Die Geschichte des Genozids reicht bis in den Vietnamkrieg zurück. Kambodscha wurde in den 1960er Jahren ein wichtiges Rückzugsgebiet für die vietnamesische Untergrundarmee (FLN). Deshalb wurde der Osten Kambodschas auf Befehl von US-Präsident Richard Nixon ab 1969 systematisch bombardiert. Im April 1970 wurde Staatschef Norodom Sihanouk von General Lon Nol entmachtet, woraufhin sich Sihanouk im chinesischen Exil mit dem kommunistischen Widerstand ("Rote Khmer") verbündete. Das Vorgehen der Amerikaner stärkte in der Bevölkerung die Unterstützung für die Roten Khmer, die im April 1975 die Hauptstadt Phnom Penh einnahmen. Die Macht im "Demokratischen Kampuchea" übernahm eine Führungsgruppe um Staatspräsident Khieu Samphan und Ministerpräsident Saloth Sar, bekannt als Pol Pot oder "Bruder No. 1".
Kern der pseudo-kommunistischen Ideologie der Roten Khmer war die Wiederherstellung einer agrarischen Gesellschaft. Während die Landbevölkerung idealisiert wurde, galten Stadtbewohner als "Klassenfeinde". Städte wurden innerhalb nur weniger Tag evakuiert. Auf den Gewaltmärschen in die ländlichen Regionen starben Zehntausende, sofern sie nicht schon vorher eingesperrt und umgebracht wurden. Industrie- und Dienstleistungsbetriebe wurden geschlossen, Bücher verbrannt, Lehrer, Händler und beinahe die gesamte intellektuelle Elite des Landes ermordet. Religionen wurden verboten, Gotteshäuser zerstört und Minderheiten verfolgt und getötet. Unter der Herrschaft der Roten Khmer verloren bis Januar 1979 mehr als 1,7 Mio. Menschen der Acht-Millionen-Bevölkerung in Folge von Mord, Folter, Zwangsarbeit, Hunger und Krankheiten ihr Leben.
Der Weg zum Frieden
Im Januar 1979 wurden die Roten Khmer von vietnamesischen Truppen entmachtet, die mit diesem Ziel in das Nachbarland einmarschiert waren. Seit 1985 regiert Hun Sen als Ministerpräsident mit seiner Kambodschanischen Volkspartei (CPP) das Land. Nach den von der UN-Friedensmission (United Nations Transitional Authority in Cambodia – UNTAC) eingeleiteten Wahlen in den Jahren 1992 und 1993 musste er zunächst die Macht mit dem Wahlsieger teilen: der royalistischen FUNCINPEC unter Führung des Sohns von Sihanouk, Prinz Norodom Ranariddh. Hun Sen nutzte die Spannungen mit der FUNCINPEC zu einem Staatsstreich, um seine Macht zu sichern. In der Folge regierte die CPP in der formal konstitutionellen Monarchie mit eindeutiger, wenn auch abnehmender Mehrheit. Auch auf der Distrikt- und Provinzebene herrscht die Partei bis heute unangefochten und setzt zur Machtsicherung oft auf die Einschüchterung kritischer Stimmen.
Erst nach dem Tod Pol Pots im Dezember 1998 kapitulierten die letzten Kampfverbände der Roten Khmer. Damit einher gingen mehrere Amnestien und die Integration von Rote-Khmer-Kämpfern in die Nationalarmee, wo sie heute mitunter führende Posten bekleiden. Entsprechend kontrovers werden die Folgen der Vergangenheitsaufarbeitung diskutiert. Hun Sen – bis 1977 selbst Kommandant eines RK-Regiments – und das Könighaus warnen vor einem Auseinanderbrechen der fragilen Gesellschaft. Durch die zahlreichen Frontwechsel und Wirren des Konfliktes finden sich Opfer und Täter heute in unmittelbarer Nachbarschaft oder gar in derselben Familie wieder. In den Schulen wird die Zeit unter Pol Pot in den Lehrplänen weitgehend ausgespart. Am 7. Januar jedes Jahres wird ein Nationalfeiertag zum "Sieg über den Genozid" abgehalten, der von Hun Sen vor allem zur Stärkung seiner eigenen Position als "Retter" des Königreiches genutzt wird.
Die Bevölkerung leidet noch immer unter Traumatisierung, Landraub, einem schwachen Justizsystem und Korruption. Die Roten Khmer sind weiterhin im Untergrund aktiv, sie stellen derzeit aber keine akute Bedrohung dar. Seit 2017 hat sich die Situation hinsichtlich Demokratie, Menschenrechten und Pressefreiheit weiter deutlich verschlechtert. Im Vorfeld der für den Juli 2018 geplanten Parlamentswahlen wurde die größte Oppositionspartei aufgelöst, zahlreiche ihrer Vertreter mussten aus dem Land fliehen. Cambodia Daily, eine der wichtigsten unabhängigen Tageszeitungen, musste schließen, nachdem die Regierung mithilfe des Steuerrechts gegen sie vorgegangen war. Im Frühjahr 2020 wurde die Corona-Pandemie zum Vorwand genommen, weitere Oppositionelle unter dem Vorwurf, "Fake News" zu verbreiten, zu inhaftieren. Auf Kritik des Westens reagiert die Regierung mit wachsender Nähe zu China, das Investitionen ohne lästige Forderungen nach Menschenrechten verspricht. Die politische Zukunft des Landes sieht nach zeitweisen Phasen der Offenheit düster aus.
Im Juli 2006 – fast 30 Jahre nach dem Ende des Terrorregimes – nahm das Rote-Khmer-Tribunal als außerordentliche Kammern in den Gerichten Kambodschas (ECCC) seine Arbeit auf. Dass sich der Beginn der Aufarbeitung der von den Roten Khmer an der eigenen Bevölkerung begangenen Verbrechen so lange hinzog, war nicht zuletzt ein Resultat des Kalten Krieges. Erst seit den 1990er Jahren bemühte sich die UNO um Maßnahmen zur Friedenskonsolidierung, die die westlichen Staaten und insbesondere Thailand noch bis in die 1980er Jahre hinein behindert hatten. Nachdem der Einmarsch Vietnams im Dezember 1978 den Genozid gestoppt hatte, wurde die vom Warschauer Pakt unterstützte Volksrepublik Kambodscha (1979 bis 1989) von den westlichen Staaten und ihren regionalen Verbündeten nicht anerkannt. Die offizielle Vertretung bei der UNO wurde weiterhin von den Roten Khmer wahrgenommen.
Erfolge und Fortschritte
Vor diesem Hintergrund können bereits das Zustandekommen des Tribunals und die Thematisierung des Völkermords in der Öffentlichkeit als Fortschritt angesehen werden. Das Tribunal hat eine einzigartige Struktur, die als hybrides Tribunal bezeichnet wird. Neben dem Obersten Gerichtshof, besetzt mit vier kambodschanischen und drei internationalen Richtern, existiert ein Strafgerichtshof, besetzt mit drei kambodschanischen und zwei internationalen Richtern. Durch eine spezielle Mehrheitsregel ("Supermajority") wird sichergestellt, dass mindestens ein internationaler und zwei kambodschanische Richter einer Entscheidung zustimmen müssen.
Das Mandat des Tribunals ist streng umrissen: Es bezieht sich exklusiv auf die Zeit der Herrschaft der Roten Khmer von 1975 bis 1979 und die Führungskräfte des "Demokratischen Kampuchea". Problematisch ist die rechtliche Grundlage, da die Völkermordkonvention bei Verbrechen gegen das eigene Volk nur bedingt greift. Als Hilfskonstruktionen sprechen Wissenschaftler von "Auto-Genozid" oder plädieren dafür, die gezielte Vernichtung sozialer und politischer Gruppen (Soziozid bzw. Politizid) mit einzubeziehen.
Die Beweislage ist klar: Die Verbrechen wurden vom Geheimdienst Santebal und dem Folterzentrum "S-21" akribisch dokumentiert. Dessen Direktor Kaing Guek Eav, genannt "Duch", wurde im sogenannten Fall 001 als erster vor dem Tribunal angeklagt und am 26. Juli 2010 zu 35 Jahren Haft verurteilt, wovon er 19 absitzen sollte. Die Berufungskammer erhöhte das Strafmaß wegen der Schwere der Verbrechen 2012 auf lebenslänglich. Nach zehn Jahren im Gefängnis verstarb Duch im September 2020.
Im Fall 002 wurden vier weitere hohe Repräsentanten angeklagt: Ex-Staatschef Khieu Samphan und Chefideologe Nuon Chea ("Bruder Nr. 2") wurden 2014 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt, 2018 erfolgte eine weitere Verurteilung wegen Völkermords. Der mitangeklagte Ex-Außenminister Ieng Sary verstarb dagegen vor Urteilsschluss im März 2013, und seine Frau, die damalige Sozialministerin Ieng Thirith, wurde wegen fortschreitender Alzheimererkrankung für verhandlungsunfähig erklärt und verstarb im August 2015. Auch Non Chea ist 2019 verstorben. Als positives Ergebnis der Arbeit von Nebenklage und Zivilgesellschaft kann bewertet werden, dass der anfangs nicht berücksichtigte Aspekt der sexuellen und geschlechtsspezifischen Gewalt zunehmend in die Ermittlungen aufgenommen wurde (Ye 2014).
Zu den herausragenden Merkmalen des Tribunals zählt der bislang einmalige Umstand, dass Vertreter der Opfer nicht nur als Beobachter teilnehmen, sondern teils auch als Nebenkläger auftreten dürfen, auch wenn dies aufgrund der starken Zunahme vermehrt restriktiv ausgelegt wird. Beim Plädoyer der Anklage gegen "Duch" im November 2009 waren sogar Schulklassen anwesend, was der bisherigen Tabuisierung des Themas entgegenwirken könnte. Bis Ende 2017 zählte das ECCC mehr als 560.000 Besucher, inklusive Veranstaltungen mit Schulklassen und Videoübertragungen in Dörfer. Laut einer Umfrage sind in den vergangenen Jahren Bekanntheitsgrad und Zustimmungsraten für das Tribunal in der Bevölkerung gestiegen. Schließlich konnten zivilgesellschaftliche Organisationen, wie das Center for Social Development und das Khmer Institute for Democracy, das Verfahren in öffentlichen Diskussionsforen begleiten.
Das aus dem Cambodian Genocide Program der Yale Universität hervorgegangene und seit 1997 unabhängige Documentation Center of Cambodia ist zum weltgrößten Archiv für Dokumente zur Herrschaft der Roten Khmer geworden. Mit Unterstützung der DW Akademie wurde zudem im Herbst 2017 eine interaktive Website zur Geschichte des Regimes gestartet. Zunächst bestanden Hoffnungen, dass das Tribunal langfristig auch zu einer Reform und Stärkung des schwachen Rechtssystems und einem schrittweisen Wandel des Rechtsverständnisses beitragen könne. Abgesehen vom unbestreitbaren Wissenstransfer hat sich diese Erwartung bislang allerdings kaum erfüllt.
Probleme und Defizite
Nach einer Studie der Transcultural Psychosocial Organization leiden rund 20% der kambodschanischen Bevölkerung an einer "posttraumatischen Belastungsstörung" Bretthauer et al. 2017). Trotz nationaler und internationaler Projekte ist häusliche Gewalt ein weitverbreitetes Phänomen. Neben der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit ist auch die unbefriedigende sozio-ökonomische Realität eine Belastung für die Bevölkerung. Zumindest konnte Kambodscha in den vergangenen Jahren auf niedrigem Niveau ein gewisses Wachstum verzeichnen, und der Anteil der offiziellen Entwicklungshilfe am Staatshaushalt sank von rund 60% (2012) auf rund 21% (2018). Die Folgen der von den Roten Khmer praktizierten systematischen Ausrottung der Intelligentsia sind bis heute spürbar, u.a. im Justizwesen. Laut Amnesty International kann von einer unabhängigen Justiz nicht die Rede sein. Hier wie in der Verwaltung grassiert die Korruption. Auf dem Transparency International Korruptionsindex landete Kambodscha 2019 auf Rang 162 von 180.
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) werfen Ministerpräsident Hun Sen vor, angesichts des Alters der verbliebenen Angeklagten auf Zeit zu spielen und eine Ausweitung des Verfahrens mit allen Mitteln zu blockieren. Er plädiert schon seit langem für einen "Schlussstrich", ansonsten drohe ein "Bürgerkrieg", da bei einer Fortführung frühere Khmer-Rouge-Kämpfer wieder aktiv werden könnten. Dafür gibt es allerdings keine Anzeichen. Kritiker fordern die UNO auf, das mittlerweile fast 300 Mio. US-Dollar teure Tribunal einzustellen, falls die Verfahren weiterhin zur Farce zu verkommen drohten. Allerdings sind die Kosten – verglichen mit anderen internationalen Tribunalen – noch moderat (Mydans 2017). Auch finden sich weiterhin Unterstützer; Japan hat im März 2020 knapp eine Million US Dollar für das Tribunal gespendet.
Insbesondere in den Fällen 003 und 004, die sich gegen Angeklagte der mittleren Führungsebene richten, wird politische Einmischung seitens der Regierung auf die kambodschanischen Richter beklagt, gegen die sich die UNO nur ungenügend zur Wehr setze (Bernath 2018). Die Verfahren haben Verbrechen gegen Minderheiten sowie Säuberungsaktionen innerhalb der Partei zum Gegenstand. Zudem macht die allgegenwärtige Korruption auch vor dem ECCC nicht halt. Mitarbeiter erheben den Vorwurf, sich ihre Positionen erkaufen und regelmäßig Teile ihres Einkommens als "Kommission" an Regierungsbeamte abführen zu müssen. Ende 2019 konnte in der Vorverfahrenskammer keine Einigung über die Anklage gegen den Khmer Rouge-Kader Ao An (Fall 004) erzielt werden – die internationalen Mitglieder plädierten für ein Gerichtsverfahren, die nationalen für die Einstellung. Das weitere Verfahren wegen des Patts zwischen den nationalen und internationalen Untersuchungsrichtern unklar.
Für die weitere Befriedung und Entwicklung Kambodschas ist eine unabhängige und effiziente Justiz unverzichtbar. Unter den Roten Khmer wurden die meisten Dokumente über Privatbesitz und das Katasterwesen zerstört. Als Folge sind zahlreiche Menschen von Landraub und Zwangsräumungen betroffen, oft zugunsten großer Entwicklungsprojekte. Jeder fünfte Haushalt hat mittlerweile kein eigenes Land mehr. Aktivisten müssen mit Repressalien rechnen. Die deutsche Welthungerhilfe versucht, die Familien mit Projekten zu unterstützen.
Bei aller berechtigten Kritik an Kambodscha ist anzumerken, dass die westlichen und die ASEAN-Staaten ihre ehemals konfliktverschärfende Rolle bislang nur unzureichend öffentlich eingestanden und aufgearbeitet haben. An einer für eine umfassendere Aufarbeitung des Völkermordes und seiner Hintergründe nötige Ausweitung des Untersuchungszeitraumes des Tribunals haben sie somit ebenso wenig Interesse wie die kambodschanische Regierung. Kritiker sehen im Pariser Friedensabkommen von 1991 den Kardinalfehler des gesamten Friedensprozesses. Dieser habe durch "Demokratisierung und Marktliberalisierung um jeden Preis" maßgeblich zur Etablierung des heutigen autoritären Regimes beigetragen (Paris 2007; Hummitzsch 2009).