Einleitung
Die Ernährung ist für die Entwicklung und die Geschichte der Menschheit entscheidend wichtig, denn sie prägte das Leben der Menschen - ihre Arbeit, ihr Wohlbefinden, aber auch ihr Leid. Für weite Teile der Bevölkerung galt stets: Werden Lebensmitteln knapp, sind sie von Hunger, Krankheit und Verarmung bedroht. Insbesondere für die ärmsten Bevölkerungsschichten bedeutete jede Missernte zwangsläufig eine Hungersnot.
Vielen Völkern waren Getreide und Brot heilig. Grabbeigaben aus den Hochkulturen Ägyptens oder Lateinamerikas zeigen, dass die Menschen damals Weizen bzw. Mais verehrten. In den Riten der Religionen, in Bräuchen und Sagen spielten diese Grundnahrungsmittel ebenfalls eine bedeutende Rolle. Völker in Regionen, in denen aus ökologischen Gründen andere Grundnahrungspflanzen vorherrschten, brachten diesen Pflanzen ebenfalls oft kultische Verehrung entgegen.
Bis in die Neuzeit spiegelt die Kultur- und Sozialgeschichte die Hungersnöte der Menschen.
Historische Entwicklung
Ernährung im Alten Ägypten
Im pharaonischen Ägypten waren die Menschen wiederkehrenden Nahrungsmangel und lang andauernde Hungersnöte gewohnt. Die Menge der jährlichen Nilflut, die fruchtbaren Schlamm und kostbares Wasser in das Niltal trug, war entscheidend dafür, ob die Ernte gut oder schlecht ausfiel. Wenn der Pharao nicht für einen ausreichenden Vorrat und eine gerechte Verteilung von Getreide gesorgt hatte, dann hatte der Großteil der Bevölkerung nach einer Missernte bald kein Brot mehr. Nach der Ernte lagerten die Ägypter einen Teil des Getreides deshalb in staatlichen Kornspeichern. Überschüsse konnten sie darin jahrelang aufbewahren.
Ernährung in der Antike
Neben dem Darbringen von Opfern für die Götter war in Rom die jeweilige politische Führungsschicht, Senat oder Kaiser, für die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln zuständig. Der Staat sorgte für eine ausreichende Menge Getreide zu einem günstigen Preis. Gegen Getreidewucher wurde durch den Staat eingeschritten. Ab dem Jahr 123 v. Chr. konnten eingeschriebene Bürger preiswertes, vom Staat subventioniertes Getreide kaufen. 58 v. Chr. begann eine kostenlose Getreideverteilung, die durch Gaius Julius Caesar aus Kostengründen herabgesetzt und durch Augustus wieder ausgeweitet wurde. Berechtigte, zum großen Teil die verarmte Bevölkerung, erhielten Getreide aus einem staatlichen Magazin und konnten so ihren Lebensunterhalt sicher stellen. Diese Maßnahme diente auch dazu, diesen Teil der Bevölkerung für die Amtsinhaber der Republik und nachher die Kaiser einzunehmen. Große städtische Zentren des römischen Reichs waren auf Getreideimporte aus den Provinzen angewiesen.
Ernährung im Mittelalter
Ernährungskrisen und Hungersnöte interpretierten die Menschen im Mittelalter als Strafe Gottes für ihre Sünden. Missernten schienen für sie über ihre unmittelbaren Ursachen wie Kriege und Naturkatastrophen hinaus einen übernatürlichen Ursprung zu haben und sich durch Himmelserscheinungen wie Sonnen- und Mondfinsternisse oder Kometen anzukündigen. Selbst weltliche Fürsten ordneten deshalb zu Hungerzeiten per Dekret zusätzliche Gebete und Gottesdienste an. Dies schloss jedoch politische Maßnahmen wie Handelssperren, Getreideaufkäufe und Preisregelungen nicht aus. Eine zentrale Versorgung wie in der Antike gab es nicht.
Ernährung in der Neuzeit
Seit Ende des 18. Jahrhunderts führte Getreideverknappung vor allem durch Naturkatastrophen oder Kriege zu Nahrungsmittelteuerungen in Europa, wodurch es verstärkt zu Unruhen und Aufständen kam. Aufgrund der fehlenden Transportmöglichkeiten wurde während eines Krieges die Nahrung in den einzelnen Regionen nach Plünderungen oder durch das Fehlen von Arbeitskräften für den Anbau von Getreide knapp. Die Protestierenden wollten die Obrigkeit zwingen, Maßnahmen wie Exportverbote zu erlassen. Dadurch sollte Nahrung wieder günstiger werden.
Eine besonders schlimme Hungersnot ereignete sich Anfang des 19. Jahrhunderts. Beim gewaltigen Ausbruch des Vulkans Tambora auf Sumbawa (Indonesien) 1815 wurde eine riesige Menge Staub in die Atmosphäre geschleudert. Dadurch kam es in den folgenden Monaten zu einer extrem kalten und nassen Witterung in weiten Teilen der Welt. Das "Jahr ohne Sommer" 1816 führte in Teilen der nördlichen Hemisphäre zur schlimmsten Hungersnot des 19. Jahrhunderts (s. Quellentext).
QuellentextHungersnot 1816/17
Ein Dokument aus der Hungersnot 1816/17 aus Laichingen auf der Schwäbischen Alb beschreibt die Hilflosigkeit der Menschen jener Zeit, die dem Hunger ausgeliefert waren:
"Bei uns aber ist ein Jahr, desgleichen nicht gewesen ist seit den Hungerjahren anno 1772 auf 74, -wovon die Alten sagen. Hatten wir doch in den letzten Jahresläuften her von nichts anderem mehr gehört, als von Krieg und Kriegsgeschrei und von Russen und Franzosen, Bayern und Österreichern, so durch die Lande gezogen sind und verköstigt werden mußten. Aber alles ist noch gar nichts gewesen gegen das himmelschreiende Elend, so jetzt über uns kommen ist. Im Märzen (1816) hat es angefangen, da haben meine Kinder zum erstenmal nach Brot geschrien und wir hatten schier keins. Derweil im 1814er und 1815er Jahr alles schlecht geraten -war. Und ist hernachmals alles so teuer geworden, als man es nimmer hat verzahlen mögen. Die Bretzgen (Brezeln) und Kreuzerwecken waren am Palmtag so klein, daß eines vom Heilbecken, der ihrer noch gemacht hat, wohl hat mehrere auf einmal essen können, ohne satt zu sein, wie sonsten von zweien oder dreien der Brote. Das machte, 1815 war ein ganz mageres Jahr. Die Kuhbauern haben kaum ihr Essen geschnitten und auch die Gäulbauern (Pferdebauern) haben nichts oder nicht allzuviel übrig. Man sagte; das nächste Jahr darf besser kommen, und ietz ist schon im Märzen die Teuerung da und der Hunger. Und das Wetter sieht in diesem Frühling nicht aus nach einem guten Jahr. Schon im Jänner (Januar), mehr aber noch im Hornung (Februar), ist es heiß gewesen als an mannichen Tagen im ferndigen Sommer nicht. Es donnerten im Märzen Wetter am Himmel als sonst um Jakobi (24. Juli). Weilen nur ietz das Mehl so rar und schier nicht zu bekommen ist, tut mein Weib Kleie ins Brot und Erdbirn (Kartoffel), gerieben. Im Märzen hat es nach der ersten Mondsveränderung anheben mit Regnen und hat hernach geregnet als an der Sündflut, also daß überall das Wasser ist gestanden im Ort ... So ein Wetter haben wir jetzt im Frühling, da man aussäen sollte, und wir hoffen doch auf einen guten Sommer. Daß uns Gott helfe!"
Quelle: Dorothee Bayer O gib mir Brot – Die Hungerjahre 1816 und 1817 in Württemberg und Baden, Schriftenreihe des Deutschen Brotmuseums, 1966
Ernährung im 1. Weltkrieg
Die Hungersnot im Ersten Weltkrieg in Deutschland zählt zu den schwersten des 20. Jahrhunderts in Westeuropa. Das Deutsche Reich war ökonomisch nicht auf einen langen Krieg vorbereitet. Größere Lebensmittelvorräte fehlten, und durch die Umstellung auf die Kriegswirtschaft war die Erzeugung und Verteilung von Getreide sehr stark eingeschränkt. Hinzu kam, dass England mit einer Blockadepolitik Getreideimporte aus dem Ausland verhinderte.
Ein Höhepunkt der Not war der "Steckrübenwinter" 1916/17: Weder mit Rationierungen noch durch Streck- und Ersatzstoffe konnte der extreme Mangel an Nahrungsmitteln ausgeglichen werden. Streck- und Ersatzstoffe kamen dann zum Einsatz, wenn nicht genügend Getreide für die Brotherstellung vorhanden war. Man streckte den Teig mit unterschiedlichen Stoffen, wie Eicheln, Stroh, Wicken, geriebene Wurzeln, Sägemehl und anderem. Fast die gesamte Bevölkerung litt an Unterernährung. Nachdem schon in den ersten Monaten des Krieges deutlich wurde, dass den Menschen ein Nahrungsmangel drohte, wurden Brot und andere Grundnahrungsmittel ab 1915 rationiert und waren bis weit in die Nachkriegszeit hinein nur noch gegen entsprechende Marken erhältlich. Dennoch blieb der Hunger bis etwa 1924 in Deutschland allgegenwärtig und war auch im öffentlichen politischen Diskurs ständig Thema. Alle politischen Parteien in der Weimarer Republik nutzen die Ernährungsfragen in der politischen Diskussion und warben für sich mit dem Hinweis, dass sie sich für die Lösung der Hungerfrage einsetzen würden.
Hunger im Kommunismus
In den meisten kommunistischen Regimen führte die Enteignung privater landwirtschaftlicher Betriebe und deren Zusammenführung zu staatlich gelenkten großen Komplexen zu massiven Ernährungskrisen. So brachte die Wirtschaftspolitik Mao Tse-Tungs (Staatspräsident Chinas von 1954-1959) – der sogenannte "Große Sprung nach vorn" – der Volksrepublik China eine verheerende Hungerkatastrophe. Ab1958 mussten sich alle Bauern zu Volkskommunen zusammenschließen. Gleichzeitig zog die politische Führung Arbeitskräfte und Rohstoffe aus der Landwirtschaft ab – und setzte sie in der Stahlproduktion ein. Die Folge: 1960 waren die Ernteerträge bereits um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Trotzdem finanzierte die Volksrepublik den Kauf von Industrieausrüstung mit Getreideexporten. Das löste eine Hungersnot aus, in der schätzungsweise zwischen 20 und 40 Millionen Menschen starben. China hielt die Katastrophe und ihr Ausmaß geheim, die Welt erfuhr erst 20 Jahre später davon.
Ursachen von Hunger
Hunger als Waffe
Die Geschichte hat gezeigt: Kriege führen generell zu Hunger, weil Grundlagen der Nahrungsmittelversorgung zerstört werden. Darüber hinaus setzen die Kriegsparteien Hunger als Waffe gegen ihre Feinde ein, indem sie ihnen systematisch Nahrung entziehen ("Taktik der verbrannten Erde").
Ein Beispiel dafür aus jüngerer Zeit ist der Konflikt um Biafra Ende der 1960er Jahre. Biafra ist ein Teil des Staates Nigeria, der nach der Unabhängigkeit vom britischen Kolonialreich aus vielen oft verfeindeten Volksgruppen entstand. Um die Gründung eines eigenständigen Staates zu verhindern, griff der Zentralstaat von Nigeria im Juni 1967 Biafra militärisch an. Bereits Ende des Jahres zeichnete sich für die biafranische Bevölkerung eine bedrohliche Versorgungskrise ab. Internationale und kirchliche Organisationen konnten die Not mit Hilfslieferungen nur zeitweise lindern, da die Zentralnigerianer die Transporte angriffen. Sie setzen gezielt auf die Strategie, ihre Feinde auszuhungern. Insgesamt kamen 500.000 bis drei Millionen Menschen in diesem Krieg ums Leben, die Mehrheit davon starb an Hunger und seinen Folgen.
Hunger durch Umweltkatastrophen
Dürreperioden und Überschwemmungen sind in armen Ländern bis heute verheerend für die Versorgung der Menschen mit Nahrung. Indem sie falsch handeln oder gar nicht reagieren, verschärfen die Menschen schwierige Situationen, die durch Umweltbedingungen wie Trockenheit entstehen.
So waren beispielsweise viele Länder südlich der Sahara Ende der 1960er Jahre von einer lang anhaltenden Trockenperiode betroffen. Die Bauern hatten die Böden dort durch eine zu intensive Vieh- und Landwirtschaft ausgelaugt. Zudem hatten sie kaum Vorbeugungen, wie beispielsweise Bewässerungssysteme oder Vorratslager, getroffen – es kam zu einer Dürrekatastrophe. Weil die Menschen erst zögerlich und dann falsch reagierten, und weil die politischen Verhältnisse instabil waren, wurde die Situation noch schlimmer. Hunderttausende verloren schließlich ihr Leben durch Hunger und Krankheiten in Folge von Unterernährung.
Tabelle 1 listet "nur" die größten Hungersnöte der letzten zwei Jahrhunderte auf. Es sei daran erinnert, dass der größere Teil des
Hungersnöte der letzten zwei Jahrhunderte | ||
Jahr | Land | geschätzte Todesopfer |
1845 ff. | Irland | 1.200.000 |
1850 ff. | China | 10.000.000 |
1866/67 | Indien | 3.000.000 |
1870/72 | Persien | 1.250.000 |
1876/77 | Indien | 3.000.000 |
1876/79 | China | 10.000.000 |
1880 | Türkei | 150.000 |
1891 | Russland | 450.000 |
1892 ff. | China | 1.000.000 |
1898/1900 | Indien | 4.000.000 |
1913 | Niger | 85.000 |
1915 ff. | Deutschland | 800.000 |
1917 ff. | UdSSR | 2.000.000 |
1920 | China | 500.000 |
1921/22 | UdSSR | 2.500.000 |
1928 f. | China | 500.000 |
1931 ff. | UdSSR | 4.000.000 |
1941 ff. | Leningrad (UdSSR) | 1.000.000 |
1942/43 | Indien | 2.500.000 |
1942/43 | China | 1.500.000 |
1949 ff. | China | 1.500.000 |
1958/61 | China | 40.000.000 |
1965/67 | Indien | 1.500.000 |
1967 ff. | Biafra | 800.000 |
1968/75 | Sahel | 300.000 |
1971 | Bangladesch | 750.000 |
1972/73 | Indien | 1.000.000 |
1973 | Äthiopien | 750.000 |
1975 ff. | Kambodscha | 700.000 |
1981 | Mosambik | 350.000 |
1983/85 | Äthiopien | 1.500.000 |
1992 | Somalia | 100.000 |
1996 ff. | Nord-Korea | 1.000.000 |
Quelle: nach Josef Nussbaumer Gewalt – Macht – Hunger. Schwere Hungerkatastrophen seit 1845, Studienverlag, Insbruck, 2003 |
Der moderne Kampf gegen den Hunger
Nach der Überwindung des Hungers in Europa nach dem zweiten Weltkrieg hatten viele Menschen in den reichen Ländern das Gefühl, moralisch verpflichtet zu sein, den hungernden Menschen in armen Ländern zu helfen. Mit der Gründung der Vereinten Nationen und deren Unterorganisation für Nahrung und Landwirtschaft (Food and Agriculture Organization, FAO) 1945 übernahm die Weltgemeinschaft einen Teil der Verantwortung für die Verbesserung der Ernährungslage. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte wurden weitere spezialisierte
Neben staatlicher Hilfe organisierten sich private Hilfsinitiativen (Nichtregierungsorganisationen, NROs), die etwas gegen Hunger und Armut in der Welt unternehmen wollten. So startete nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 27. November 1945 in den Vereinigten Staaten das Hilfsprogramm CARE ("Cooperative for Assistance and Relief to Everywhere"). In den CARE-Paketen wurden Nahrungsmittel direkt zu den bedürftigen Familien nach Europa geschickt. Zusammen mit dem
Aber eine flächendeckende Ernährungssicherung kann nur durch politische und strukturelle Änderungen in den Entwicklungsländern selbst erreicht werden. Auch heute noch ist etwa jeder siebte Mensch von Unter- und Fehlernährung betroffen. Trotz aller Anstrengungen bleibt der Eindruck bestehen, dass die Politik das Problem des Hungers nicht entschieden genug angeht.