Prof. Dr. Benjamin BenzProf. Dr. Ernst-Ulrich HusterDr. Johannes D. SchütteProf. Dr. Jürgen BoeckhJürgen Boeckh / Benjamin Benz / Ernst-Ulrich Huster / Johannes D. Schütte
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Sozialpolitik soll Lebensrisiken absichern, erschwerte, sozial bedingte Lebenssituationen abmildern und die Altersversorgung gewährleisten. Sie finanziert sich im Wesentlichen durch Sozialversicherungsbeiträge und Steuern, beruht also auf einem Wohlstand, der zunächst erarbeitet und dann verteilt werden muss. Unsicherheitsfaktoren sind Trends wie der Wandel der Erwerbsbiografien und die demografische Entwicklung.
Was kostet uns das Soziale? – Das Sozialbudget
Das deutsche Sicherungssystem bietet vor allem Schutz gegen die Unsicherheiten des Arbeitsmarktes. Es wird deshalb in seinen zentralen Säulen getragen durch die Beiträge der Arbeitgeber sowie der (sozialversicherungspflichtig) Beschäftigten. Dieser Schutz ist teuer: Im Jahr 2013 wurden in der Bundesrepublik rund 780 Milliarden Euro für reine Sozialleistungen (ohne Steuervergünstigungen) ausgegeben. Das ist fast ein Drittel des gesamten Wertes der in einem Jahr in Deutschland produzierten Güter und Dienstleistungen und ungefähr zweieinhalbmal so viel wie der gesamte Bundeshaushalt. Diese Summe ist so groß, dass man sie sich kaum vorstellen kann. Um sie zu einem Haufen aus 500 Euro-Scheinen zusammenzutragen, wären 44 Fahrten mit einem 40-Tonnen-Lastwagen notwendig. Übereinander gelegt würde sich ein mehr als 156 Kilometer hoher Stapel ergeben, der rund 1750 Tonnen wiegen würde (vgl. Österreichische Nationalbank, Externer Link: www.oenb.at/Bargeld/der-euro/banknoten.html). Doch von wem stammt dieses Geld, und wohin fließt es?
Das Sozialbudget nach Institutionen und Funktionen
Einen Überblick über alle Ausgaben für Sozialleistungen und deren Finanzierungsquellen gibt das Sozialbudget, das die Bundesregierung jährlich als Teil des Sozialberichtes veröffentlicht. Es ist gegliedert nach Funktionen – bei denen Leistungen nach ihrem jeweiligen Sicherungszweck zusammengefasst werden – und nach den Institutionen – also den einzelnen Systemen der sozialen Sicherung.
Die Institutionen im Einzelnen:
Die Sozialversicherungssysteme, bestehend aus der Kranken-, Unfall-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung, sind die ausgabenstärksten Institutionen. Sie erfassen alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und deren Angehörige sowie die Rentnerinnen und Rentner.
Die Förder- und Fürsorgesysteme umfassen das Kindergeld und den Familienleistungsausgleich, das Erziehungsgeld/Elterngeld, die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach SGB II, die sonstige Arbeitsförderung, die Ausbildungs- und Aufstiegsförderung, die Sozialhilfe nach SGB XII, die Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII und das Wohngeld.
Die Arbeitgebersysteme erfassen die direkten Aufwendungen der Unternehmen. Dies sind die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die betriebliche Altersversorgung inkl. der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes sowie sonstige Arbeitgeberleistungen. Der Beitragsanteil der Unternehmen zur Sozialversicherung wird nicht hier, sondern bei der Sozialversicherung berücksichtigt.
Die Systeme des öffentlichen Dienstes umfassen die (Beamten-)Pensionen, Familienzuschläge und Beihilfen zur Gesundheitsversorgung.
Zu den Sondersystemen gehören berufsgruppenspezifische Systeme wie die Alterssicherung für Landwirte und Versorgungswerke sowie die Leistungen der privaten Altersvorsorge und der privaten Kranken- und Pflegeversicherung.
Die Entschädigungssysteme erfassen die Ausgaben für soziale Entschädigungen, den sogenannten Lastenausgleich, die Wiedergutmachung sowie sonstige Entschädigungen. Sie sollen einen finanziellen Ausgleich für die Folgen politischer Ereignisse sowie für Eigentumsverluste infolge von Flucht und Vertreibung sowie die Kriegsopferversorgung leisten.
Daneben existieren noch steuerliche Entlastungen wie das Ehegattensplitting oder Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, die allerdings nicht in das Sozialbudget eingerechnet werden. Hierfür wurden im Jahr 2013 ungefähr 28 Milliarden Euro ausgegeben.
Bei einer prozentualen Darstellung der Ausgaben lässt sich die Gewichtung der verschiedenen Bereiche erkennen. Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) fließen mehr als die Hälfte der Sozialleistungen, also insgesamt rund 458,6 Milliarden Euro (= 53 Prozent), innerhalb der Gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung unseres Landes entspricht dies 16,6 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP*) in Höhe von 2735,8 Milliarden Euro. Dieser Ausgabenkomplex setzt sich deutlich vom Anteil der Kinder- und Jugendhilfe mit 3,5 Prozent (= 30,5 Mrd. Euro) oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II ("Hartz IV") mit 4,6 Prozent (= 39,8 Mrd. Euro) ab.
Bei der Gliederung nach Funktionen orientiert sich die Zuordnung an den Tatbeständen bzw. Risiken, denen eine Sozialleistung zu Grunde liegt. Im Sozialbudget werden zehn Funktionen unterschieden, die wiederum in fünf Oberkategorien zusammengefasst werden:
Über die Sozialversicherungen werden die sogenannten Arbeitnehmerrisiken abgesichert – also existenzgefährdende, aus einem Beschäftigungsverhältnis resultierende Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Berufsunfälle. Daneben bestehen allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit und Aufgabe der Erwerbstätigkeit aus Altersgründen, die ebenfalls zu Teilen in der Sozialversicherung und darüber hinaus in den anderen Institutionen/Funktionen abgesichert sind. Aus dem Sozialbudget lässt sich ablesen, welche Risiken in Deutschland als sicherungswürdig angesehen werden. Die Frage, wie wirksam diese Sozialleistungen sind, kann damit nicht beantwortet werden.
Wie wichtig diese Sozialleistungen sein können, zeigt ein Blick auf die Menschen in Deutschland, die ihren Lebensunterhalt nur mit Hilfe staatlicher Unterstützung bestreiten können: Zwar ist nach wie vor die eigene Erwerbstätigkeit die zentrale Einnahmequelle, ein wachsender Prozentsatz der Einwohnerinnen und Einwohner ist aber auf Renten und Pensionszahlungen sowie ein weiterer auf die Leistungen nach dem SGB III Arbeitslosenversicherung und dem SGB II Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen.
QuellentextSteuern und Sozialabgaben im Ländervergleich
[…] Muss ein Industrieland wie Deutschland die Steuern senken, um das Wachstum zu fördern? Oder braucht der Staat nicht höhere Einnahmen, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können, um Bildung, Kinderbetreuung und sozialen Ausgleich zu finanzieren? Und kann nicht gerade dies die Wirtschaft in Schwung bringen, weil ohne eine funktionierende öffentliche Infrastruktur ein Standort nicht gedeihen kann?
[…] Regelmäßig vergleicht die OECD, eine Organisation von wohlhabenden Ländern auf der ganzen Welt, wie viel der jeweilige Staat für sich beansprucht. In Deutschland behielt der Fiskus 2012 rund 23 Prozent der Wirtschaftsleistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), ein. Mit dieser Steuerquote ist der deutsche Staat deutlich bescheidener als Dänemark (47 Prozent), Frankreich (28 Prozent) und Großbritannien (28 Prozent), verlangt aber mehr als die öffentliche Hand in den USA (knapp 19 Prozent).
Allerdings spielen hierzulande Sozialabgaben eine wichtige Rolle. Mit ihnen finanziert die Bundesrepublik den Großteil der gesetzlichen Rente ebenso wie die Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Bezieht man diese Tarife mit ein, so kommt Deutschland auf eine Abgabenquote (Anteil der Steuern und Abgaben am BIP) von über 40 Prozent. Zu viel, zu wenig? Geschmackssache. Eine eindeutige wissenschaftliche ableitbare Antwort darauf gibt es nicht. Mit weniger kommen wirtschaftlich erfolgreiche Länder wie Luxemburg und die USA aus. Mehr verlangen wirtschaftlich erfolgreiche Länder wie Schweden, Österreich, Finnland und Dänemark. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen ökonomischen Erfolg und Steuerlast besteht also nicht.
Das Gute daran für die Politik: Sie hat die Freiheit zu gestalten. Dabei muss sie bedenken, dass es nicht allein darum geht, Einnahmen für den Staat zu sichern und Leistungsanreize für Arbeitnehmer und Unternehmer zu erhalten. Die Steuerpolitik prägt auch die Verteilung in einer Gesellschaft entscheidend mit. Von ihr hängt ab, ob die Chancen fair verteilt sind.
[…] Der deutsche Sozialstaat finanziert sich ungewöhnlich stark über kleine und mittlere Einkommen und verschont die Topgehälter. Teilweise führen Gutverdiener sogar weniger Steuern und Sozialabgaben von ihrem Einkommen ab als Geringverdiener. Laut OECD reicht ein Durchschnittsverdiener 2012 von jedem zusätzlichen Euro über 60 Prozent ans Finanzamt und die Sozialkassen weiter. Wer das Eineinhalbfache des Mittelwertes bezog, kam mit knapp 45 Prozent davon.
[…] Im Großen und Ganzen seien die Systeme in allen anderen Nationen "progressiv". Bei ihnen steigt also die Gesamtbelastung mit zunehmenden Einkommen. Anders in der Bundesrepublik. Hier werde der "Steuerkeil jenseits einer bestimmten Lohnstufe wieder kleiner". Entsprechend bezeichnet die OECD das deutsche System als "regressiv": Kleinere Einkommen werden stärker belastet als hohe Einkommen. Dies erklärt sich vor allem durch die hohe Bedeutung von Sozialabgaben. Während bei der Einkommensteuer der Tarif mit steigenden Gehältern überproportional steigt, belasten die Sozialversicherungen vor allem die kleinen Einkommen. […] Die eigentliche Vermögensteuer wird gar nicht erhoben, die Erbschaftsteuer bringt relativ wenig ein. […]
Markus Sievers, "Weit weg vom Ideal", in: Frankfurter Rundschau vom 22. Oktober 2014
Woher das Geld stammt: Quellen und Arten der Finanzierung
Das Geld, das im Sozialstaat umverteilt wird, muss vorher erwirtschaftet werden. Auf die sogenannten Primäreinkommen (= Summe der Arbeitnehmerentgelte und der Unternehmens- und Vermögenseinkommen) erhebt der Staat deshalb unterschiedliche Arten von Steuern und (Sozialversicherungs-)Beiträgen. Dieses Geld steht dann unter anderem zur Finanzierung der monetären Sozialtransfers (sogenannte Sekundäreinkommen) zur Verfügung. Darunter versteht man die Einkommen, die nicht aus entlohnter Erwerbsarbeit bzw. unternehmerischer Tätigkeit bzw. Vermögen resultieren.
Das Sozialbudget wird maßgeblich aus drei Finanzierungsquellen gespeist. Die Anteile des Staates und der Unternehmen liegen bei jeweils rund 34 Prozent. Weitere rund 30 Prozent erbringen die privaten Haushalte bzw. Versicherten. Unter Sonstiges fallen das Ausland (übrige Welt) sowie die personalwirtschaftlichen Aktivitäten privater Organisationen, die dem Feld der sozialen Dienste zugerechnet werden können. Das Sozialbudget erfasst dabei jedoch nicht die eigenen, etwa aus Spenden und Mitgliedbeiträgen finanzierten Aktivitäten dieser Organisationen wie beispielsweise die Aufwendungen für Tafeln oder Wohnungslosen- und Drogenhilfetreffs.
Die Betrachtung nach Finanzierungsarten macht deutlich, dass die meisten Sozialleistungen (2013: 64,1 Prozent) aus den Beiträgen zur Sozialversicherung bezahlt werden. Diese teilen sich zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf. Eine Ausnahme bildet die Unfallversicherung, die von den Arbeitgebern allein bezahlt wird. Im hohen Anteil der Sozialversicherungsbeiträge an den Gesamteinnahmen spiegelt sich der Grundsatz der Eigenverantwortung der am Erwerbsleben Beteiligten wider. In der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung gilt der Grundsatz der paritätischen Finanzierung, der zufolge Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen jeweils gleich großen Teil der Beiträge bezahlen. Dieses bröckelt jedoch vor allem im Gesundheitsbereich. So wurde bei der Einführung der Pflegeversicherung auf eine paritätische Finanzierung verzichtet, indem als Kompensation ein gesetzlicher Feiertag gestrichen wurde, und mit der Einführung des Gesundheitsfonds hat sich auch in der gesetzlichen Krankenversicherung die Aufteilung der Beitragsanteile zu Ungunsten der Arbeitnehmer verschoben.
34,1 Prozent der Einnahmen sind staatliche Zuschüsse und damit steuerfinanziert. Diese Steuern werden zwar sowohl von den Arbeitgebern als auch von den Arbeitnehmern erhoben. Da die Arbeitnehmer aber im Unterschied zu den Unternehmen bzw. selbstständig Tätigen kaum steuergestaltende Möglichkeiten haben, verstärkt dies die Ungleichheit der Finanzierungsanteile. Denn gerade die großen, multinationalen Konzerne nutzen alle Möglichkeiten zur Verringerung ihrer Steuerpflicht, was dazu führt, dass Deutschland in der Zwischenzeit mit "einem Anteil von 1,5 Prozent [der Unternehmenssteuern am BIP, die Verf.] sogar noch hinter den USA, Japan, Großbritannien und Frankreich" liegt, so der deutsche Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Hermann Adam 2013.
Die Entwicklung der Finanzierungsstruktur in den letzten 20 Jahren zeigt, dass die Beiträge der Arbeitnehmer moderat und die Zuschüsse des Staates deutlich gewachsen sind. Die Beiträge der Arbeitgeber sind hingegen seit der Wiedervereinigung stark zurückgegangen und liegen, nachdem sie zwischenzeitlich schon weit unter das Niveau der staatlichen Zuschüsse zurückgefallen waren, aktuell auf einem ähnlichen Niveau (34,2 Prozent).
>Die Frage, wer denn nun im deutschen Sicherungssystem die größeren Lasten zu tragen habe, ist nicht einfach zu beantworten. Die mikroökonomische Inzidenzanalyse (die die Wirkungen einer finanzpolitischen Maßnahme untersucht und dabei alle Unterschiede in der Einkommensverteilung ohne und mit finanzpolitischem Eingriff darstellt) hat ergeben, dass zumindest mittelfristig die Belastung für die einzelnen Gruppen weitgehend unabhängig davon ist, wer welchen Anteil einzahlt. Das gilt für Belastungen durch indirekte Steuern ebenso wie für Vergünstigungen durch Subventionen und für Sozialversicherungsbeiträge. Bei Letzteren wird je nach Zahlungsverpflichtung die Wirkung über die Lohnhöhe gehen: Bezahlen die Arbeitgeber die gesamte soziale Sicherung, wirkt dieses lohndämpfend, ist es umgekehrt, wird es die Löhne nach oben treiben.
Gleichwohl zeigt sich insgesamt ein Trend zur Lastenverschiebung in Richtung Steuerfinanzierung und Arbeitnehmerbeiträge. Denn wird zusätzlich noch die Entwicklung des gesamten Steueraufkommens mit betrachtet, so zeigt sich, dass die Lohn- und Verbrauchssteuern, die maßgeblich von abhängig Beschäftigten bzw. den Verbraucherinnern und Verbrauchern gezahlt werden, zusammen mittlerweile zwei Drittel des gesamten Steueraufkommens ausmachen, während die von der Wirtschaft bzw. den Kapitaleignern zu zahlenden Steueranteile auf etwa 25 Prozent gesunken sind. Der deutsche Steuer- und Sozialstaat ist somit immer mehr ein "Lohnsteuerstaat" geworden, wie es der Gießener Politologe Dieter Eißel formuliert.
Gesamtökonomisch mag sich dieser Effekt ausgleichen. Zieht man aber in Betracht, dass es keine gesamtpolitische Steuerung von Steuer- und Lohnpolitik gibt, die dafür sorgen würde, dass sich die Belastungen und Entlastungen in dem einen wie anderen Politikbereich direkt die Waage halten, bleiben Verteilungskonflikte in ihren Ergebnissen immer auch an gesellschaftliche Vertretungs- und Durchsetzungsmacht gebunden. Wenn dann noch berücksichtigt wird, dass sich privates Vermögen der nationalen staatlichen Besteuerung (legal) entziehen kann, wird deutlich, dass zumindest kurzfristig die Verteilung der Steuer- und Beitragslast erhebliche Auswirkungen auf das Haushaltseinkommen einerseits und die Spielräume für staatliches sozialpolitisches Handeln andererseits haben. Anders ließe sich die Paradoxie in den aktuellen sozialpolitischen Debatten nicht erklären, dass in einem Land, das laufend Wohlstandszuwächse produziert, immer wieder darüber gestritten werden muss, ob die sozialen Sicherungssysteme grundsätzlich in bestehender Form und Umfang finanzierbar seien.
Frankfurter Rundschau: […] [F]ür wen wirtschaften wir in Deutschland?
Ingo Kramer: Wir wirtschaften für die Entwicklung dieses Landes und dieser Volkswirtschaft. […]
Reiner Hoffmann: Wir wirtschaften für die Menschen, für deren Wohlstand. Wir wirtschaften aber auch dafür, dass es – wie es sich für eine soziale Marktwirtschaft gehört – gerecht zugeht. […] Wir erleben, dass die soziale Ungleichheit zunimmt, sowohl bei der Einkommens- als auch bei der Vermögensverteilung. […]
Kramer:Ich widerspreche. Es gibt kein anderes System, das den Ausgleich der Vermögen und Einkommen so gut organisiert wie unsere soziale Marktwirtschaft. Die obersten zehn Prozent der Einkommensteuerzahler leisten 55 Prozent des Steueraufkommens. Die obere Hälfte der Einkommensteuerzahler zahlt 95 Prozent des Steueraufkommens. Und wenn man berücksichtigt, dass ein Großteil des Vermögens in Form von Eigenkapital in den Betrieben des deutschen Mittelstands gebunden ist, dann haben wir in Deutschland seit vielen Jahren keine auseinandergehende Schere bei den Vermögen.
Hoffmann: Widerspruch! Wenn ich von der Ungleichheit der Vermögensverteilung rede, dann geht es […] um die Privatvermögen, und hier vor allem um die, die sich aus den Kapitaleinkünften speisen. Sie haben Dimensionen angenommen, die nicht nur sozial nicht gerecht sind. Sie sind auch ein ökonomisches Problem. Wir haben mittlerweile private Geldvermögen, die keine Anlagemöglichkeit mehr finden in der Realwirtschaft. Sie vagabundieren stattdessen an den internationalen Kapitalmärkten aus rein spekulativen Gründen. Diese hochgradig ungleiche Vermögensverteilung ist eine der Ursachen der internationalen Finanzmarktkrise, die in Europa letztlich dazu geführt hat, dass Menschen in Armut leben. […]
FR: […] Im Jahr 2000 haben hierzulande 4,4 Prozent der erwerbstätigen Haushalte Sozialleistungen bezogen. Im Jahr 2010 waren es sechs Prozent. Können die Unternehmen keine Löhne bezahlen, die in Deutschland zum Leben reichen, Herr Kramer? Kramer: Die Unternehmen zahlen in Deutschland in aller Regel Löhne, die zum Leben reichen. […] Die meisten Menschen, die ergänzend zu ihrem Lohn Sozialleistungen beziehen, tun dies, weil sie nur wenige Stunden arbeiten oder eine Familie allein zu versorgen haben.
FR: Kein anderes europäisches Land hat laut Hans-Böckler-Stiftung einen größeren Niedriglohnsektor als Deutschland.
Kramer: Nein, das ist falsch! Deutschland hat zwar viele Menschen, die nur einen geringen Lohn haben, weil sie zum Beispiel nur Teilzeit arbeiten. Dafür haben wir deutlich weniger Arbeitslose als andere. […] Wir haben heute einen Beschäftigungsrekord, und jeder Aufstieg setzt einen Einstieg voraus. […]
Hoffmann: Ich gehe bis zu dem Punkt mit, dass man die Zusammensetzung unseres Niedriglohnsektors differenziert sehen muss. Gleichwohl bleibt es dabei, dass wir im europäischen Vergleich den größten Niedriglohnsektor haben ...
Kramer: Bei geringster Arbeitslosigkeit!
Hoffmann: Das stimmt nur bedingt. Denn in den skandinavischen Ländern arbeiten zwischen drei und sieben Prozent der Erwerbstätigen für einen Niedriglohn (Deutschland: 24 Prozent, Anm. d. Red.), und die Arbeitslosigkeit ist auf einem ähnlich geringen Niveau wie in Deutschland. In diesen Ländern sind auch die Einkommensunterschiede deutlich geringer als in Deutschland. Hier haben wir nach wie vor Korrekturbedarf. […]
FR: Lassen Sie uns weitere Zahlen anschauen. Von 2000 bis 2013 ist die deutsche Wirtschaft um 31 Prozent gewachsen. Gleichzeitig haben die Arbeitnehmer einen Reallohnverlust von 0,7 Prozent erlitten. Sie können sich heute weniger leisten als damals. Nur für die Beschäftigten, für die ein Tarifvertrag gilt, gab es ein Plus – von 8,2 Prozent.
Hoffmann: So ist das! Das zeigt zwei Dinge. Erstens: Da wo Tarifverträge Anwendung finden, konnten nicht nur die Realeinkommen gesichert werden, die Menschen konnten zumindest partiell auch am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt werden. Zweitens sehen wir, dass wir mit der Tarifpolitik alleine keine Verteilungsgerechtigkeit hinbekommen. Wir haben in den letzten Dekaden Steuerentlastungen für die Bezieher von Kapitaleinkünften gehabt. Heute tragen die Arbeitnehmer mit ihren Lohnsteuern wesentlich stärker zu den Staatseinnahmen bei als die Kapitalanleger.[…]
Kramer: Man braucht beides. […] Und wenn wir die Eigenkapitalstruktur der Unternehmen verbessern wollen, damit sie besser gegen Risiken geschützt sind, dann muss das Geld irgendwo herkommen. […]
FR: Jeder vierte Euro, der heutzutage erarbeitet wird, fließt den Vermögen zu. Halten Sie das für zu viel, für angemessen oder zu wenig?
Kramer: Ich habe schon versucht zu erklären: Der Vermögenszuwachs findet in der Wertsteigerung der Unternehmen statt. Das Geld wird nicht zum Taschengeld der Reichen. Es ist in Maschinen, es ist in Know-how, es ist in Gebäuden gebunden. Der deutsche Mittelstand ist daran interessiert, das Vermögen über Generationen im Unternehmen zu halten. Damit entzieht er sich Ihrer Taschengeld-Philosophie. […]
Hoffmann: Die ungleiche Vermögensverteilung hat in Deutschland zugenommen. Natürlich wollen wir als Gewerkschaften den Mittelstand nicht strangulieren. Aber wenn ein Prozent der deutschen Bevölkerung ein Drittel des Privatvermögens besitzt, dann geht es nicht um den kleinen Mittelstand, der zum Teil erhebliche Schwierigkeiten hat, genügend Geld zu bekommen, um notwendige Investitionen zu tätigen. […] Mir kann keiner erklären, warum ich mit einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit, wenn ich gut verdiene, 45 Prozent Steuer zahle, und derjenige, der über entsprechende Kapitaleinkünfte verfügt, sich mit 25 Prozent davonstehlen kann. […] Die Kapitaleinkünfte müssen in den Einkommensteuertarif zurückgeführt werden. […]
FR: […] [W]elche Auswirkungen [sehen] Sie für die Nachfrage […], wenn sich ein Drittel der Bevölkerung laut Statistischem Bundesamt eine unvorhergesehene Anschaffung oder eine Reparatur nicht leisten kann [?]
Kramer: Wir haben in Deutschland eine sehr hohe Sparquote. Und größere Anschaffungen hängen für Bürger und Unternehmen immer auch mit Krediten zusammen. Niemand wird immer alles aus der Kasse bezahlen können. […]
Hoffmann: Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in der Tat eine immer größere Gruppe von Menschen in unserem Lande haben, die ganz normale Ausgaben für den Konsum nicht tätigen können. […] Wir müssen den Niedriglohnsektor eindämmen und die Binnennachfrage stärken. Davon lebt am Ende auch die Wirtschaft. […]
"Widerspruch!", Streitgespräch zwischen dem Arbeitgeberpräsidenten Ingo Kramer und dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann, Moderation: Daniel Baumann, in: Frankfurter Rundschau vom 27. September 2014
Umverteilungswirkungen in der sozialen Sicherung
Monetäre Transfers, also Geldzahlungen, sind charakteristisch für das deutsche Sicherungssystem. Mit Ausnahme der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Gesetzlichen Kranken- und Arbeitslosenversicherung wird der größte Teil der Leistungen auf diese Weise erbracht. Dies gilt insbesondere für die Gesetzliche Rentenversicherung, die annähernd 90 Prozent ihrer Ausgaben in Form von Rentenzahlungen tätigt. Da die Höhe einer Lohnersatzleistung von der Höhe und Dauer des vorher eingezahlten Beitrages abhängt, wirkt diese Transferlastigkeit gerade bei den Renten, aber auch beim Kranken- und Arbeitslosengeld statusstabilisierend. Es findet also wenig Ausgleich zwischen den Gutverdienenden und Geringverdienenden statt. Vereinfacht zusammengefasst folgt die Umverteilung der Logik: Wer hat, behält. Wer wenig hat, bekommt kaum etwas dazu. Die Ungleichverteilung der Erwerbseinkommen wird in einer Ungleichverteilung der Renten und anderer Geldleistungen "unerbittlich festgeschrieben", wie es der Rentenexperte Erich Standfest klassisch formulierte.
Stellt sich abschließend noch die Frage, ob sich Deutschland diese enormen Aufwendungen für die soziale Sicherung eigentlich leisten kann, oder ob wir nicht über unsere Verhältnisse leben? Dies lässt sich mit Blick auf die absolute Höhe der Ausgaben bzw. deren Aufteilung auf einzelne Sicherungsbereiche nicht beantworten, da eine sinnvolle Bezugsgröße fehlt. Nicht zuletzt deshalb werden mit der Sozialleistungsquote die Sozialausgaben ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung eines Landes gesetzt. Im europäischen Vergleich lag Deutschland im Jahr 2010 mit 30,6 Prozent auf dem 4. Platz hinter Frankreich (33,8 Prozent), Dänemark (33,3 Prozent) sowie den Niederlanden (32,1 Prozent) und ca. 1,2 Prozentpunkte über dem EU-Durchschnittswert von 29,4 Prozent (vgl. Externer Link: http://ec.europa.eu/eurostat/).
Insgesamt ist in den letzten 20 Jahren die Sozialleistungsquote vergleichsweise stabil geblieben. Sie schwankt um die 30 Prozent-Marke. Angesichts der Tatsache, dass in diesem Zeitraum die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland ebenfalls Schwankungen unterlag, die Bundesrepublik aber gleichzeitig seit Jahrzehnten ihre Stellung als eine der wichtigsten Wirtschafts- und Exportnationen weltweit behaupten konnte, liegt der Schluss nahe, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und der Sozialaufwand, der in Deutschland betrieben wird, in einem durchaus soliden Verhältnis stehen. Angemerkt werden muss allerdings, dass es keine wissenschaftlich definierte Zielgröße für eine ökonomisch sinnvolle Sozialleistungsquote gibt.
QuellentextDas Spiel mit den Zahlen
Eine Reihe von Faktoren beeinflusst sowohl die absolute Höhe der Sozialausgaben als auch die Sozialleistungsquote. Die Zahlen müssen deshalb immer einer differenzierten Analyse unterzogen werden. Vereinfacht gesagt, können sowohl steigende als auch sinkende Ausgaben durch eine soziale Krisensituation oder durch ein gut ausgebautes Sicherungssystem entstehen:
Steigende Sozialleistungsquoten signalisieren nicht per se einen Ausbau der Sozialleistungen, denn sie können durch einen Zuwachs der Bedürftigen verursacht sein – etwa im Zuge der Wiedervereinigung, bei Massenarbeitslosigkeit oder durch Frühverrentungsprogramme.
Sinkende Sozialleistungsquoten signalisieren nicht per se eine Verschlechterung, denn durch Prävention kann eine Senkung von Ausgaben und damit eine abnehmende Quote erreicht werden. Der Rückgang signalisiert dann eine Verbesserung der sozialen Lage.
Wichtig ist auch die Entwicklung der Wirtschaftsleistung als Bezugsgröße:
Wenn das BIP steigt und die Sozialleistungsausgaben stabil bleiben, sinkt automatisch die Sozialleistungsquote. Ein solcher Effekt war zum Beispiel im Zeitraum zwischen 2004 und 2008 zu beobachten und also kein Anzeichen von Sozialabbau.
Dies funktioniert allerdings auch umgekehrt. Während der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise war im Jahr 2009 ein enormer Anstieg der Sozialleistungsquote zu beobachten. Was wie eine Ausweitung der Sozialausgaben aussieht, entpuppt sich vorrangig als mathematischer Effekt, denn begleitet war die Wirtschaftskrise von einem deutlichen Rückgang des BIP. Selbst gleichbleibende Sozialausgaben führen dadurch zu einer Erhöhung der Sozialleistungsquote – ohne dass ein Cent mehr für die Menschen ausgegeben wird.
Hinzu kommen weitere statistische Effekte: So können sich die Berechnungsgrundlagen der einzelnen Faktoren ändern. Im Jahr 2009 beispielsweise wurden im Sozialbudget erstmalig Leistungen der privaten Krankenversicherung berücksichtigt, was natürlich eine Steigerung des Gesamtbudgets verursachte, ohne dass sich qualitativ etwas Neues in der Gesundheitsversorgung ergeben hätte. Im Übrigen sind damit auch die Zahlen vor und nach 2009 nicht mehr vergleichbar. Langfristige Trends bleiben aber erkennbar.
Jürgen Boeckh / Johannes D. Schütte
Aufbau und Funktionslogik der sozialen Sicherung in Deutschland
In Deutschland ist die Kombination von kommunaler und zentralstaatlicher Aufgabenwahrnehmung prägend für das sozialstaatliche Arrangement. Idealtypischer Weise ist dabei das Sozialversicherungssystem auf die Absicherung der standardisierbaren Risiken ausgerichtet (Sozialversicherung/Arbeiterpolitik), während die kommunale Sozialpolitik die nicht-standardisierbaren Risiken in Form einer bedarfsgeprüften Einzelfallhilfe abdecken soll (Fürsorge/Armenpolitik). Der Sozialpolitik stehen grundsätzlich drei Eingriffsformen zur Verfügung:
Regulative Politik: Durch Gesetze und verbindliche Regelungen wird das Verhalten von Menschen, Gruppen, Institutionen und Unternehmen normiert und gesteuert.
Distributive Politik: Durch Steuern und sozialpolitische Leistungen wird die primäre Einkommensverteilung (Löhne und Gewinne) korrigiert.
Infrastruktur- und Dienstleistungspolitik: Für unterschiedliche Zielgruppen werden im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen spezialisierte Einrichtungen, Beratungsstellen und soziale Dienstleistungen vorgehalten, die bei Bedarf und häufig weitgehend kostenfrei in Anspruch genommen werden können.
Das deutsche Sicherungssystem fußt dabei im Wesentlichen auf den Zweigen der Sozialversicherung, den Fürsorgeleistungen sowie den Versorgungsleistungen. Diese Systeme erbringen Geld-, Sach- und Dienstleistungen:
Geldleistungen sollen im Regelfall Einkommensverluste ausgleichen, die durch das Auftreten bestimmter Risiken verursacht wurden, wie beispielsweise Altersrente, Krankengeld und Arbeitslosengeld.
Sachleistungen werden vor allem im Rahmen der Krankenversicherung erbracht und zielen auf die Unterstützung des Heilungsprozesses bzw. die hauswirtschaftliche Versorgung. Dazu gehören Medikamente, Verbands- und Pflegematerialien, Brillen und medizinische Hilfsmittel. Gerade im Bereich der Gesundheitsversorgung müssen die Betroffenen häufig private Zuzahlungen leisten.
Dienstleistungen sind personenbezogene Hilfeleistungen an konkreten Personen, wie beispielsweise eine ärztliche Behandlung, Beratungsleistungen oder Aus-, Fort- und Weiterbildung, die in öffentlicher oder privater Trägerschaft stehen. Soziale Dienste sind eine Sonderform der Dienstleistungen und werden sowohl stationär wie ambulant angeboten. Sie zielen auf Personen, die von anderen Einrichtungen nicht erfasst werden oder deren spezifischer Hilfebedarf den Einsatz bestimmter sozialarbeiterischer, sozial- oder heilpädagogischer Interventionen erfordert.
In diesem Bereich sind die Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), die Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), die Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI), die Gesetzliche Arbeitslosenversicherung (SGB III) sowie die Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) zusammengefasst.
Die Sozialversicherungen sind Pflichtversicherungen. Sie erfassen im Prinzip alle Beschäftigten im Arbeiter- und Angestelltenverhältnis, sofern diese in einem gewissen Umfang beschäftigt sind. Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, zum Beispiel Minijobs, sind nur teilweise oder auch gar nicht erfasst. Eine Ausnahme von der Pflichtmitgliedschaft bildet die Gesetzliche Krankenversicherung. Hier können die Versicherten ab einem bestimmten Einkommen in die Private Krankenversicherung (PKV) wechseln. Aus der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung kann nur ausscheiden, wer keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (mehr) nachgeht. Auch führt die Familienarbeit (etwa Kinderbetreuung/-erziehung) nicht zu einem eigenständigen Versicherungsanspruch. Allerdings kennt die Sozialversicherung abgeleitete Ansprüche, etwa wenn Kinder oder nicht berufstätige Ehepartner im Rahmen der Familienversicherung der Gesetzlichen Krankenversicherung beitragsfrei mitversichert werden oder Hinterbliebene im Rahmen der Rentenversicherung Zahlungen erhalten (Solidarprinzip).
Die Höhe der gezahlten Geldleistungen orientiert sich an der Höhe des Verdienstausfalls bzw. an der Höhe der zuvor eingezahlten Beiträge (Äquivalenzprinzip). Das bedeutet, dass die Sozialleistung umso höher ist, je mehr der/die Betragszahler/-in vorher eingezahlt hat. Der Umfang der Sach- und Dienstleistungen hingegen bemisst sich an den Erfordernissen und rechtlichen Leistungskatalogen für den jeweiligen Versicherungsfall und ist damit unabhängig von der Beitragszahlung (Solidarprinzip).
Seit dem 1. April 2007 gibt es in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine allgemeine Versicherungspflicht für alle Beschäftigten in Deutschland. Sie erfasst damit fast alle abhängig Beschäftigten, es sei denn, sie überschreiten mit ihrem Bruttoeinkommen die Versicherungspflichtgrenze. In diesem Fall kann in die private Krankenversicherung (PKV) gewechselt werden. Des Weiteren sind Rentner, Studierende, Arbeitslose, die Arbeitslosenunterstützung erhalten, Behinderte in geschützten Einrichtungen u. a. m. pflichtversichert. Auch für Beschäftige mit Mini- bzw. Midi-Jobs müssen die Arbeitgeber Krankenversicherungsbeiträge abführen. Unterhaltsberechtigte Familienangehörige sind über die beitragsfreie Familienversicherung abgesichert.
Die wichtigsten Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind:
präventive Gesundheitsleistungen (z. B. Früherkennung, Vorsorgeuntersuchungen) und die Krankenbehandlung, erbracht durch:
ambulante sowie (teil-)stationäre ärztliche und zahnärztliche Behandlung bei niedergelassenen Ärzten bzw. in Krankenhäusern;
die Versorgung mit Arznei-, Verbands-, Heil- und Hilfsmitteln, wobei nicht alle Sachleistungen durch die Krankenkassen erstattet bzw. zum Teil erhebliche Zuzahlungen nötig werden;
häusliche Krankenpflege und hauswirtschaftliche Versorgung sowie
Leistungen zur Rehabilitation, zur Belastungserprobung und Arbeitstherapie;
sowie die Zahlung von Geldleistungen in Form von:
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei Erkrankung des/der Beschäftigten (Krankengeld),
Lohnfortzahlung bei Erkrankung eines zu betreuenden Kindes (Kinderkrankengeld),
Mutterschaftsgeld vor und nach der Geburt eines Kindes.
Die Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) soll durch präventive Maßnahmen vor Arbeitsunfällen und berufsbedingten Erkrankungen schützen. Zu ihren Aufgaben gehört zudem, die Folgen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten
durch heilende (kurative) und rehabilitative Leistungen zu begrenzen,
die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen (Wiedereingliederungsziel) und
die Betroffenen bzw. deren Hinterbliebene ggf. mit Geldleistungen zu entschädigen.
Die wichtigsten Instrumente der GUV sind die Übernahme der Kosten für Heilbehandlungen und medizinische Rehabilitation, das Verletztengeld und die Unfallrente sowie Leistungen zur Sicherung der Teilhabe im Arbeitsleben bzw. am Leben in der Gemeinschaft.
Die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) tritt ein, wenn Menschen aufgrund von Alter oder verminderter Erwerbsfähigkeit ganz oder teilweise aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Ist der Versicherte verstorben, werden auch an unterhaltsberechtigte Angehörige (Witwen- und [Halb-]Waisen-)Renten bezahlt. Damit ein Anspruch auf eine Rente begründet wird, müssen bestimmte Beitragszeiten nachgewiesen werden.
Die Gesetzliche Arbeitslosenversicherung (GAV) unterscheidet zwischen Regelungen, die
sich auf die Förderung und den Erhalt der individuellen Beschäftigungsfähigkeit,
auf Leistungen zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen und die Stabilisierung des Arbeitsmarktes sowie
auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit bzw. Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers beziehen.
Die GAV unterscheidet nach Instrumenten der aktiven und passiven Arbeitsförderung. Zu den Instrumenten aktiver Arbeitsförderung gehören die Berufsberatung, die Vermittlung in Arbeit sowie die berufliche Weiterbildung. Aber auch Arbeitgeber können Leistungen, in der Regel in Form von (Lohnkosten-)Zuschüssen, beziehen, etwa wenn sie Menschen einstellen, die als besonders schwer in den Arbeitsmarkt vermittelbar gelten. Des Weiteren werden auch die Anbieter von Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung bzw. von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus der Gesetzlichen Arbeitslosenversicherung finanziert.
Das wichtigste Instrument der passiven Arbeitsförderung ist die Zahlung des Arbeitslosengeldes (ALG I). Es beträgt 60 Prozent des letzten Nettoentgeltes. Ist mindestens ein unterhaltsberechtigtes Kind vorhanden, steigt die Lohnersatzrate auf 67 Prozent. Da das ALG I nicht bedarfsgeprüft errechnet wird und nach unten nicht gedeckelt ist, kann es vorkommen, dass ergänzend das ALG II ("Hartz IV") der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beantragt werden muss (sogenannte Aufstocker). Die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II ist aber selbst keine Versicherungs- sondern eine Fürsorgeleistung, die für alle Menschen eintritt, die arbeitslos und arbeitssuchend sind und keinen Anspruch auf ALG I (mehr) haben.
Die Gesetzliche Pflegeversicherung (GPV) ist der jüngste Zweig der Sozialversicherung. Mit ihr soll insbesondere auf die Herausforderungen des demografischen Wandels und der zunehmenden Alterung der Bevölkerung reagiert werden. Die GPV unterstützt Leistungen zur häuslichen Pflege (sogenannte Pflegesachleistungen, wenn ein professioneller Pflegedienst eingeschaltet wird, bzw. Pflegegeld, wenn die Pflege durch Privatpersonen übernommen wird) und zur stationären Pflege. Bezuschusst werden jedoch nur die pflegebedingten Kosten. Die sogenannten Hotelkosten wie Unterkunft und Verpflegung sind nicht erstattungsfähig. Die Pflegeversicherung ist keine Vollkostenversicherung, sondern hat Zuschusscharakter. Die Höhe des Zuschusses hängt vom Grad der Pflegebedürftigkeit ab und wird über Pflegestufen abgebildet. Wenn die Leistungen der GPV nicht ausreichen, muss privates Einkommen (in der Regel Renten) und Vermögen eingesetzt werden. Dies kann insbesondere bei schwerer Pflegebedürftigkeit dazu führen, dass die Kosten der Pflege zur Mittellosigkeit führen und die Betroffenen Sozialhilfe nach SGB XII beantragen müssen. In diesem Fall wird dann auch eine mögliche Unterhaltsverpflichtung der Angehörigen geprüft.
Die Fürsorgeleistungen sind vorleistungsfrei, das heißt weder an Beiträge noch Steuerzahlungen oder sonstige Vorleistungen gebunden, und bilden das letzte soziale Auffangnetz. Der Rechtsanspruch auf Fürsorge besteht dem Grunde nach, die Leistung setzt ein, wenn eine tatsächliche Notlage und zugleich Bedürftigkeit vorliegen. Dieses müssen die Hilfsbedürftigen nachweisen, indem sie ihre persönlichen Verhältnisse offenlegen (Mitwirkungspflicht). Die Leistungen werden aus Steuermitteln finanziert. In der Realität finden sich auch Mischformen, etwa bei der Ausbildungsförderung (BAföG), die in der Sache eine Versorgungsleistung darstellt, gleichwohl mit einer Bedürftigkeitsprüfung versehen ist.
Vom Grundsatz her unterscheidet die Mindestsicherung danach, ob eine hilfebedürftige Person erwerbsfähig ist oder nicht. Dieses wird angenommen, wenn sie mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei es unerheblich ist, ob der Arbeitsmarkt entsprechende Stellen bereithält. Die Mindestsicherungssysteme im SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und SGB XII (Sozialhilfe) sollen ein soziokulturelles Existenzminimum sichern und damit eine – wenn auch eingeschränkte – Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Geldleistungen umfassen die Kosten für eine angemessene Unterkunft (inkl. Heizkosten) sowie den pauschalisierten Regelsatz für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat sowie die soziokulturelle Teilhabe. Speziell für Kinder und Jugendliche wurde das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) in die Grundsicherung für Arbeitsuchende aufgenommen, um ihre bessere schulische und soziale Förderung zu gewährleisten.
Eine Besonderheit stellt die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) dar. Damit wollte der Gesetzgeber vor allem die Bezieherinnen von Kleinstrenten auf das Niveau der Mindestsicherung anheben. Die Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung ist aber keine Ersatz- oder Mindestrente, sondern eine bedarfsabhängige Fürsorgeleistung. Allerdings sind die Vorschriften zum Unterhaltsrückgriff gegenüber den Angehörigen nicht so streng wie in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Die Höhe und Angemessenheit der Mindestsicherungsleistungen werden immer wieder kontrovers diskutiert. Im SGB II liegt der Fokus vor allem auf der Integration in den Arbeitsmarkt. Die Leistungsbeziehenden sollen aktiviert und auf eine Beschäftigung vorbereitet werden. Dabei besteht kein Qualifikationsschutz – das oberste Ziel ist die Arbeitsaufnahme und nicht der Erhalt bzw. die Weiterentwicklung der Qualifikation der Leistungsbeziehenden. Werden Arbeits- oder Integrationsangebote nicht angenommen, so kann die Arbeitsverwaltung Sanktionen aussprechen und die Arbeitslosenunterstützung (ALG II) kürzen.
Die Versorgungssysteme
Versorgungssysteme unterstützen diejenigen, die eine Vorleistung für die Gemeinschaft erbracht haben oder bei denen eine besondere Lebenssituation vorliegt, die gesellschaftlich als schützens- bzw. unterstützenswert erachtet wird. Versorgungsleistungen werden aus Steuermitteln finanziert. Die wichtigsten Leistungen in diesem Bereich stellen der sogenannte Familienleistungsausgleich und die Förderung zur Teilhabe und Rehabilitation behinderter Menschen (SGB IX) dar. Mit dem Familienleistungsausgleich sollen die Mehraufwendungen, die durch die Erziehung von Kindern entstehen, abgemildert werden. Die wichtigste Leistung stellt hierbei das Kindergeld dar. Mit dem SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) steht zudem ein umfassendes Leistungsrecht zur Verfügung, das auf die Bedürfnisse behinderter Menschen ausgerichtet ist und deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern soll.
Die sozialen Dienste
Die sozialen Dienste finden sich organisatorisch und rechtlich zu großen Teilen im SGB und damit in den Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeleistungen wieder. Darüber hinaus können ihnen in einem weiteren Sinne auch die Bildungsleistungen zugeordnet werden. Soziale Dienste ergänzen die materiellen Geldleistungen und bilden mit ihnen zusammen eine Einheit in der Hilfeerbringung. Neben den gesetzlich abgesicherten und refinanzierten sozialen Diensten (vor allem im SGB V Gesetzliche Krankenversicherung und dem SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe) existieren eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte und Angebote zur Unterstützung von einzelnen Zielgruppen, die sich aus Spenden, Schenkungen, Selbsthilfe und aus Erträgen aus der gewerblichen Tätigkeit von Vereinen refinanzieren.
QuellentextEngagement für Menschen ohne Krankenversicherung
Zahnärzte haben oft mittwochmittags frei. Nicht jedoch Jürgen Apitz. […] Apitz kümmert sich […] ehrenamtlich um Menschen, die woanders nicht oder nur selten behandelt werden. Über zwanzig Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern tun es Apitz auch an anderen Wochentagen gleich. Zusammen betreiben sie in Mainz die "Ambulanz ohne Grenzen" – eine Art Krankenhaus für all diejenigen, die durch das Netz des deutschen Gesundheitssystems fallen.
Es sind Menschen wie Elena N. Als die in Mainz lebende Rumänin krank wurde, merkte sie, dass ihr im Krankenhaus nicht so einfach geholfen werden konnte. Man wollte ihre kleine Plastikkarte sehen, die bestätigt, dass sie Mitglied in einer Krankenversicherung ist. Doch N. hatte eine solche Karte nicht: […] Ihr Mann arbeitete zwar in Deutschland – sein Arbeitgeber hatte ihn aber nicht sozialversicherungspflichtig angestellt. N. stand vor der Frage, wie sie ihre Behandlung und die ihrer Kinder bezahlen soll.
Über den Hilfsverein Medinetz hat N. dann erfahren, dass es am Rand der Mainzer Altstadt […] Hilfe gibt für Menschen wie sie. Einen Ort, an dem niemand nach der Plastikkarte fragt, die N. nicht hat. Ein Ort, an dem N. und ihren Kindern von Ärzten wie Jürgen Apitz kostenlos geholfen wird.
"Es ist unsere Pflicht, hier etwas zu tun und den Menschen ohne Krankenversicherung zu helfen", sagt Gerhard Trabert. Der in Rheinhessen lebende Arzt und Hochschullehrer ist Vorsitzender des Vereins "Armut und Gesundheit" und Mitbegründer des kleinen Krankenhauses, das der Verein seit rund anderthalb Jahren […] betreibt. Läuft man durch den hellen, mit bunten Bildern behangenen Gang der kleinen Poliklinik, wähnt man sich fast in einem normalen Krankenhaus. Denn neben den Zahnärzten sind in den sechs mit professionellem Equipment ausgestatteten Behandlungszimmern beispielsweise auch Gynäkologen, Kinderärzte und Neurologen aktiv. Es gibt sogar einen Psychiater, der sich an drei Stunden in der Woche vor allem um traumatisierte Asylbewerber kümmert.
"Wir schicken niemanden weg", erklärt Sozialarbeiterin Nele Kleinehanding den Grundkonsens, welcher der Arbeit der Ambulanz ohne Grenzen zugrunde liegt. Heißt: Wenn ein Patient keinen gültigen Aufenthaltstitel hat, gibt er einfach einen Fantasienamen am Empfang der Ambulanz an. Auf diese Weise trauen sich auch Flüchtlinge in die Einrichtung, die ansonsten – von ihren finanziellen Möglichkeiten einmal ganz abgesehen – wohl niemals einen Arzt in Deutschland aufsuchen würden. "Dass es uns gibt, spricht sich herum", sagt Apitz. Neben den Flüchtlingen und den EU-Bürgern wie Elena N. aus Rumänien sind es beispielsweise aus der Haft Entlassene, die noch keine Gesundheitskarte ausgestellt bekommen haben, die sich in der Ambulanz ohne Grenzen behandeln lassen. Oder alte Menschen, die ihre private Krankenversicherung nicht mehr bezahlen können und sich deshalb nicht mehr trauen, zum "regulären" Arzt zu gehen.
Das kleine Krankenhaus ist für die vielen Menschen, die es mittlerweile nutzen – deutlich über Hundert im Monat – grundsätzlich gut gerüstet. So haben Ärzte, die in den Ruhestand gegangen sind, zur Einrichtung der Behandlungsräume ihr Praxismobiliar gespendet. Medikamente kommen vor allem von Privatpersonen, und die Zahntechnikerinnung Rheinland-Pfalz hat kostenlos Zahnprothesen zur Verfügung gestellt – um nur einige Beispiele zu nennen.
Dennoch mangelt es den Medizinern zur Behandlung ihrer Patienten an vielen Ecken und Enden – und wenn es nur die Mittelchen gegen Erkältung sind, deren Vorräte womöglich auch in diesem Winter wieder zur Neige gehen werden. […]
Vor allem zu den Zahnmedizinern kommen allerdings auch Patienten, die zwar krankenversichert sind, sich jedoch die teils erheblichen Zuzahlungen nicht leisten können, die ihre Krankenkassen von ihnen verlangen. "Wer 1000 Euro Rente bekommt, kann nicht 500 Euro für Zahnersatz ausgeben", erklärt Apitz nüchtern. Außerdem hätten manche Leute schlicht "Scham". Das ist auch der Grund, warum er und seine Kollegen bei ihrer Arbeit generell keine weißen Kittel tragen. Das Angebot soll niederschwellig sein.
[…] [V]iele Unversicherte haben mittlerweile Vertrauen in "ihre Ärzte" gefasst. Was für die Wohnungslosen nur bedingt gelten kann, ist in der "Ambulanz ohne Grenzen" höchstes Ziel der gemeinsamen Anstrengungen: Die Leute (wieder) in das Versicherungssystem integrieren, damit sie ganz normal, wie die Menschen, denen sie täglich auf der Straße begegnen, zum Arzt gehen können. Sozialarbeiterin Kleinehanding klappert mit ihnen Ämter ab und hilft dabei, wieder regulären Versicherungsschutz zu bekommen. "Viele unserer Patienten wissen gar nicht, welche Ansprüche sie eigentlich haben", so Kleinehanding – wenn sie welche haben. […]
Fabian Scheuermann, "Die Lücke im System", in: Frankfurter Rundschau vom 16. Dezember 2014
Funktionen der Sozialpolitik
Sozialpolitik fördert den Ausgleich sozialer/materieller Interessen, legitimiert dadurch die Verteilungsergebnisse innerhalb einer Gesellschaft und fördert im demokratischen Staat friedliche Formen der sozialen Auseinandersetzung. In der arbeitsteiligen Gesellschaft erfüllt die Sozialpolitik über Konstitution, Kompensation sowie Prävention drei wesentliche Funktionen. Sie verfestigt dabei die für unser Wirtschaftssystem zentrale Trennung der Bereiche bezahlte Erwerbsarbeit (zur Sicherung eines ausreichenden Haushaltseinkommens) und (Privat-)Leben (zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit, inklusive nicht bezahlter häuslicher Pflege- und Betreuungsleistungen), zugleich trägt sie dafür Sorge, dass diese beiden Bereiche in einer Balance und damit sozial akzeptierbar bleiben.
Die konstitutive Funktion: Der Wechsel zwischen Arbeits- und Privatleben entzieht sich für den Großteil der Menschen der freien Selbstbestimmung. In der Regel müssen wir Erwerbsarbeit leisten, um unseren Lebensunterhalt zu sichern. Zwar ist direkt ausgeübter Zwang zur Arbeit in Deutschland verfassungsrechtlich verboten, es gibt jedoch auch kein Bürgergeld, das es jedem Einzelnen ermöglichen würde, unabhängig von der Erwerbsarbeit zu leben. So bestehen sozialpolitische Regelungen, die den Zugang in bzw. den Abgang aus abhängiger Erwerbsarbeit regeln und damit bestimmend (= konstitutiv) für die Durchsetzung von abhängiger Erwerbsarbeit werden. Ein Ausscheren aus dieser Logik ist – zumindest sozialpolitisch flankiert – nur für Personengruppen vorgesehen, die nicht arbeitsfähig sind wie etwa Schülerinnen und Schüler, alte Menschen, chronisch kranke oder behinderte Menschen. Für Menschen, die im Bezug der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II / ALG II) stehen, existieren strenge Zumutbarkeitsregelungen, die eine schnelle Eingliederung in den Arbeitsmarkt zum Ziel haben.
Die kompensatorische Funktion setzt ein, wenn der Einzelne daran gehindert ist, den Erhalt seiner Existenzgrundlagen selbst zu sichern. Die Unterstützung kann in Form von Geld-, Sach- und Dienstleistungen erfolgen. Damit haben die sozialstaatlichen Leistungen auch eine Schutzfunktion, die wiederum an Verteilungs- bzw. Umverteilungsvorgänge gebunden ist. Denn die Mittel, die der Einzelne bzw. der Haushaltsverbund benötigt, wurden entweder zu einem früheren Zeitpunkt vom Leistungsbeziehenden selbst angespart (intertemporale Umverteilung) und/oder werden derzeit von anderen Beitrags- bzw. Steuerzahlenden aufgebracht (interpersonelle Umverteilung).
Durch die Präventionsfunktion will Sozialpolitik das Entstehen sozialer Risiken ursachenbezogen verhindern. Durch das angestrebte Ziel, der Entstehung von Risiken vorzubeugen, reicht die Prävention über die Regulation der unmittelbaren Arbeitsbedingungen hinaus. So gewinnen etwa die gesunde Entwicklung eines Kindes, der Erhalt von Lebensqualität durch soziale Rahmenbedingungen wie etwa Arbeitsfähigkeit, Gesundheit, Bildung und Wohnen einen eigenen Stellenwert.
Diese vorgenannten Funktionen spiegeln auch ein gesamtwirtschaftliches (staatliches) Interesse am Schutz, der Pflege und dem Erhalt des Produktionsfaktors Arbeit sowie der Schaffung vergleichbarer Rahmenbedingungen innerhalb der Wirtschaftsordnung wider. Sozialpolitische Maßnahmen begünstigen im Idealfall stabile soziale Verhältnisse, die Sozialtransfers erhalten Kaufkraftpotenziale, eine aktive Beschäftigungs- und Gesundheitspolitik unterstützt ebenso wie eine aktive Bildungspolitik die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft. Damit haben Sozialpolitik und Sozialstaat teilweise auch eine (ökonomisch wünschenswerte) Produktivitätsfunktion.
Zentrale Felder und Akteure
Es wird deutlich: Sozialpolitik ist vielschichtig. Die nachfolgende Übersicht (Seite 49 oben) versucht, die unterschiedlichen Felder zu systematisieren. Im Wesentlichen lassen sich zunächst die nationale und die internationale (supranationale) Sozialpolitik unterscheiden. Vor allem auf der nationalen Ebene verfügt die Politik über direkte Entscheidungsgewalt. Allerdings sind die Spielräume nationaler Politik zunehmend durch die Einbindung in internationale Kontexte begrenzt. Überwölbt wird die Sozialpolitik durch weitere sozialpolitisch relevante Politikbereiche wie etwa die Zuwanderungspolitik, die Gleichstellungspolitik, aber auch die Bildungs-, Umweltschutz- oder die Wirtschaftspolitik. Entscheidungen in diesen Bereichen haben in der Regel direkten Einfluss auf die Lebensbedingungen von Menschen.
Die Felder der Sozialpolitik lassen sich in eine auf die Arbeitswelt und eine auf unterschiedliche Zielgruppen bezogene Ebene unterteilen, wobei mit der nationalen Sozialpolitik nicht gemeint ist, dass der Staat alle diese Maßnahmen selbst anbietet. Vielmehr setzt er die Regeln, und (einzel-)betriebliche Vereinbarungen ergänzen dieses sozialpolitische Repertoire. Einzelne Bereiche wie etwa der Arbeitnehmerschutz oder die Sozialversicherung lassen sich relativ eindeutig der Arbeitswelt zuordnen. Andere wie etwa die Jugend- oder Altenhilfepolitik sind besser durch eine gruppenorientierte Zuschreibung zu erfassen. Und nicht zuletzt gibt es Bereiche, die quer zu diesen beiden Kategorien liegen. Hierzu zählt etwa die Wohnungs(bau)politik oder die Bildungspolitik. Klar ist, dass diese Bereiche selten trennscharf sind. So haben die Maßnahmen der Familienpolitik, wenn es um die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, unmittelbar arbeitsweltbezogene Konsequenzen; während umgekehrt Regelungen in der Sozialversicherung, beispielsweise die Familienversicherung in der Krankenversicherung oder die Hinterbliebenenversorgung in der Rentenversicherung, direkte Auswirkungen auf unterhaltsberechtige, nicht erwerbstätige Angehörige eines Arbeitnehmers bzw. einer Arbeitnehmerin haben.
So vielfältig wie die Felder der Sozialpolitik sind deren Zielgruppen. Im Grunde erfasst Sozialpolitik die Gesamtheit der Wohnbevölkerung, und zwar unabhängig von der (aufenthalts-)rechtlichen Stellung des/der Einzelnen. Niemand kann sich sozialpolitischer Rahmensetzung entziehen. Sei es, indem man direkt von einer Maßnahme bzw. Intervention betroffen ist, oder sei es, weil das Fehlen oder die nicht ausreichende Ausgestaltung einer Regelung in die Lebensbezüge eingreift.
Refinanzierung des Sozialen: Kapitaldeckung und Umlageverfahren
In Deutschland erfolgt die Finanzierung der sozialen Sicherung im Wesentlichen aus den laufenden Einnahmen der Leistungsträger. Das bedeutet, dass kaum Finanzrücklagen gebildet werden, die Einnahmen aus Steuern und Beiträgen finanzieren direkt die Ausgaben. Reichen die Einnahmen nicht aus, ergibt sich also eine Unterdeckung, muss diese durch Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten und mittelfristig durch eine Beitragsanpassung ausgeglichen werden. Hintergrund für dieses Umlageverfahren ist der Generationenvertrag. Die abhängig Beschäftigten bezahlen aus ihren Sozialversicherungsbeiträgen die Leistungen der sozialen Sicherung, sofern diese beitragsgebunden finanziert werden. Für die Bundeszuschüsse, vor allem in der Gesetzlichen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung, sowie für die Fürsorge- und Versorgungsleistungen kommen hingegen alle steuerpflichtigen Bürgerinnen und Bürger auf.
Da die Menschen im erwerbsfähigen Alter aber nicht nur für die Sozialleistungen der nicht mehr erwerbstätigen Personen aufkommen müssen, sondern über Familienarbeit auch die Nachkommen versorgen, spricht man von ihnen als der Sandwich-Generation.
Zu den zentralen Merkmalen des Umlageverfahrens gehört, dass die Beiträge der Versicherten nicht angespart und am Kapitalmarkt angelegt werden, um sie dann später im Rentenfall des Versicherten auszuzahlen. Im Grunde sind die Einnahmen der Gesetzlichen Rentenversicherung – abgesehen von der sogenannten Schwankungsreserve zur Sicherung der Liquidität – durchlaufende Posten, die direkt an die Rentenbeziehenden weitergeleitet werden. Die Rente selbst ergibt sich aus der eigenen Erwerbsbiografie, also der Dauer und der Höhe der eingezahlten Beiträge, ggf. ergänzt um weitere rentenrechtlich relevante Zeiten wie Kindererziehung. Um eine ausreichende Absicherung im Alter zu erreichen, ist deshalb eine möglichst kontinuierliche, gut entlohnte Beschäftigung nötig. Die Anpassung der späteren Renten erfolgt durch den Gesetzgeber und ist an die Entwicklung der Löhne und des Beitragssatzes gekoppelt. Damit ist das Umlageverfahren von einem funktionierenden Arbeitsmarkt und – aus Sicht der Versicherten – einer angemessenen Lohnentwicklung abhängig.
Das Umlageverfahren hat sich bis heute bewährt und eine stabile Refinanzierung der sozialen Sicherung gewährleistet. Im Zuge der Diskussionen über den demografischen Wandel und der sozialpolitischen Reformbemühungen (Agenda 2010) unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998–2005) wurde auch zunehmend das Umlageverfahren debattiert. Angesichts der seinerzeit angespannten Wirtschaftslage wollte die damalige rot-grüne Regierungskoalition die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhöhen und zugleich die Prinzipien des Förderns und Forderns verankern (aktivierender Sozialstaat). Die zentralen Argumente lassen sich am Beispiel der großen Rentenreform von 2001 nachzeichnen.
Im Wesentlichen sah sich die Politik durch die demografische Entwicklung unter Druck gesetzt. Die Projektionen der Bevölkerungsforschung zeigen, dass aufgrund der Alterung der Gesellschaft immer weniger Personen im erwerbsfähigen Alter immer mehr Menschen im Rentenalter finanzieren müssen. Zugleich ist zu beobachten, dass aufgrund der Frühverrentungspolitik der vergangenen Jahre und des medizinischen Fortschritts die Lebenserwartung und damit die Dauer des Rentenbezugs ansteigen. Dies veranlasste die rot-grüne Koalition mit dem Altersvermögensgesetz (AVmG), die Rentenformel, nach der die Höhe der Renten bemessen wird, durch eine zusätzliche Rechengröße an die demografische Entwicklung anzupassen (den sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor).
Bezogen auf die Rentenhöhe ist damit nicht mehr – wie bislang – nur das Verhältnis des persönlichen Einkommens zum durchschnittlichen Einkommen aller Beitragszahlenden bestimmend, sondern auch das Verhältnis von Beitragszahlenden zu Rentenbeziehenden. Dies läuft bei gleichbleibendem demografischem Trend faktisch auf eine Kürzung der Renten hinaus. In der weiteren Folge, und seit dem Jahr 2008 schrittweise wirksam werdend, wird das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöht. Diese Kürzungen wurden mit zusätzlich eingeführten Elementen zur Stärkung der privaten Vorsorge kombiniert. Insgesamt bedeutete dies einen grundlegenden Eingriff in die Finanzierungslogik des Alterssicherungssystem. Denn um die geringeren Rentenansprüche in der Gesetzlichen Rentenversicherung auszugleichen, sollen die Menschen eine private Zusatzversicherung abschließen, um Geld für ihr Alter anzusparen (Kapitaldeckungsverfahren). Diese "Riester"-Rente (benannt nach dem damaligen Arbeitsminister) wird vom Staat abhängig vom Einkommen und der Kinderzahl mit Steuergeldern gefördert.
Zu den zentralen Merkmalen des Kapitaldeckungsverfahrens gehört, dass private Finanzdienstleistungsunternehmen, die die Gewinninteressen ihrer Eigentümer und Beschäftigten verfolgen (müssen), als Träger der sozialen Sicherung eingesetzt werden. Diese Finanzinstitute erheben von ihren Versicherten Beiträge, die nach finanzmathematischen Verfahren errechnet werden und die spätere Leistungshöhe sowie Lebenserwartung des jeweiligen Versicherten, aber auch die Renditeerwartungen des Unternehmens selbst berücksichtigen. Das Unternehmen deckt aus den Einnahmen seine Kosten und legt die Restsumme an den Kapitalmärkten an. Durch Zins- und Spekulationsgewinne soll der Kapitalstock des Versicherten anwachsen, um nach Eintritt des Versicherungsfalles die Renten bzw. Versicherungsleistungen auszahlen zu können. Dieses Verfahren entkoppelt sich insofern vom Arbeitsmarkt, als die Leistungen der aktuellen Leistungsbeziehenden nicht aus lohnbezogenen Beiträgen finanziert werden. Allerdings können die monatlichen Versicherungsprämien – trotz staatlicher Förderung – nur bezahlt werden, wenn der Versicherte über ein gesichertes und ausreichend hohes Einkommen verfügt.
Betrachtet man die Logik der beiden Verfahren wird schnell deutlich, dass das in die Sozialversicherung eingeführte Kapitaldeckungsverfahren kaum geeignet ist, die soziale Sicherung "demografiefest" zu machen. Denn die entscheidende Größe ist nicht die Form der Finanzierung, sondern der Wohlstand, den eine Gesellschaft in einer Periode erwirtschaftet. Für die Gesetzliche Rentenversicherung ist es ein Problem, wenn der Niedriglohnsektor wächst und die Zahl der Arbeitslosen steigt. Bei insgesamt steigendem Wohlstand ist es jedoch vor allem ein Problem für die Geringverdienenden, die auf diese Weise keine ausreichende Alterssicherung aufbauen können, weil es ihnen an finanziellen Mitteln für die private Vorsorge mangelt.
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Warren Buffet, ein amerikanischer Börsenspekulant, spendet jährlich aus seinem Vermögen an private Stiftungen und Organisationen. Im Jahr 2013 soll die Summe 2,1 Mrd. Euro betragen haben (Externer Link: http://www.wiwo.de/finanzen/boerse/milliardenspende-fuer-bill-gates-warren-buffett-in-spendierlaune/10207766.html). Rein rechnerisch benötigt die Bundesrepublik zur Refinanzierung der Renten in Deutschland also lediglich jährlich 120 Buffets mit entsprechend hohen Sozialversicherungsbeiträgen, um die rund 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland zu finanzieren. Finden sich diese Spender nicht, könnten auch die Löhne aller Beschäftigten erhöht werden. Denn entscheidend ist nicht, wie das Beispiel zeigt, die Zahl der Personen, die in die Rentenkasse einzahlen, sondern die (Lohn-)Summe, die sich auf diese Köpfe verteilt und die Sozialversicherungsbeiträge, die daraus resultieren. Alternativ könnte die Gewinnabschöpfung auch direkt bei den Unternehmen ansetzen und dann über den Bundeszuschuss in das System eingespeist werden. Bezogen auf die Finanzierung greift das Demografie-Argument also zu kurz. Wesentlich bedeutsamer wird es bei den Fragen, welche Beschäftigungs- und Steuerpolitik und welche sozialen Dienste eine alternde Gesellschaft benötigt.
Deutlich wird, dass es bei der Frage der Finanzierung der sozialen Sicherung um die Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes geht – dabei werden das Umlage- und das Kapitaldeckungsverfahren von ganz unterschiedlichen Interessen getragen. Für die privaten Finanzdienstleister ist das Kapitaldeckungsverfahren ein Geschäftsfeld, auf dessen Angebote Menschen bei einer Schwächung der staatlichen Systeme zurückgreifen müssen. Damit wird die soziale Sicherung dem Gewinninteresse von privaten Unternehmen unterworfen und die Selbstverwaltung der Versicherten- bzw. Solidargemeinschaft außer Kraft gesetzt. Grundsätzlich ist es sicher nicht per se amoralisch oder illegitim, Elemente der sozialen Sicherung dem Markt zu übertragen. Es stellt sich nur die Frage: Werden die Renten damit sicherer? Es ist unstrittig, dass das Umlageverfahren Risiken und Probleme in sich birgt. So ist es zwingend erforderlich, es auf die Sicherungsbedürfnisse der Menschen abzustimmen, die (dauerhaft) in nicht regulärer, niedrig entlohnter Beschäftigung stehen. Jedenfalls dann, wenn es Ziel der Sozialpolitik bleiben soll, (materielle) Unterversorgungen im Falle von Arbeitslosigkeit und Altersarmut im Falle der Altersrenten – und damit letztlich die regelhafte Inanspruchnahme der Mindestsicherung nach SGB II bzw. XII – zu verhindern.
Das Umlageverfahren sorgt aber dafür, dass die soziale Sicherung Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge bleibt und ihre Gewährleistung eine zentrale staatliche Aufgabe. Diese Verantwortung nahm der Bund in der Wirtschafts- und Finanzkrise auch wahr: Er weitete massiv die aktive und passive Arbeitsmarktpolitik (Kurzarbeitergeld) aus, um das Beschäftigungsniveau zu sichern. Und als die Hypo Real Estate Bank im Jahr 2008 in eine massive Schieflage geriet und die Kaupthing Bank in Island in die Pleite ging, garantierte der Bund die privaten Spareinlagen durch eine staatliche Ausfallsbürgschaft.
Damit ist aber auch klar, wer der Ausfallsbürge sein wird, wenn die kapitalgedeckten Systeme ihre Renditeversprechen ganz oder teilweise nicht einlösen können und die soziale Lage der dann von ihnen abhängigen Leistungsempfängerinnen und -empfänger Handeln erfordern wird. Es wird der Staat sein und damit diejenigen, die Steuern zahlen, und letztlich das gesamte Gemeinwesen, wenn das Geld, das in Rettungsaktionen fließt – sei es direkt zur Rettung der Finanzdienstleister, sei es indirekt in Form der Grundsicherung im Alter –, an anderer Stelle nicht mehr ausgegeben werden kann.
Wenn am Ende der Staat in dem einen wie anderen System als Garant für die Lücken und Risiken auftreten muss, wird idealtypisch deutlich, was eine sozialpolitische Politikfeldanalyse leisten kann und muss – indem sie die Interessenlagen der beteiligten Akteure möglichst klar und objektiv herausarbeitet, können mündige Bürgerinnen und Bürger diese Systemfrage auch unter dem Blickwinkel der Generationengerechtigkeit diskutieren und sich in der Frage positionieren, um die es in dieser Debatte am Ende geht: Welchem Risiko wollen sich heutige und künftige Generationen aussetzen – dem der spekulativen (globalen) Finanzmärkte oder dem des (nationalen) Arbeitsmarktes mit seinen konjunkturellen Schwankungen?
QuellentextRentenansprüche dreier Frauen
[…] Über sechseinhalb Millionen Frauen sind heute zwischen 45 und 55 Jahre alt, ein Alter, in dem viele Weichen gestellt sind: Die Entscheidungen über Ausbildung, Beruf, Ehe und Familie sind längst gefallen. Keine Frauengeneration vor ihnen war so gut ausgebildet, keine in so hohem Maße berufstätig: Vier Fünftel sind erwerbstätig. Und dennoch: Etwa ein Drittel von ihnen, das sind über zwei Millionen Frauen, werden voraussichtlich eine Rente von maximal 600 Euro bekommen.
[...] Susanne F. […] [47-jährige Übersetzerin wird] in zwanzig Jahren […] um die 615 Euro aus der gesetzlichen Rentenkasse bekommen […]. […] Sie wurde 1965 geboren, hat studiert, promoviert und ist seit über zwei Jahrzehnten berufstätig. In ihrer gut zehn Jahre währenden Ehe wurde der heute 14 Jahre alte Sohn geboren. Seit der Trennung vom Vater erzieht sie ihn alleine. Ihre Berufstätigkeit hat sie trotz Promotion und Kindererziehung nie unterbrochen. Vollzeit berufstätig ist sie allerdings erst seit knapp zehn Jahren.
Während ihrer Ehe arbeitete sie nur halbe Tage, ein Grund war das Ehegattensplitting. Weil ihr Ehemann sehr viel mehr verdiente als sie, war der Steuerrabatt bei der gemeinsamen steuerlichen Veranlagung so hoch, dass sich das Familieneinkommen unter dem Strich nicht erhöht hätte, wenn sie, genauso wie ihr Ehemann, Vollzeit berufstätig gewesen wäre. Eine ökonomisch scheinbar vernünftige Entscheidung, zumindest kurzfristig, auf lange Sicht aber eine Falle […]. Denn wer wie Susanne F. viel in seine akademische Ausbildung investiert hat und danach nicht entsprechend verdient, macht hohe Verluste. Die lange Ausbildungszeit allein ist in der Rentenversicherung heute fast nichts mehr wert. Für Susanne F. entpuppte sich aber nicht nur das Ehegattensplitting als Falle, sondern auch der Versorgungsausgleich bei der Scheidung: Ihr Exmann verdiente während der Ehe als Vollzeit-Selbständiger zwar mehr als sie, zahlte aber nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Als "Ausgleich" muss sie deshalb später dreißig Euro von ihrer nicht-existenzsichernden Rente an ihren Exmann abgeben. […]
Ursula M. […] wird auch […] nach über 45 Berufsjahren als Rentnerin nur knapp über dem Existenzminimum leben. Als Vierzehnjährige machte sie eine Lehre als Zahnarzthelferin, arbeitete ein paar Jahre in diesem Beruf, mit Anfang zwanzig absolvierte sie ihr Fachabitur. Danach jobbte sie, häufig schwarz, bis sie sich mit 29 Jahren entschloss, eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten zu machen. Als ihre Tochter 1990 zur Welt kam, reduzierte sie ihre Arbeitszeit um die Hälfte. Das tun die meisten Frauen in Deutschland, wenn sie Kinder bekommen, auch heute noch. Wenige Jahre später konnte die Rechtsanwaltsfachangestellte ihre Arbeitszeit wieder auf 35 Wochenstunden erhöhen. Das gelingt nur den wenigsten, für die meisten Frauen bedeutet einmal Teilzeit immer Teilzeit.
Ursula M. startete mit dem für Rechtsanwaltsfachangestellte üblichen Einstiegsgehalt, das sind heute rund 1300 bis 1400 Euro brutto. Inzwischen verdient die 53-Jährige in einer gut gehenden Anwaltskanzlei 2700 Euro brutto. In ihrem Beruf, in dem überwiegend Frauen arbeiten, ist das ein überdurchschnittliches Gehalt. Es liegt auch über dem durchschnittlichen Brutto-Arbeitslohn in Deutschland. Doch trotz dieses Gehalts und über 45 Berufsjahren stehen Ursula M. nach Auskunft der gesetzlichen Rentenversicherung im Alter nur 880 Euro zu. Verglichen mit ihren Altersgenossinnen ist das eine überdurchschnittliche Rente, die sie im Alter dennoch nicht über die Armutsgrenze heben wird. Auf eigene Initiative hin hat sie zusätzliche eine Direktversicherung über ihren Arbeitgeber abgeschlossen. Die wird ihr 200 Euro extra einbringen. Aber ihre Rente wird für zwei reichen müssen. Zu Hause, wo sie mit ihrem Lebensgefährten und der gemeinsamen Tochter lebt, ist sie die Hauptverdienerin. Damit gehört sie zu den etwa zehn Prozent erwerbstätigen Frauen in Paarhaushalten, die mehr als sechzig Prozent zum Haushaltseinkommen beitragen. Ihre Familie profitiert nicht vom Ehegattensplitting, weil die beiden nicht verheiratet sind. Im Rentenalter wird ihr Lebensgefährte kaum etwas zum Haushalt beitragen können. Er ist selbständiger Handwerker und hat sich entschieden, nicht in die gesetzliche Rentenkasse einzuzahlen. Es gibt in Deutschland auch kein Gesetz, das ihn dazu verpflichtet.
Während Ursula M. ihre eigene Existenzsicherung immer im Blick hatte, verlässt sich Selma F. seit der Geburt des zweiten Kindes ganz auf ihren Ehemann. Ihre eigenen Rentenansprüche liegen deshalb weit unter dem Durchschnitt. Mit etwa 250 Euro aus der gesetzlichen Rentenkasse rechnet die 48-jährige Politikwissenschaftlerin. Ein wenig wird sie diese Summe durch eine Betriebsrente und eine private Zusatzversicherung aufstocken können, zum Leben wird es auf keinen Fall reichen. Dabei war sie schon mit sechzehn berufstätig, erst als Verkäuferin und nach ihrem Studium, das sie auf dem zweiten Bildungsweg abschloss, als Sozialarbeiterin. Ihre Stelle bei einem kirchlichen Träger gab sie nach der Geburt des zweiten Kindes auf […]. […]
Der Lebensverlauf von Selma F., gut ausgebildet und trotzdem Hausfrau, ist keine Ausnahme in Deutschland. Jedenfalls nicht in den alten Bundesländern. Jede fünfte Frau ihrer Generation lebt dort in einer Ehe mit traditioneller Arbeitsteilung. Ihre finanzielle Unabhängigkeit haben diese Frauen aufgegeben, ihr Lebensstandard steht und fällt mit dem des Ehemannes. Trennt sich das Paar oder wird der Ehemann arbeitslos, sinkt ihr Lebensstandard dramatisch. […]
Die Berliner Politikwissenschaftlerinen Barbara Riedmüller und Ulrike Schmalreck haben die "Lebens- und Erwerbsverläufe von Frauen im mittleren Lebensalter" untersucht und herausgefunden: Über vierzig Prozent, fast die Hälfte dieser Frauengeneration in Westdeutschland, muss im Alter mit einer Rente von maximal 600 Euro rechnen; bei den ostdeutschen Frauen derselben Generation sind es gut zwanzig Prozent. […] Mit ihren geringen Renten können sie nach geltendem Recht einen Antrag auf "Leistungen zur Grundsicherung" stellen. […] Wer Grundsicherung beantragen will, ist verpflichtet, seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenzulegen. […] Das Amt prüft erst, ob ein Anspruch wegen Bedürftigkeit besteht. Millionen Frauen, die berufstätig waren, die für Kinder gesorgt haben und von denen viele bald auch noch ihre alten Eltern pflegen werden: degradiert zum Sozialfall.
Jg. 1973, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. 2007 bis 2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, seit 2011 in gleicher Funktion an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum. Fachliche Schwerpunkte: Armutspolitik im politischen Mehrebenensystem und politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: E-Mail Link: benz@efh-bochum.de
Jg. 1945, lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik – darunter Armuts- und Reichtumsforschung – und Sozialethik. Kontakt: E-Mail Link: Ernst-Ulrich.Huster@t-online.de
Jg. 1982, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Arbeit Münster e. V. im Landesmodellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“. Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Fachliche Schwerpunkte: Theorie der „sozialen“ Vererbung von Armut, Inklusionsstrategien und Soziale Ausgrenzung in Deutschland. Kontakt: E-Mail Link: Johannes.D.Schuette@gmail.com
Jg. 1966, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler, lehrt seit 2007 Sozialpolitik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel an der Fakultät Soziale Arbeit. Fachliche Schwerpunkte: allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland und Europa, politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit und Entwicklung sozialer Dienste.
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