Von der Nachbarschaft zum Konflikt, 1901 bis 1952
Ende des 19. Jahrhunderts lebten in Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehörte, fast eine halbe Million Araber mit circa 25.000 Juden friedlich zusammen. Als der 1901 gegründete Jüdische Nationalfonds ab den 1920er-Jahren damit begann, systematisch Land im Mandatsgebiet Palästina zu erwerben, um eine jüdische Besiedlung zu forcieren und die Basis eines zukünftigen jüdischen Staates Israel zu schaffen, kam es zu ersten Spannungen mit der arabischen Bevölkerung.
Die Zuwanderung und der Landerwerb konzentrierten sich auf ländliche Regionen, denn im Gegensatz zu den arabischen Vorbesitzern beabsichtigten die zionistischen Landeigentümer, das Land selbst zu bewohnen und zu bearbeiten. Damit verloren landlose Bauern, die zuvor für die Vorbesitzer gearbeitet hatten, ihre Lebensgrundlage. Sie sahen sich gezwungen, in die Städte zu ziehen, wo sie meist in Armut gerieten. Somit begann der israelisch-palästinensische Konflikt als ein sozialer Konflikt zwischen der arabischen Landbevölkerung und den jüdischen Siedlern. Zugleich verbreitete sich auch unter den Arabern ein immer stärkeres Nationalgefühl, das dem Konflikt zwischen beiden Gruppen zusätzlich Dynamik verlieh. Da beide Seiten Palästina für sich beanspruchten, entwickelte sich ein bis heute bestehender Territorialkonflikt.
Regionale Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg
Entscheidend für die weitere Entwicklung der jüdisch-arabischen Beziehungen waren die regionalpolitischen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich, zu dem Palästina 400 Jahre lang gehört hatte, zerfiel, nachdem es den Ersten Weltkrieg gegen die Alliierten verloren hatte. Nun stand eine politische Neuordnung des gesamten Nahen Ostens an, im Rahmen derer Palästina 1920 britisches Mandatsgebiet wurde. Die Briten hatten noch während des Ersten Weltkriegs sowohl den Arabern als auch den Zionisten das Gebiet Palästina versprochen. Während sich die Araber auf die britische Zusage beriefen, ein arabisches Königreich errichten zu dürfen, das auch Palästina einschloss, verwiesen die Zionisten auf die Balfour-Deklaration von 1917, in welcher der damalige britische Außenminister Arthur Balfour dem jüdischen Volk eine "nationale Heimstätte" in Palästina zusicherte.
Die jüdischen Einwanderer legitimierten ihre Anwesenheit mit dem Argument, zu einer Modernisierung und wirtschaftlichen Belebung Palästinas beitragen zu können. Doch viele Palästinenser befürchteten, von den jüdischen Einwanderern wirtschaftlich abgehängt und politisch fremdbestimmt zu werden. Mit der Einrichtung jeweils eigener Institutionen und Unternehmen entwickelten sich schon früh zwei getrennte Gesellschaften in Palästina.
QuellentextBritisches Mandat über Palästina
Das von Großbritannien während des Ersten Weltkriegs besetzte Palästina wurde am 25. April 1920 durch den Obersten Rat der Alliierten auf einer Konferenz in San Remo britischer Verwaltung unterstellt. […] Der Völkerbundsrat bestätigte am 24. Juli 1922 das britische Mandat über Palästina. […] Die britische Mandatsherrschaft über Palästina dauerte bis zum 14. Mai 1948 an. […]
[…] Artikel 1.
Der Mandatar soll alle Vollmachten der Gesetzgebung und Verwaltung besitzen, soweit sie nicht durch die Bestimmungen des Mandates beschränkt werden.
Artikel 2.
Der Mandatar soll dafür verantwortlich sein, daß das Land unter solche politische, administrative und wirtschaftliche Bedingungen gestellt wird, welche die Errichtung der jüdischen nationalen Heimstätte […] und die Entwicklung von Selbstverwaltungsinstitutionen sowie die Wahrung der bürgerlichen und religiösen Rechte aller Einwohner Palästinas, ohne Unterschied der Rasse und Religion, sichern. […]
Artikel 4.
Eine angemessene jüdische Vertretung ("Jewish Agency") soll als eine öffentliche Körperschaft anerkannt werden zu dem Zweck, die Verwaltung Palästinas in solchen wirtschaftlichen, sozialen und anderen Angelegenheiten zu beraten und mit ihr zusammenzuwirken, die die Errichtung der jüdischen nationalen Heimstätte und die Interessen der jüdischen Bevölkerung in Palästina betreffen, und, immer vorbehaltlich der Kontrolle durch die Verwaltung, an der Entwicklung des Landes zu helfen und teilzunehmen. […]
Artikel 6.
Die Verwaltung Palästinas soll unter der Sicherung, daß die Rechte und die Lage anderer Teile der Bevölkerung nicht beeinträchtigt werden, die jüdische Einwanderung unter geeigneten Bedingungen erleichtern und in Zusammenarbeit mit der […] "Jewish Agency" eine geschlossene Ansiedlung von Juden auf dem Lande, mit Einschluß der nicht für öffentliche Zwecke erforderlichen Staatsländereien und Brachländereien, fördern. […]
Artikel 22.
Englisch, Arabisch und Hebräisch sollen die offiziellen Sprachen Palästinas sein. […] Gegeben in London am 24. Juli 1922
"Britisches Mandat über Palästina (1922)", in: 100 Dokumente aus 100 Jahren. Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt (1917–2017), hg. von Angelika Timm, AphorismA Verlag Berlin 2017, S. 30 ff.
Arabischer Widerstand gegen Einwanderung und Teilungsplan
Ab 1929 kam es an mehreren Orten zu arabischen Aufständen und Angriffen auf Juden und Repräsentanten der britischen Mandatsmacht. Vordergründig ging es um die Kontrolle über die heiligen Stätten in Jerusalem, gleichzeitig kristallisierten sich im Kontext der Gewaltausbrüche erstmals zwei verfeindete Nationalbewegungen heraus. Historisch kann das Jahr 1929 daher als der Beginn des israelisch-arabischen Konflikts betrachtet werden. Großbritannien war nicht in der Lage, diesen Konflikt zu befrieden und geriet stattdessen immer mehr zwischen die Fronten. Als im Zuge einer arabischen Revolte 1936 ein friedliches Zusammenleben beider Bevölkerungsgruppen zunehmend unmöglich schien, erarbeitete London einen Teilungsplan für Palästina. Während der Zionistische Kongress 1937 diesen Plan im Prinzip billigte, lehnten ihn die Araber ab und setzten ihren Aufstand gegen die Mandatsmacht fort. Daraufhin löste Großbritannien alle nationalen Komitees der Araber auf und ließ Tausende Aufständische verhaften.
Unterdessen stieg die jüdische Einwanderung in Palästina sprunghaft an, da die im Deutschen Reich 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten die Juden verfolgten, vertrieben und deportierten, um schließlich – während des Zweiten Weltkriegs – einen beispiellosen Völkermord an ihnen zu verüben. Um während des Krieges zu verhindern, dass sich die arabischen Staaten mit dem verfeindeten Deutschen Reich verbündeten, versuchte Großbritannien die jüdische Einwanderung mit strikten Quoten zu begrenzen, und verbrachte tausende illegale Einwanderer in Internierungslager auf Zypern. Dennoch gelang es jüdischen Organisationen, bis zu 100.000 Juden illegal nach Palästina zu schleusen.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Gewalt in Palästina erneut eskalierte und radikale Zionisten Attentate auf britische Behörden verübten, erklärte sich Großbritannien bereit, sein Mandatsgebiet Palästina an die neu geschaffenen Vereinten Nationen abzutreten. 1947 beschloss die UN-Generalversammlung dann gegen die Stimmen arabischer und muslimischer Staaten und bei Stimmenthaltung Großbritanniens in ihrer Resolution 181 einen eigenen Teilungsplan für Palästina. Dieser sprach Juden und arabischen Palästinensern mehrere etwa gleich große Gebiete zu, die jedoch schlecht untereinander verbunden waren. Für Jerusalem sah der Teilungsplan eine internationale Verwaltung vor. Die arabische Welt lehnte auch diesen Teilungsplan umgehend ab und in Palästina kam es zu blutigen Kämpfen zwischen jüdischen und arabischen Milizen.
QuellentextUN-Teilungsbeschluss vom November 1947
1. Das Mandat für Palästina endet so bald wie möglich [...].
2. Die Streitkräfte der Mandatsmacht werden schrittweise aus Palästina abgezogen, wobei der Abzug so bald wie möglich abzuschließen ist, in jedem Fall bis spätestens am 1. August 1948. […]
3. Zwei Monate nach Abschluß des Abzugs der Streitkräfte der Mandatsmacht, in jedem Fall spätestens am 1. Oktober 1948, entstehen in Palästina ein unabhängiger arabischer Staat und ein unabhängiger jüdischer Staat sowie das […] internationale Sonderregime für die Stadt Jerusalem. […]
"Resolution der Generalversammlung verabschiedet am 29. November 1947. 181 (II). Die künftige Regierung Palästinas", in: 100 Dokumente aus 100 Jahren. Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt (1917–2017), hg. von Angelika Timm, AphorismA Verlag Berlin 2017, S. 109 ff.
Sobald das britische Mandat am 14. Mai 1948 formal auslief, proklamierte David Ben Gurion in Tel Aviv den Staat Israel. Als Reaktion darauf griffen Ägypten, Syrien, Transjordanien, der Libanon und der Irak Israel an, mussten in diesem ersten Nahostkrieg jedoch eine Niederlage hinnehmen. Israel wiederum gelang es, mit diesem Krieg sein Staatsgebiet im Vergleich zum UN-Teilungsplan um ein Drittel zu vergrößern.
Nach dem Krieg wurden alle im neuen israelischen Staatsgebiet lebenden Menschen zu israelischen Staatsbürgern – nach dem Nationalitätsgesetz von 1952 damit auch etwa 160.000 palästinensische Araber. Die große Mehrheit der Araber, etwa 700.000 Personen, war vor den Kämpfen in die Nachbarländer geflohen bzw. dorthin vertrieben worden. Ihnen verweigerte Israel nach dem Krieg die Rückkehr. Daraus wird verständlich, dass der Krieg von 1948 bis heute zwei ganz unterschiedliche Bewertungen erfährt: Was jüdische Israelis als Geburt ihres Staates feiern, gilt den meisten Palästinensern bis heute als Nakba, "Katastrophe".
Wechselnde Erfolge in den Nahostkriegen, 1956 bis 1973
Als Folge des Krieges von 1948 verschwand das Mandatsgebiet Palästina von der politischen Landkarte. Das Westjordanland und Ost-Jerusalem wurden von Jordanien besetzt und später annektiert, während der Gazastreifen nun von der ägyptischen Armee verwaltet wurde. Durch die Aufteilung der palästinensischen Gebiete erhielten viele palästinensische Araber die israelische bzw. jordanische Staatsbürgerschaft. Die Flüchtlinge von 1948 blieben staatenlos. Zu ihrer Versorgung schufen die Vereinten Nationen 1948 das Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), das bis heute für die Grundversorgung der Flüchtlinge sowie ihrer Nachkommen in Jordanien, Syrien, dem Libanon, dem Westjordanland und dem Gazastreifen zuständig ist.
Anstelle der Palästinenser wurden nun die arabischen Staaten die zentralen Akteure des Konflikts mit Israel. Insbesondere Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser wurde in den 1950er-Jahren zum wichtigsten Gegenspieler Israels und zugleich zum Hoffnungsträger einer panarabischen (d. h. gesamtarabischen) Bewegung. Fester Bestandteil der ägyptischen Staatspropaganda war das Ziel der Zerstörung Israels, das als Produkt des westlichen Imperialismus dargestellt wurde. Nassers größter Erfolg war die Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft 1956. Bis dahin war sie im Besitz Großbritanniens und Frankreichs gewesen und galt als verhasstes Symbol westlicher Beherrschung Ägyptens. Den anschließenden Angriffskrieg seitens Großbritanniens und Frankreichs, an dem Israel sich beteiligte (zweiter Nahostkrieg), überstand Nasser erfolgreich, was ihm einen Heldenstatus bei vielen Arabern bescherte.
In dieser Zeit erstarkte auch der palästinensische Widerstand gegen Israel und es bildeten sich verschiedene Guerillagruppen, die Anschläge auf israelische Ziele verübten. Mit ägyptischer Unterstützung und auf Beschluss der Arabischen Liga schlossen sich 1964 in Kairo die meisten dieser Gruppierungen zur Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO zusammen. Sie verstand sich fortan als Vertreterin des palästinensischen Volkes, fungierte aber zunächst eher als Handlanger arabischer Regime.
In den 1960er-Jahren nahmen die Spannungen im Nahostkonflikt weiter zu und insbesondere die Staaten Ägypten und Syrien mobilisierten ihre Armeen. In Erwartung eines arabischen Angriffskriegs begann Israel 1967 eine militärische Offensive gegen seine arabischen Nachbarstaaten und bereitete ihnen eine vernichtende Niederlage. In nur sechs Tagen zerstörte die israelische Luftwaffe in diesem dritten Nahostkrieg die Armeen Ägyptens und Syriens und Israel besetzte große Gebiete: neben dem ägyptischen Sinai und den syrischen Golanhöhen auch die ursprünglich palästinensischen Gebiete des Westjordanlands, Ost-Jerusalems und des Gazastreifens. Dort übernahm eine israelische Militärverwaltung die Regierungskontrolle. Ost-Jerusalem wurde 1980 annektiert.
Für die Araber war die Niederlage im dritten Nahostkrieg traumatisch und ließ die Palästinenser erkennen, dass sie in ihrem Bestreben nach nationaler Selbstbestimmung nicht mehr auf die arabischen Staaten bauen konnten. Sie nahmen daher den Kampf gegen Israel wieder selbst in die Hand. Mit finanzieller Unterstützung arabischer Staaten wurde die PLO zu einer schlagkräftigen Miliz und zum wichtigsten Gegenspieler Israels. Ihren Vorsitz übernahm 1969 Jassir Arafat, Chef der 1959 in Kuwait gegründeten palästinensischen Befreiungsbewegung Fatah.
In Israel war die Stimmung nach dem Sechstagekrieg und infolge der enormen Landgewinne geradezu euphorisch. Nicht wenige träumten nun davon, das gesamte biblische Land Israel (Erez Israel) vereinen zu können, ohne den Palästinensern einen eigenen Staat zugestehen zu müssen. Religiös motivierte Zionisten gründeten die Siedlerbewegung, die durch eine strategische Besiedlung des Westjordanlandes und des Gazastreifens unveränderliche Fakten schaffen wollte und stetig Zulauf fand. Auch der Arbeiterzionismus hatte schon das Siedlungsprojekt unterstützt. Spätestens ab 1977, als der rechtsgerichtete Likud an die Macht kam, erfuhren die Siedler dann starke Unterstützung seitens der israelischen Regierung. Die Siedler beriefen sich auf ihr vermeintlich gottgegebenes Recht auf Judäa und Samaria – die biblischen Namen für das Westjordanland – sowie auf den Gazastreifen. Mit jedem Ausbau des Siedlungswerks verringerten sich die Aussichten auf einen palästinensischen Staat.
Um ihre 1967 verlorenen gegangenen Gebiete zurückzuerlangen – so die verkündeten Kriegsziele –, griffen Ägypten und Syrien am 6. Oktober 1973 Israel an – der Überraschungsangriff begann an Jom Kippur, Israels höchstem Feiertag. Die Angreifer erzielten zunächst rasche territoriale Gewinne. Obwohl Israel ihnen schließlich eine Niederlage beibrachte, war der vierte Nahostkrieg ein politischer Erfolg der arabischen Staaten, denn er erschütterte Israels Nimbus der Unbesiegbarkeit.
Vom Libanonkrieg über Oslo zum Gazakrieg, 1975 bis 2017
In den 1970er-Jahren wurde Israel immer öfter vom Libanon aus angegriffen, wo die PLO zehntausende Kämpfer konzentriert hatte. Der multireligiöse Libanon war tief gespalten in der Frage, ob die bewaffnete Präsenz und der Befreiungskampf der PLO toleriert und sogar unterstützt werden sollten oder aber als Angriff auf die Souveränität und Stabilität des Libanon zu unterbinden seien. Diese Spannungen lösten 1975 den libanesischen Bürgerkrieg aus, der 15 Jahre andauern sollte und in dem die PLO anfangs als wichtige Konfliktpartei beteiligt war. 1982 marschierte Israel mit fast 80.000 Soldaten in den Libanon ein, um die PLO zu zerschlagen und wieder Sicherheit an seiner Nordgrenze herzustellen. Die Armee rückte bis Beirut vor und zahlreiche palästinensische Flüchtlingslager fielen unter ihre Kontrolle. Nach langen und erbitterten Kämpfen musste sich die PLO geschlagen geben und Arafat wurde mit 8000 Kämpfern nach Tunis deportiert. Während weite Teile Beiruts nach dem Abzug der PLO vorerst weiter unter israelischer Besatzung blieben, verübten christlich-libanesische Milizen ein Massaker an schutzlosen Zivilisten in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, ohne dass die israelische Armee eingriff.
Erste Intifada
Der Sieg über die PLO im Libanonkrieg hatte Israel nicht die erhoffte Sicherheit gebracht, denn nun nahm die Gewalt in den besetzten Gebieten wieder zu. Unterdessen forcierte Israel den Siedlungsbau, verhängte Kollektivstrafen gegen Palästinenser, etwa durch Ausgangssperren und die Zerstörung der Häuser militanter Palästinenser. Außerdem zensierte Israel die palästinensischen Medien. Vor diesem Hintergrund begann 1987 ein palästinensischer Aufstand, der als erste Intifada (arab.; "Abschüttelung", Erhebung) bekannt wurde und bis zu den Oslo-Abkommen von 1993 anhielt. Vornehmlich Jugendliche attackierten die israelische Armee und Siedler mit Steinschleudern, blockierten Straßen, organisierten Protestzüge und Generalstreiks; fast alle Palästinenser beteiligten sich am zivilen Ungehorsam gegenüber Israel, das mit großer Härte reagierte. Tausende Palästinenser wurden zum Teil willkürlich und ohne gerichtlichen Prozess verhaftet, manche Flüchtlingslager wurden bis zu 200 Tage lang abgeriegelt, Schulen und Universitäten wurden geschlossen oder zerstört.
1992 kam es in Israel zum Wahlsieg der Arbeitspartei, die sich später für eine Aussöhnung mit den Palästinensern aussprach. Auch bei der PLO war ein Kurswechsel erfolgt, als sie sich 1988 erstmals zur Zweistaatenlösung bekannte und die UN-Resolution 181 akzeptierte. Die PLO-Führung beabsichtigte mit diesem Schritt, die Kontrolle über die Geschehnisse in Palästina wiederzuerlangen, die ihr im tunesischen Exil entglitten war.
Aufnahme von Friedensverhandlungen
Diese Entwicklungen begünstigten Anfang der 1990er-Jahre die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Zunächst fand nach amerikanischen Vermittlungen 1991 in Madrid eine internationale Friedenskonferenz statt, an der alle wesentlichen Akteure des Nahostkonflikts teilnahmen. Da diese Konferenz jedoch ohne konkrete Ergebnisse blieb, verhandelten Israel und die PLO unter Vermittlung der norwegischen Regierung im Geheimen bilateral weiter, bis ein Durchbruch erzielt wurde, der 1993 zu den Osloer Verträgen führte.
QuellentextOslo-I-Abkommen zwischen Israel und der PLO am 13. September 1993
Prinzipienerklärung über vorübergehende Selbstverwaltung
Die Regierung des Staates Israel und die PLO-Gruppe (innerhalb der jordanisch-palästinensischen Delegation bei der Nahost-Friedenskonferenz, die "Palästinensische Delegation"), die das palästinensische Volk vertritt, stimmen darin überein, daß es an der Zeit ist, Jahrzehnte der Konfrontation und des Konflikts zu beenden;
Demgemäß stimmen beide Seiten folgenden Prinzipien zu:
Artikel I: Ziel der Verhandlungen
Das Ziel der israelisch-palästinensischen Verhandlungen im Rahmen des laufenden Nahost-Friedensprozesses ist es, unter anderem, für das palästinensische Volk im Westjordanland und im Gaza-Streifen eine Palästinensische Interimsbehörde, den gewählten Rat (der Rat) für einen Zeitraum von nicht mehr als fünf Jahren einzurichten […].
Artikel VI: Vorbereitende Übertragung von Befugnissen und Verantwortlichkeiten
1. […] 2. Unmittelbar nach Inkrafttreten dieser Prinzipienerklärung und dem Rückzug aus dem Gaza-Streifen und Jericho wird die Zuständigkeit mit dem Ziel der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens in folgenden Bereichen an die Palästinenser übertragen: Bildungswesen und Kultur, Gesundheitswesen, Sozialfürsorge, direkte Besteuerung und Tourismus. Die palästinensische Seite wird, wie vereinbart, mit dem Aufbau der palästinensischen Polizei beginnen. […]
Artikel XIII: Verlegung israelischer Streitkräfte
1. Nach dem Inkrafttreten dieser Prinzipienerklärung und nicht später als unmittelbar vor den Wahlen zum Rat erfolgt zusätzlich zu dem Rückzug israelischer Streitkräfte in Übereinstimmung mit Artikel XIV eine Verlegung israelischer Streitkräfte im Westjordanland und im Gaza-Streifen.
2. Bei der Verlegung seiner Streitkräfte wird sich Israel von dem Prinzip leiten lassen, daß seine Streitkräfte nicht in bewohnte Gebiete verlegt werden sollten.
3. Weitere Verlegungen an näher bezeichnete Standorte werden entsprechend der Übernahme der Verantwortlichkeit für öffentliche Ordnung und innere Sicherheit durch die palästinensische Polizei […] allmählich erfolgen. [...]
"Abkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation über befristete Selbstverwaltung, unterzeichnet in Washington D.C. am 13. September 1993", in: 100 Dokumente aus 100 Jahren. Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt (1917–2017), hg. von Angelika Timm, AphorismA Verlag Berlin 2017, S. 381 ff.
Die zentrale Botschaft, die von den Verträgen ausging, war die Aussicht auf eine Beilegung des Konflikts durch eine Zweistaatenregelung. Konkret erkannte die PLO das Existenzrecht Israels an; im Gegenzug akzeptierte Israel die PLO als legitime Vertreterin aller Palästinenser. Damit konnte die PLO-Führung um Jassir Arafat ihr tunesisches Exil verlassen und ins Westjordanland ziehen. Die wohl bedeutendste Errungenschaft Oslos war die Schaffung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die zunächst in den größeren Städten an die Stelle des israelischen Besatzungsregimes trat. Obwohl Palästina durch Oslo noch kein Staat wurde, entstanden doch quasi-staatliche Institutionen, einschließlich einer Regierung, eines Präsidentenamtes, eines Parlaments sowie Gerichte und Polizei.
Das Hauptproblem von Oslo war jedoch, dass die zentralen Konfliktpunkte in den Verträgen ausgeklammert bzw. auf zukünftige Verhandlungsrunden verschoben wurden. Dazu gehörten:
Die Souveränität Palästinas: Soll Palästina ein vollständig souveräner Staat werden oder soll Israel in sicherheitsrelevanten Politikfeldern weiterhin das Sagen haben?
Die Flüchtlingsfrage: Muss Israel die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen aufnehmen oder sollen sie in den neuen Staat Palästina umsiedeln? Israel fürchtet um den jüdischen Charakter seines Staates und lehnt das Rückkehrrecht ab.
Der Grenzverlauf zwischen beiden Staaten: Wo genau soll die Grenze zwischen Israel und dem zukünftigen Staat Palästina verlaufen? Ist der UN-Teilungsplan von 1947, der Grenzverlauf nach dem Krieg von 1948 oder der Verlauf der seit 2002 von Israel erbauten Sperranlage Grundlage der zukünftigen Grenze?
Der Status Jerusalems: Bleibt die annektierte Stadt Teil Israels oder wird ihr Ostteil Hauptstadt Palästinas? Wird jüdischen und muslimischen Gläubigen beider Staaten Zugang zu den religiösen Stätten garantiert?
Die jüdischen Siedlungen im Westjordanland: Muss Israel alle Siedlungen im Westjordanland zurückbauen oder gibt es Landtauschabkommen mit den Palästinensern, damit die größeren Siedlungen dem israelischen Staatsgebiet zugeteilt werden können?
Die Wasserverteilung: Wird Israel auch in Zukunft Wasserrechte im Westjordanland geltend machen dürfen? Israel bezieht etwa ein Drittel seiner Wasserversorgung von dort, obwohl die besetzten Gebiete selbst unter Wasserknappheit leiden.
Die Hoffnung von Oslo auf eine endgültige Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts erfüllte sich nicht. Der Siedlungsbau wurde ungemindert fortgeführt und radikale Kräfte erfuhren wieder Zulauf. Im November 1995 tötete ein extremistischer Jude Ministerpräsident Jitzchak Rabin, der die Osloer Abkommen auf israelischer Seite mit ausgehandelt hatte. Nachfolger Rabins wurde Benjamin Netanjahu von der Likud-Partei – ein Unterstützer der Siedlerbewegung. Auf der palästinensischen Seite erstarkten islamistische Gruppierungen wie die Hamas. Sie lehnten die Oslo-Abkommen ab und warfen der PLO Verrat vor.
Zweite Intifada
Als vor diesem Hintergrund im Jahr 2000 die mit vielen Erwartungen begonnenen Friedensverhandlungen im US-amerikanischen Camp David scheiterten und der prominente Likud-Politiker Ariel Scharon provokativ den Tempelberg in Jerusalem besuchte, brach die zweite, die sogenannte al-Aqsa-Intifada aus. Im Gegensatz zur ersten Intifada lieferten sich nun palästinensische Milizen einen bewaffneten Konflikt mit der israelischen Armee. Entsprechend hoch waren die Opferzahlen mit 3000 Palästinensern und 1000 Israelis. Im Jahr 2002 brachte die israelische Armee das gesamte Westjordanland unter ihre Kontrolle, verhängte Ausgangssperren und zerstörte Institutionen der PA, wie Polizeistationen und Ministerien. Israel ging mit Panzern und Kampfhubschraubern gegen einzelne Flüchtlingslager vor, in denen die Unterstützung für radikale Kräfte traditionell am stärksten war, während die Hamas Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten verübte. Um das weitere Eindringen von Selbstmordattentätern zu verhindern, beschloss die israelische Regierung 2002, eine Sperranlage zu errichten, die das gesamte Westjordanland von Israel abtrennen sollte. Um größere jüdische Siedlungen nicht ebenfalls abzuriegeln, verlief diese Sperranlage aber deutlich innerhalb des Westjordanlandes, dessen Gebiet sich somit de facto um ca. 13,5 Prozent verringerte. Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen hat die Sperranlage in einem Gutachten von 2004 für völkerrechtswidrig erklärt.
QuellentextWeißer oder blauer Pass?
[…] Im Wadi Ara bei Nazareth und dem Karmelgebirge, an den Hängen des judäisch-samarischen Berglands, liegt das 10.000-Seelen-Dorf Barta’a. Viel Weideland für Viehzucht, das Mittelmeer nicht weit entfernt. […]
"Wir alle gehören eigentlich zu einer Familie: dem Kabha-Clan", erklärt Salach Kabha. Jeder im Dorf habe denselben Familiennamen. Salach besitzt ein Restaurant gleich hinter dem östlichen Ortseingang. Das macht den 47-Jährigen zum Palästinenser. Zwei seiner Brüder haben jedoch Frauen aus dem Westteil der Stadt geheiratet. Damit sind sie Israelis. 6000 Kabhas sind zurzeit offiziell Palästinenser, 4000 nennen sich Israelis. Weißer oder blauer Pass; weißes oder gelbes Nummernschild.
Bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 unter jordanischer Herrschaft, war es kaum möglich, in den anderen Teil der Stadt zu fahren. Die Ortsteile entwickelten sich unabhängig voneinander. "Seitdem gibt es hier alles doppelt: Moschee, Schule, Friedhof", sagt Salach. […] Im Jahre 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, hat Israel den Ort unter seine Kontrolle genommen.
Ost-Barta’a gehört […] offiziell zur sogenannten B-Zone des Westjordanlands und fällt damit unter die autonome Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Israelis ist der Zutritt in B-Zonen offiziell nicht erlaubt. Israelische Militärgewalt darf in diesen Gebieten nicht angewandt werden. Als die arabische Welt den Sieg des israelischen Staates betrauerte, feierten sie in Barta’a die Wiedervereinigung ihres Dorfes nach 18 Jahren. […]
2003 sahen sich die Bewohner des Ortes wieder mit einer neuen Situation konfrontiert: Direkt durch die Äcker und Felder hinter Ost-Barta’a wurde die israelische Sperrmauer zu den palästinensischen Gebieten gezogen; seither fallen die angrenzenden Gebiete in die sogenannte C-Zone und befinden sich damit unter israelischer Militärherrschaft. […] Ost-Barta’a ist damit so etwas wie eine palästinensische Exklave. Selbst eigentlich autonom, jedoch umgeben von israelischer Besatzung und abgeschnitten vom Rest des Westjordanlands. […]
Erstaunlicherweise hat der Wirt Salach nichts gegen die Mauer. Im Gegenteil: Er ist froh darüber, dass Ost-Barta’a im Niemandsland zwischen Mauer und Grenze liegt. Die Personen, die legal die Grenze vom Westjordanland überqueren, seien so bereits vom israelischen Militär kontrolliert, sagt er. […]
Ironischerweise hat Barta’as Isolation manch einem zum wirtschaftlichen Aufschwung verholfen. Fern von Regulierungen durch die Palästinensische Autonomiebehörde ist der Ort so etwas wie eine Freihandelszone. An den Wochenenden fahren arabische Israelis gern für Shoppingtouren nach Ost-Barta’a. Wer hier Handel betreibt, zahlt geringe Steuern, daher die niedrigen Preise – und ein üppiges Angebot. Bis zu 20.000 Autos schieben sich an manchen Tagen durchs Dorf, einige mit israelischen, andere mit palästinensischen Kennzeichen. […] Die Ost-Barta’aner können sich vor Kunden kaum retten. Abgeschnitten von der eigenen palästinensischen Regierung, meist ignoriert von der israelischen, hat sich der Ort zu einer Art Wildem Westen entwickelt.
Viele Autos hätten keine Nummernschilder und manche Anwohner besäßen Waffen ohne Lizenz, erzählt Achmad Kabha, Cafébesitzer in West-Barta’a. Er habe den Eindruck, dass seine Familienmitglieder aus dem Osten ihn um seine Privilegien als israelischer Staatsbürger beneiden. Gestern noch sei er in Tel Aviv gewesen. Auch die Lebensmittel für das Café bezieht er aus Israel. Während er arabischen Kaffee brüht, trinken zwei israelische Soldaten süßen Tee.[…]
Franziska Knupper, "Geteiltes Dorf", in: Der Freitag Nr. 22 vom 1. Juni 2017
Konflikt zwischen Fatah und Hamas
Im Jahr 2004 starb Jassir Arafat und Mahmoud Abbas wurde sein Nachfolger als PLO-Chef und PA-Präsident. Er stand dem gewaltsamen Widerstand ablehnend gegenüber und setzte weiter auf Verhandlungen. Von dieser Haltung konnte Abbas aber nur noch wenige Palästinenser überzeugen und so errang die Hamas bei den Wahlen 2006 die absolute Parlamentsmehrheit. Sie galt vielen Palästinensern als glaubwürdiger und weniger korrupt als PLO und Fatah. Außerdem war die Hamas aufgrund ihrer sozialen und karitativen Einrichtungen sehr gut vernetzt. Ihr wurde auch angerechnet, dass Israel 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen war und dort alle jüdischen Siedlungen abgebaut hatte.
Israel und der Westen erkannten den Wahlsieg der Hamas nicht an und suchten die neue Regierung politisch zu isolieren. Da auch die Sicherheitskräfte der PA nicht bereit waren, Weisungen der Hamas zu befolgen, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppierungen, die 2007 in einem regelrechten Bürgerkrieg im Gazastreifen gipfelten. Seitdem sind der Gazastreifen und das Westjordanland nicht nur territorial, sondern auch politisch voneinander getrennt, auch wenn es Versuche zu einer Einigung gab und gibt. Während die Hamas den Gazastreifen regiert, ernannte Präsident Abbas im Westjordanland eine eigene Regierung. Für den Friedensprozess bedeutet der Wahlsieg der Hamas, dass unklar ist, wer von nun an legitimiert ist, Friedensverhandlungen aufseiten der Palästinenser zu führen.
Das von der PLO dominierte Westjordanland, das annektierte Ost-Jerusalem und der Hamas-regierte Gazastreifen gelten laut der UNO weiterhin als von Israel besetzte Gebiete. Israel kontrolliert nicht nur deren Grenzen (mit Ausnahme der zwischen Gazastreifen und Ägypten) und Luftraum, es nimmt auch einen Großteil der im Westjordanland gezahlten Steuern und alle Einfuhrzölle ein, die es jedoch im Normalfall an die PA weiterleitet. Da die PA keine eigene Währung besitzt, wird in den besetzten Gebieten mit israelischen Schekel bezahlt. Außerhalb der Ortschaften regiert immer noch das israelische Militär, das Palästinenser kontrollieren und ihnen die Durchfahrt verweigern darf. Im Westjordanland gibt es zahlreiche Umgehungsstraßen, die ausschließlich von Israelis genutzt werden dürfen, was manche Beobachter veranlasst, von einem Apartheidsregime zu sprechen. Israel verteidigt diese Maßnahmen mit seiner Pflicht, israelische Bürger vor Terrorismus zu schützen.
Trotz seiner eingeschränkten Staatlichkeit wird Palästina von mindestens 129 Ländern als Staat anerkannt. In den Vereinten Nationen ist die PA kein Vollmitglied, besitzt seit Ende 2012 jedoch Beobachterstatus. Damit hat sie in der UN-Generalversammlung Rede-, aber kein Stimmrecht. Von rein symbolischer Bedeutung ist der Beschluss der Vereinten Nationen vom September 2015, wonach die Flagge Palästinas, wie die aller anderen Mitgliedsstaaten, vor dem UN-Hauptgebäude in New York gehisst werden darf.
Allerdings scheinen die Palästinenser weiter denn je von ihrem Ziel eines unabhängigen Staates entfernt zu sein. Sogar die israelische Arbeitspartei, die einst die Osloer Verträge aushandelte, steht angesichts der anhaltenden Gewalt gegen Israelis weiteren Verhandlungen mit den Palästinensern ablehnend gegenüber. Auf der palästinensischen Seite drohte Präsident Abbas im September 2015 vor der UN-Generalversammlung mit einer Aufkündigung der Osloer Verträge, da Israel sich nicht an Vereinbarungen halte und den Siedlungsbau fortführe.
Die außerordentliche Beständigkeit des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern erklärt sich auch mit der religiösen Bedeutung, die Juden und Muslime den umstrittenen Gebieten beimessen. Extreme Gruppen beider Seiten sind der Überzeugung, dass es ihre religiöse Pflicht sei, das "Heilige Land" auch mit Gewalt zu verteidigen. Der religiöse Aspekt des israelisch-palästinensischen Konflikts hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten weiter an Bedeutung gewonnen. Besonders dramatisch wirkt sich der Konflikt auf die fast zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens aus, die mehrheitlich Flüchtlinge von 1948 bzw. deren Nachkommen sind. Seit die Hamas dort die Regierungsmacht erlangte, wird das Gebiet von Israel und Ägypten abgeriegelt. Zeitweise konnte die Versorgung der Bewohner mit Lebensmitteln und Treibstoff nur durch ein Tunnelsystem aufrechterhalten werden. Israel versucht, diese Tunnel zu zerstören, weil über sie auch Waffen an die Hamas geliefert werden und aus den Tunneln Attacken auf israelische Dörfer erfolgten.
QuellentextSiedlungen im Westjordanland
[…] Neta stammt […] eigentlich aus Tel Aviv, aber Oren zuliebe zieht sie jetzt her, nach Maale Adumim, einen der größten Siedlungsblöcke im Westjordanland.
[…] "Dieser Ort inmitten der Wüstenberge hat etwas Magisches", schwärmt sie und zählt die Ruhe auf, die gute Luft, die netten Leute, den freien Blick über die Landschaft. Nicht zu vergessen, dass man in zwanzig Autominuten in Jerusalem sei und trotzdem die Großstadt-Hektik außen vor bleibe. […]
Wie fast alle 37.000 Einwohner in Maale Adumim finden Neta und Oren nichts dabei, in einer israelischen Siedlung im besetzten Gebiet zu wohnen. Er ist hier geboren, und das junge Paar hat beschlossen, dass Maale Adumim das Zentrum ihres gemeinsamen Lebens werden soll. […]
Ihre Einwohnerzahl entspricht einer Kleinstadt, aber von der Fläche ist Maale Adumim so groß wie Tel Aviv. Hinzu kommt die sogenannte E-1-Zone, die israelische Planer auf dem Reißbrett bereits als Bauland ausgewiesen haben, um eine territoriale Kontinuität zwischen Maale Adumim und Jerusalem zu schaffen. […]
Die Stadtverwaltung […] befindet sich in einem imposanten Gebäude gleich neben der Mall. Im modernen Aufzug geht es hoch in die Chefetage, zum Termin beim Vize-Bürgermeister Guy Ifrach. Er ist ein […] glühender Verfechter der Forderung, Maale Adumim umgehend israelischer Souveränität zu unterstellen. […] Die israelische Mehrheit von 76 Prozent sei eh dafür, Maale Adumim zu annektieren, wie eine von der Siedlung in Auftrag gegebene Umfrage letztes Jahr [2016] ergeben habe, sagt Ifrach. […]
Die Forderung, Maale Adumim als erstes zu annektieren, klinge vergleichsweise unverfänglich. "Dort wohnen ja keine Extremisten und Ideologen, sondern nur gewöhnliche Arbeitspendler", sagt [Lior] Amihai [von Peace Now, der israelischen Friedensorganisation, die seit Jahren Daten zur Siedler-Expansion sammelt]. "Dennoch streckt sich Maale Adumim wie ein riesiger Finger in palästinensisches Gebiet." Und natürlich gäbe seine von Israel einseitig deklarierte Annexion den gesamten, über das Westjordanland verstreuten Siedlern Auftrieb, für sich das gleiche zu verlangen. […]
Auch in Maale Adumim überragen wieder die Baukräne die hoch aufgeschossenen Palmen, die dem Häusermeer in der Wüste einen gewissen Oasencharakter verleihen. […] Obenauf gibt es schmucke Straßen mit Blumenrabatten auf den Verkehrsinseln, gepflegt von dutzenden palästinensischen Angestellten, die sich die Stadtverwaltung leistet. Auch auf den Baustellen rackern wie in den meisten Siedlungen Palästinenser. "Ohne uns hätten sie gar keine Jobs", sagt Ifrach und verweist auf weitere 3500 Arbeitsplätze, die die Industriezone von Maale Adumim den arabischen Nachbarn biete. Auf dieser Basis schwebt ihm auch eine Friedenslösung mit den Palästinensern vor, eine Art "Autonomie plus" nennt er das, nur eben kein eigener Staat. […]
Schilo […], das gut vierzig Kilometer weiter nördlich liegt, dort, wo die felsigen Westbank-Hügel sich bewalden, ist auf den ersten Blick das Gegenstück zu Maale Adumim. Gegründet wurde Schilo 1979 von der nationalreligiösen Siedlerbewegung Gusch Emunim, dem "Block der Getreuen", um an biblische Zeiten anzuknüpfen. Denn Schilo, so steht es im Alten Testament, diente bis zur Eroberung Jerusalems durch König David fast 400 Jahre lang als Hauptsitz der Juden. Hier soll die Stiftshütte mit der Bundeslade gestanden haben.
Die 3000 Bewohner, die heute hier leben, fühlen sich jedenfalls als Wahrer einer heiligen Stätte. "Sie ermöglicht uns eine direkte Begegnung mit Gott", erklärt ein Siedler und tippt mit dem Zeigefinger Richtung Himmel. […] Früher wurden die Gusch Emunim-Anhänger von vielen Israelis als Spinner belächelt. Heute lockt ihr Besucherzentrum in Schilo auch Besucherscharen aus dem Kernland an. […]
Inge Günther, "Im Reich der Siedler", in: Frankfurter Rundschau vom 15. Februar 2017 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt
Gazakriege
Unterdessen intensivierte die Hamas ihre Gewaltaktionen mit regelmäßigem Raketenbeschuss und provozierte das israelische Militär zu massiven Vergeltungsschlägen. Ende 2008 führte dies zu einer militärischen Großoffensive Israels mit dem Ziel, die Hamas zu zerstören. Die intensiven Luftschläge Israels zerstörten aber nicht die Hamas, sondern die Infrastruktur Gazas und lösten im dichtbesiedelten und abgeriegelten Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe aus. Ähnlich dramatisch war der Gazakrieg vom Sommer 2014, als Israel, nach massivem Raketenbeschuss durch die Hamas, erneut versuchte, die islamistische Bewegung militärisch zu schwächen. Wieder konnte die Hamas die Angriffe überstehen; Leidtragende war wie schon 2008 die Zivilbevölkerung.
Nach Ansicht der meisten Nahostexperten wird eine friedliche Konfliktbeilegung ohne die Einbeziehung der Hamas nicht möglich sein. Doch Israel sieht die Hamas trotz ihres Wahlerfolgs von 2006 nicht als legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes, sondern als Terrororganisation. Bevor die Hamas Israels Existenzrecht nicht anerkennt und der Gewalt abschwört – so die israelische Sicht – seien Verhandlungen nicht möglich. Hamas-Führer argumentieren, dass eine Anerkennung Israels bestenfalls das Ergebnis, nicht aber Vorbedingung von Verhandlungen sein könne. An die Osloer Verträge, die die PLO im Namen aller Palästinenser ausgehandelt hatte, fühlt sich die Hamas, die erst 1988 gegründet wurde, nicht gebunden.
Neue Formen der Gewalt
Seit Oktober 2015 erlebt Israel eine neuartige Form von palästinensischer Gewalt, die nicht von politischen Parteien, sondern von Einzeltätern ausgeht. Wahllos wurden Menschen auf öffentlichen Plätzen mit Messern angegriffen oder Autos in Menschenmengen gefahren – immer mit der Absicht, so viele Israelis wie möglich zu verletzen oder gar zu töten. Hunderte Israelis sind bereits Opfer dieser Gewaltwelle geworden. Anlass für ein erneutes Auflodern der Gewalt war Israels Entscheidung, nach einem tödlichen Anschlag auf zwei israelische Polizisten vor einem Zugang zum Tempelberg die Zugänge mit Metalldetektoren zu kontrollieren. Dies wurde als Versuch gewertet, Palästinensern den Zutritt zur al-Aqsa-Moschee einzuschränken.
Laut Umfragen unterstützen fast zwei Drittel aller Palästinenser die Gewaltausübung. Der zum Stillstand gekommene Friedensprozess, eine chronische Wirtschaftsflaute, der Legitimationsverlust der PA wegen ausufernder Korruption und ausbleibenden Wahlen, die anhaltende politische Spaltung zwischen PLO und Hamas und die stetig anwachsenden jüdischen Siedlungen haben zur Radikalisierung vieler Palästinenser beigetragen. Israel reagiert auch auf die neuen Gewalttaten mit Härte. Häuser von Attentätern werden zerstört und Stadtviertel, aus denen Attentäter stammten, werden abgeriegelt und mit Ausgangssperren belegt. Diese Kollektivstrafen sollen der Abschreckung dienen, fördern aber aus Sicht vieler Beobachter eher die Wut auf Israel.
Am 30. März 2018 formierte sich eine Protestbewegung im Gazastreifen, um die Forderungen nach dem Rückkehrrecht der dort lebenden Flüchtlinge und ihrer Nachkommen nach Israel zu untermauern. Dieser sogenannte Marsch der Rückkehr bestand aus verschiedenen Protestveranstaltungen an der Grenze zu Israel mit zum Teil Zehntausenden Teilnehmern und sollte bis zum 15. Mai, dem Tag der Nakba, andauern. Die im Gazastreifen herrschende Hamas begrüßte die Proteste. Obwohl ursprünglich als friedlicher zivilgesellschaftlicher Protest gedacht, nutzten radikale Kräfte die Demonstrationszüge für Angriffe auf israelische Soldaten sowie die Grenzanlage. Daraufhin setzten israelische Soldaten Tränengas ein und schossen auf Randalierer und Anstifter.