schlechte Charaktereigenschaften meint, und einem "kleinen Dschihad", der auch einen militärischen Kampf meinen kann. Bedeutender und gottgefälliger sei aber der "große Dschihad", welcher der Vervollkommnung des Seelenheils diene.
Das klassische islamische Recht, wie es sich ab dem 8. Jahrhundert entwickelt hat, sieht eine individuelle Pflicht zum kämpferischen Dschihad nur bei einem direkten Angriff vor, also im Verteidigungsfall, der von einem islamischen Herrscher ausgerufen werden muss.
Ab der Zeit der Dynastie der Umayyaden (661–750 n. Chr.) bildete sich ein stehendes Heer. Im Mittelalter galt es als legitim, den eigenen Herrschaftsbereich weiter auszudehnen. Byzanz und das Sassanidische Reich waren die großen Gegenspieler. Hier sprach man von einer kollektiven Dschihadverpflichtung, die von einem stehenden Heer übernommen wurde (vgl. Seidensticker 2014: 106 f.). Dabei handelte es sich zunächst nicht um Missionskriege, sondern um Gebietserweiterungen, die neben militärischen Mitteln auch auf Verhandlungen und einer Vertrags- und Steuerpolitik beruhten.
Doch entwickelte sich in der Zeit militärischer Expansionen unter den Umayyaden und den frühen Abbasiden eine machtorientierte, klassische Interpretation des Dschihad, die diejenigen Koranverse, die eine nur defensive Ausrichtung gegen Angriffe erkennen lassen, durch andere Verse abrogiert, also aufgehoben, sah (vgl. Rohe 2011, S. 149 f.).
Von der klassischen, auch machtorientierten Interpretation sind die allermeisten modernen Autoren abgerückt. Bis auf einzelne Verwirrte fordert niemand, islamisch beherrschtes Territorium gewaltsam zu erweitern. Die höchste Kommission von Rechtsgelehrten der Azhar-Universität in Kairo, der wohl angesehensten Hochschule im sunnitischen Islam, sieht in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2001 den Dschihad als "Vaterlandsverteidigung". Exemplarisch sei auch der syrische Großmufti Ahmad Badr al-Din Hassun genannt, der vor dem Europäischen Parlament 2008 äußerte: es gebe keine heiligen Kriege, nur der Friede sei heilig. Menschen sollten niemals die Religion missbrauchen, um andere Menschen zu töten (Vgl. Rohe 2011, S. 216 f.).
Spätestens seit Sayyid Qutb propagieren radikale Islamisten einen offensiven, kämpferischen Dschihad, den sie zu einer individuellen Pflicht erklären. Dieser sollte sich zunächst gegen die unmoralisch handelnden arabischen Herrscher richten und zielt aktuell auch auf die kulturelle, wirtschaftliche und politische Vorherrschaft des Westens, die die Muslime in die Defensive gebracht habe. Eines der bekanntesten Traktate hierzu stammt von Abdassalam Faraj, einem ägyptischen Elektroingenieur und Angehörigen der Gruppe, die 1981 das Attentat auf den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat verübte.
Die sowjetische Invasion in Afghanistan im Jahre 1979 hatte eine weitere Radikalisierung zur Folge. Anfangs wurde der Widerstand nur von afghanischen Kämpfern geführt, die sich selbst Mudschahidin (Dschihad-Kämpfer, Sing. muğāhid) nannten. Doch bald erhielten sie Solidarität und Zulauf aus der muslimischen Welt. Bis 1989 unterstützten auch die USA die Mudschahidin im Kampf gegen die Sowjetunion. So zahlten sie ihnen rund drei Milliarden US-Dollar, wobei das Geld über den pakistanischen Geheimdienst (Inter-Services Intelligence, ISI) vorwiegend an streng islamistische Gruppen verteilt wurde.
Osama Bin Laden (´Usāma ibn Lādin, 1957/1958-2011), Sohn eines aus dem Jemen stammenden saudischen Bauunternehmers und Milliardärs, richtete ab 1984 ein Gästehaus und eine Art Dienstleistungsagentur für arabische Kämpfer im pakistanischen Peschawar ein. Sein Mentor war Abdallah Azzam (´Abdullah Azzam, 1941–1989), ein palästinensischer Religionsgelehrter, der in Damaskus und Kairo studiert und sich der Muslimbruderschaft angeschlossen hatte. Er verschärfte das klassische Dschihad-Konzept und entwickelte die Lehre von der Pflicht aller Muslime zum Kampf, sobald islamisches Territorium durch Nichtmuslime besetzt sei.
Zu Osama Bin Laden stieß der ägyptische Arzt Aiman az-Zawahiri (´Ayman az˙-Zawāhīr, geb. 1951). Dieser war nach dem Attentat auf Sadat drei Jahre lang inhaftiert gewesen, 1985 nach Pakistan übergesiedelt und gilt als einer der Wiederbegründer der ägyptischen Gruppierung "Islamischer Jihad", die starken Einfluss auf Bin Laden hatte. 1988 gründete Bin Laden die Terrororganisation al-Qaida. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte Bin Laden 1996 den USA und ihren Verbündeten den Krieg. Die Attentate auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington am 11. September 2001 sollten zum ökonomischen oder politischen Zusammenbruch der USA führen oder aber diese zu einer militärischen Aktion provozieren, welche die Muslime in aller Welt gegen die USA und deren Verbündete aufbringen würde. Das Ungleichgewicht der Kräfte sollte beendet werden. Doch diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Erst der Angriff auf den Irak 2003 bescherte al-Qaida wieder neuen Auftrieb. Der von Washington vorgebrachte Kriegsgrund, dass Iraks Alleinherrscher Saddam Hussein angeblich über Massenvernichtungswaffen und Kontakte zu al-Qaida verfüge, stellte sich als offensichtliche Unwahrheit heraus. Dies bescherte al-Qaida einen neuen Zustrom an Kämpfern und Unterstützern.
Es entstanden Zweigorganisationen und weitere Gruppierungen, darunter der sogenannte Islamische Staat (IS). Dessen Geschichte begann bereits in den 1990er-Jahren und ist verbunden mit Ahmad Fadhil Nazzal al-Khalayla, später bekannt unter seinem Kriegsnamen al-Zarqawi. Dieser, ein ehemaliger jordanscher Kleinkrimineller, der zum Glauben "wiedererweckt" worden war, hatte sich zunächst al-Qaida angeschlossen. Er gründete dann ein eigenes Trainingslager in Afghanistan, um das ein weiteres Netzwerk entstand und das ab 2004 als "al-Qaida im Irak" in Erscheinung trat.
Als al-Zarqawi 2006 bei einem Luftangriff der amerikanischen Luftwaffe getötet wurde, hatte er die Grundlage für die Gruppe "Islamischer Staat im Irak" bereits gelegt. Es war dann im Juli 2014 Abu Bakr al-Baghdadi, der in Gebieten des Irak und Syriens den "Islamischen Staat" (IS) ausrief. Möglich geworden war dies, weil nach dem Sturz von Saddam Hussein im Jahre 2003 auf Betreiben der damaligen US-Verwalter die gesamte irakische Armee und weite Teile des Staates aufgelöst worden waren. Viele Offiziere, darunter nicht nur treue Saddam-Anhänger, fühlten sich ungerecht behandelt, gründeten die sogenannten Baath-Brigaden und traten in den Widerstand gegen die US-Truppen.
Unter dem im April 2006 nominierten neuen schiitischen Präsidenten Nuri al-Maliki sahen sich viele irakische Sunniten von allen Machtzentren ausgeschlossen. Al-Maliki wurde Machtmissbrauch vorgeworfen, ein breiterer Widerstand formierte sich. Ihm schlossen sich bereits aufgelöst geglaubte islamistische Gruppen an, aber auch ehemalige Stammesmilizen, die zuvor gegen al-Qaida gekämpft hatten. Im Oktober 2006 resultierte daraus die Gründung des "Islamischen Staates im Irak".
In den Jahren bis 2010 stiegen die ehemaligen Offiziere, alte Geheimdienstler, Kommandeure ehemaliger Spezialeinheiten und ehemalige Baath-Parteifunktionäre des Saddam-Hussein-Regimes innerhalb der "al-Qaida im Irak" und später beim "Islamischen Staat im Irak" diskret auf. Bei Letzterem übernahmen sie ab 2010 auch die Führung. Der Bezug auf den Islam wurde als strategisches Mittel eingesetzt. Die langgedienten Mitarbeiter aus Saddam Husseins Sicherheitsapparat bauten das Nachrichtendienstwesen sowie den Propagandaapparat der Terrororganisation auf und prägten deren militärisches Vorgehen.
QuellentextEinfluss und Verantwortung des Westens
Frankfurter Rundschau: Herr Fatah, […] [h]at der Irak eine Zukunft? Ein Land am Nullpunkt, in dem sämtliche Sicherheiten weggebrochen sind. […]
Sherko Fatah: Ich glaube nicht, dass man diesen Scherbenhaufen wieder zusammensetzen kann, weder Syrien noch den Irak […], denn diese Nationalstaaten […] sind hinwegkonstruiert über eine Landschaft, die ganz anderen Gesetzen folgt. Der Irak könnte ein reiches Land sein […], wenn da nicht diese Zerrissenheit im Innern wäre. Und wie soll man die überwinden, wenn nicht durch eine Neuverteilung und eine neue Grenzziehung. Das ist ein Dilemma, und ich verstehe, warum wir an der alten Kolonialordnung festhalten. Denn wir fürchten, dass es sonst gar keine mehr gibt. Andererseits, wenn ich mir Syrien anschaue, dann ist die schon weg, oder? […]
FR: Sie haben immer wieder zugleich auf die enormen Versäumnisse aufmerksam gemacht, die sich der Westen hat zuschulden kommen lassen. Wie sahen die Verheißungen des Westens aus? Waren es bloß materialistische Versprechen oder doch auch Werte und Normen?
Fatah: […]Der westliche Einfluss hatte tiefgreifende Folgen, er führte zu einer starken Säkularisierung, dadurch kamen Werte ins Spiel. Vor allem das Kino hat die Empfängerkultur verändert. Auf Fotos kann man heute noch sehr gut sehen, wie säkular die Gesellschaft war, sogar noch in den achtziger Jahren. […] Der Kalte Krieg hatte seine besonderen Bedingungen, und eine dieser Bedingungen war der beharrliche Kampf um Einflusssphären, mit harten Bandagen […]. Zur Staatspolitik der Amerikaner und der Russen gehörte, dass man etwa im Nahen Osten die brutalsten Diktatoren unterstützte, sofern sie einem dienlich waren. […] Deren Herrschaft wurde nicht nur im Irak immer gewalttätiger und schrecklicher. Das hat die Gesellschaften nach innen hin zerstört, es gibt keinen Gemeinsinn mehr. Als dann der Deckel abgenommen wurde, fielen alle übereinander her. Gemeinschaft und Gemeinsinn waren nach innen hin zerstört, weil immer wieder Wölfe als Bundesgenossen gesucht wurden.
FR: Der Vorwurf lautet: die Doppelmoral des Westens.
Fatah: Ja, und das über Jahrzehnte. Mubarak, Saddam: Das war in der Wahrnehmung der Bevölkerung der Westen, die haben sich doch dem Westen an den Hals geworfen. Oder Gaddafi: Das sollte der Westen sein, die Säkularisierung? Das Volk hat sie ausschließlich als Mörder und Tyrannen erlebt. Der Westen hat eine Mitschuld an der Entwicklung. Alle diese Diktatoren sind im Laufe der Jahre nur immer grausamer geworden. […]
Sherko Fatah wurde 1964 als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen in Ost-Berlin geboren. [Er ist] Autor mehrerer Romane [und wurde im März 2015] in München mit dem […] Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. [Mit dem Chamisso-Preis ehrt die Robert Bosch Stiftung herausragende, auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist.] Die Jury würdigt ihn für sein Gesamtwerk, insbesondere für seinen letzten Roman "Der letzte Ort" […]. Darin geht es um eine Entführung im Irak.
"Wenn ich das Grauen als Autor gestalte, bin ich nicht so ausgeliefert", Interview von Christian Thomas mit Sherko Fatah, in: Frankfurter Rundschau vom 3. März 2015
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Alle relevanten muslimischen Verbände haben den IS als barbarisch und unislamisch verdammt. Im September 2014 wurde ein Brief an den Anführer der Terrororganisation veröffentlicht, in dem sich 120 namhafte islamische Gelehrte aus aller Welt zu Wort meldeten. Diese konservativen und teilweise reaktionären islamischen Autoritäten, setzten sich mit der Ideologie und den Koranbezügen des IS auseinander und positionierten sich eindeutig gegen den Terror. Nach ihrem Urteil verstößt der IS gegen fundamentale islamische Prinzipien. Diesem Urteil schlossen sich unter anderem der Großmufti von Ägypten, das Oberhaupt irakischer Religionsgelehrter und Gelehrte vom Tschad über Nigeria bis zum Sudan und Pakistan an.
Manche Salafisten – auch in Deutschland – sahen die Einrichtung einer "islamischen" Pseudo-Staatlichkeit in Syrien und im Irak jedoch mit Genugtuung. Denn sie folgen grundsätzlich demselben rigiden Religionsverständnis, denselben Doktrinen. Meinungsunterschiede gibt es nur darüber, wann sie wie angewendet werden dürfen.