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Georgien | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Georgien

Marion Kipiani

/ 8 Minuten zu lesen

Die Situation an der De-facto-Grenze zwischen Georgien und den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien ist seit dem georgisch-russischen Krieg im August 2008 weitgehend ruhig. Doch bleibt die Lage angesichts der Unvereinbarkeit der Positionen und der zahlreichen Behinderungen des kleinen Grenzverkehrs angespannt.

Ein schwerer Metallzaun mit Stacheldraht an der Schwarzmeerküste von Adler-Sotschi markiert am 18.06.2017 die Grenze zwischen Russland und der autonomen Republik Abchasien. (© picture-alliance/dpa, Christian Charisius)

Aktuelle Situation

Seit der Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens durch Russland im August 2008 hat sich die Abhängigkeit beider Gebiete von Moskau weiter verstärkt. Die wirtschaftliche Entwicklung stagniert, und trotz eines aufgeblähten Verwaltungsapparats sind öffentliche Leistungen, wie Gesundheit und Bildung, unterfinanziert. Die Coronavirus-Epidemie verdeutlicht die Unzulänglichkeit der abchasischen und südossetischen Gesundheitssysteme sowie die dadurch entstehenden Gefahren für die Bevölkerung.

Russland betreibt gegenüber beiden Regionen eine Politik der informellen militärischen und wirtschaftlichen Annexion. Seit dem August-Krieg 2008 stellt Moskau finanzielle Unterstützung für die sozio-ökonomische Entwicklung und die Infrastruktur bereit und gewährt der abchasischen und südossetischen Bevölkerung Zugang zur russischen Staatsbürgerschaft. In Südossetien finanzieren russische Beihilfen fast 90% des öffentlichen Haushalts. Abchasien bemüht sich zwar, ein Mindestmaß an Unabhängigkeit von Russland zu bewahren, dies wird jedoch durch die politische und wirtschaftliche Isolation des De-facto-Staates erschwert.

Seit der Annexion der Krim und der Eskalation der Krise in der Ost-Ukraine im Jahr 2014 hat Russland die finanzielle Unterstützung für Abchasien und Südossetien reduziert. Insbesondere in Südossetien führt die schlechte wirtschaftliche Lage zu massiver Abwanderung der Bevölkerung: Laut offiziellen Zahlen lebten dort im Jahr 2015 etwa 53.000 Menschen (verglichen mit 98.000 zur Zeit der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989). Unabhängige Schätzungen gehen davon aus, dass die tatsächliche Bevölkerungszahl aktuell nur noch bei 39.000 liegt.

Russland unterhält weiterhin Stützpunkte und Truppen in Abchasien und Südossetien, darunter zwischen 3.000 und 4.000 Soldaten sowie Grenzschutztruppen des Inlandsgeheimdienstes FSB, welche die Demarkationslinien (administrative border lines – ABL) zum georgischen Kernland sichern. Seit dem Abschluss von bilateralen Freundschafts- und Partnerschaftsverträgen mit beiden Regionen 2014 und 2015 treibt Russland eine schrittweise Eingliederung abchasischer und südossetischer Einheiten in die russischen Streitkräfte voran.

Zwischen Tbilissi und den De-facto-Regierungen in Suchumi und Zchinwali bestehen keine offiziellen bilateralen Kontakte. Einziges Forum zum Austausch auf hochrangiger politischer Ebene sind die vierteljährlichen internationalen Gespräche im Rahmen des Genfer Prozesses (s. unten). Trotzdem hat Georgien seit 2012 seine Politik der Isolation Abchasiens und Südossetiens aufgegeben und bemüht sich um Kooperation auf humanitärer Ebene. Dazu zählt etwa das Angebot, der abchasischen und südossetischen Bevölkerung den kostenfreien Zugang zum georgischen Bildungs- und Gesundheitssystems zu ermöglichen.

Weiterhin angespannt bleibt die Situation entlang der Demarkationslinien (ABL). Russische und südossetische Kräfte verschieben gezielt Grenzmarkierungen und errichten Befestigungen, was den Zugang der Bevölkerung u.a. zu landwirtschaftlichen Nutzflächen erschwert. Zivilisten werden häufig infolge von "illegalen Grenzübertritten" verhaftet und kommen erst gegen Zahlung eines Bußgeldes frei. Besonders die georgische Minderheit im Südosten Abchasiens, wo im Bezirk Gali weiterhin ca. 50.000 ethnische Georgier leben, ist von der Einschränkung ihrer politischen und kulturellen Rechte sowie häufigen Schließungen der ABL stark betroffen.

Die diplomatischen Beziehungen zwischen Georgien und Russland bleiben seit 2008 eingefroren. Beide Seiten bemühen sich jedoch um eine teilweise Normalisierung, besonders in den Bereichen Wirtschaft und transnationale Verkehrsverbindungen. Bilaterale Gespräche werden auf Ebene des stellvertretenden russischen Außenministers sowie eines Sondergesandten des georgischen Premierministers geführt.

Ursachen und Hintergründe

Georgien ist ein multiethnischer Staat, der mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 seine Unabhängigkeit erlangte. Die ossetische und abchasische Minderheit (1989 etwa 3% bzw. 1,8% der Bevölkerung) verfügten in der UdSSR über Autonomiegebiete innerhalb Georgiens. Der in den 1980er Jahren in der UdSSR einsetzende Reformprozess begünstigte auch in Georgien das Entstehen einer nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit ethnischen Minderheiten in den Autonomiegebieten. Diese befürchteten daraufhin den Verlust ihres Status und leiteten Schritte zur Loslösung von Georgien ein.

In den sich rasch zuspitzenden Konflikten konnte keine Einigung darüber erzielt werden, ob und in welchem Ausmaß sich Abchasien und Südossetien innerhalb des georgischen Staatsgefüges selbst verwalten können. Die Streitigkeiten eskalierten ab 1991 zu bewaffneten Konflikten. Russland unterstützte dabei die sich abspaltenden Regionen, wobei das Ausmaß der russischen Beteiligung bis heute nicht vollständig geklärt ist.

Im Sommer 2008 heizte sich die Lage an der georgisch-südossetischen Demarkationslinie erneut auf. Nach wiederholten Scharmützeln begann die georgische Armee, in völliger Fehleinschätzung der eigenen militärischen Möglichkeiten und in der Hoffnung auf Beistand seitens der USA und des Westens, in der Nacht zum 8. August einen Angriff auf Südossetien. Daraufhin marschierten russische Truppen in Südossetien und Abchasien ein und besetzten Teile des georgischen Kernlands. Die fünf Tage dauernden Kampfhandlungen forderten insgesamt 850 Menschenleben und führten zeitweilig zur Flucht von mehr als 130.000 Menschen. Sie wurden schließlich durch einen von der französischen EU-Ratspräsidentschaft vermittelten Waffenstillstand beendet. Wesentliche Punkte des Abkommens wurden jedoch bis heute nicht umgesetzt, so etwa der Zugang internationaler Beobachter zu Südossetien und Abchasien sowie die Reduzierung der dort stationierten russischen Streitkräfte auf den Status quo ante.

Seit dem Amtsantritt Wladimir Putins als Präsident im Jahr 2000 verfolgt Russland eine konzertierte Politik zur Sicherung seiner Einflusssphäre in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Diese Staaten werden als "nahes Ausland" betrachtet, in dem Russland seiner Ansicht nach historisch begründete Interessen hat und verfolgt. Die Hinwendung der georgischen Regierung zur Europäischen Union und der NATO seit der Rosen-Revolution von 2004 sieht Russland als Bedrohung seiner Sicherheit an. Moskau fürchtet insbesondere das weitere Vordringen des westlichen Militärbündnisses in seiner südlichen Peripherie.

In der Folge werden die ursprünglich ethno-politisch begründeten Konflikte zwischen Georgien sowie Südossetien und Abchasien immer stärker von der geopolitischen Gemengelage und den gespannten Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland überlagert. Dies erschwert die Beilegung der Konflikte und macht sowohl Georgien als auch die Bevölkerung Abchasiens und Südossetiens zum Spielball der Ambitionen Russlands sowie der inkonsistenten Politik der USA und der EU.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Aus Sicht der abchasischen und südossetischen Eliten, aber auch für einen Großteil Bevölkerung, ist der politische Status ihrer Gebiete endgültig geklärt. Sie lehnen daher Verhandlungen mit Georgien über eine gemeinsame Staatlichkeit ab und verfolgen den Aufbau bilateraler Beziehungen unter Anerkennung ihrer Unabhängigkeit. Die Regierung in Tbilissi pocht dagegen auf die Wahrung der territorialen Integrität Georgiens. Sie versucht, ihre guten Beziehungen zur EU und den USA zu nutzen, aber auch multilaterale Foren wie die UNO, um ihrer Position Nachdruck zu verschaffen.

Nach dem August-Krieg 2008 wurden die Genfer internationalen Gespräche als Forum zur Regelung der Folgen des Krieges geschaffen. Unter dem Vorsitz der UNO, der EU und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) treffen sich die Konfliktparteien vierteljährlich, um in zwei Arbeitsgruppen über Sicherheits- und humanitäre Fragen zu beraten. Verhandlungen über den politischen Status Südossetiens und Abchasiens werden nicht geführt. Die Sitzungen müssen häufig wegen Unstimmigkeiten unterbrochen werden. Bislang konnte nicht einmal Einigkeit über eine gegenseitige Verpflichtung zur gewaltfreien Konfliktlösung erzielt werden.

Ebenfalls 2008 wurde die European Monitoring Mission (EUMM) zur Beruhigung des Lage entlang der abchasischen und südossetischen Demarkationslinien eingerichtet. Obwohl der EUMM der Zutritt zu Abchasien und Südossetien verwehrt bleibt, und es weiterhin zu Zwischenfällen kommt, konnte bisher ein Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen verhindert werden. Die knapp 200 unbewaffneten Beobachter/-innen der EUMM vermitteln auch bei der Festnahme von Zivilisten an der ABL und liefern der EU sowie internationalen Vermittlern wertvolle Informationen zur Sicherheits- und humanitären Lage in der Region.

Der EU-Rat hat 2009 eine Politik der Nicht-Anerkennung und Kooperation (NREP – Non-recognition and engagement policy) gegenüber Abchasien und Südossetien beschlossen. Mit dieser Initiative besteht die Möglichkeit, Projekte zur sozio-ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Entwicklung sowie zur Friedensarbeit in den Regionen zu fördern. Allerdings bleiben Mitteleinsatz und Resultate bisher bescheiden. Aufgrund der geschlossenen Grenze zu Georgien können in Südossetien praktisch keine Projekte umgesetzt werden. Auch in Abchasien wurden von 2009 bis 2018 nur ca. 40 Mio. Euro an Fördermitteln vergeben.

Zurzeit sucht die EU nach Möglichkeiten, die Bestimmungen des erweiterten Freihandelsabkommens mit Georgien auf Abchasien auszudehnen. Weiters laufen Gespräche zwischen Russland und Georgien über die Einrichtung von transnationalen Transportkorridoren für den Warenverkehr durch Abchasien und Südossetien. Diese Bemühungen scheiterten jedoch wiederholt am Widerstand der Regierungen in Suchumi und Zchinwali, die eine gleichberechtigte Teilnahme an den Verhandlungen fordern. Eine Konfliktlösungsansatz, der auf die Stärkung der wirtschaftlichen Interdependenz zwischen Georgien und den abtrünnigen Gebieten setzt, scheint in naher Zukunft daher wenig aussichtsreich.

Geschichte des Konflikts

Georgien wurde nach kurzer staatlicher Unabhängigkeit (1918-1921) Teil der Sowjetunion. Südossetien wurde in die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik (GSSR) und damit in die UdSSR eingegliedert und erhielt 1922 den Status eines Autonomiegebiets. Abchasien wurde zunächst als eigenständige (allerdings mit der GSSR assoziierte) Sowjetrepublik in die UdSSR aufgenommen, 1931 aber auf Betreiben Josef Stalins zu einer Autonomierepublik herabgestuft. Als ethnisch definierte Autonomiegebiete verfügten sowohl Südossetien als auch Abchasien als Teil der GSSR über eigene politisch-administrative Institutionen. Die Ethnien lebten größtenteils friedlich zusammen; allerdings beklagten die Eliten der Autonomiegebiete wiederholt die politische und wirtschaftliche Diskriminierung ihrer Regionen.

Die von Michail Gorbatschow 1986 eingeleiteten Reformen "Glasnost" und "Perestroika"[2] führten in der UdSSR zu einer Demokratisierung des politischen Systems. In den Unionsrepubliken, darunter in Georgien, wurden Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit laut. Die autonomen Gebiete fürchteten nun, in einem unabhängigen Georgien ihren Status und ihre Privilegien einzubüßen. Parallel zur georgischen Unabhängigkeitsbewegung entstanden ossetische und abchasische nationalistische Gruppierungen. Einigungsversuche scheiterten angesichts der fehlenden Erfahrung aller Seiten in der friedlichen Beilegung politischer Konflikte. Hinzu kam der Verlust des Gewaltmonopols des georgischen Staates: Paramilitärische Gruppen standen häufig nur noch nominell unter der Kontrolle der zusammenbrechenden staatlichen Institutionen.

Georgiens abtrünnige Regionen. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Nach Beendigung der gewaltsamen Phase beider Konflikte blieben Südossetien und Abchasien völkerrechtlich Bestandteil Georgiens. Doch faktisch wird dort seit Anfang der 1990er Jahre die Bildung eigenständiger Staaten vorangetrieben, die sich politisch nach Russland orientieren und auch wirtschaftlich völlig von dem großen Nachbarn abhängig sind.

Russland nutzte den Alleingang des Westens in der Kosovofrage und die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008, um mit einer analogen Argumentation die Rechtmäßigkeit des Anspruchs von Abchasien und Südossetien auf staatliche Eigenständigkeit zu behaupten. Auch verstärkte Moskau seitdem seine politische und wirtschaftliche Unterstützung der beiden Gebiete. Als Antwort intensivierte Georgien seine Beziehungen zum Westen im Allgemeinen und zur NATO im Besonderen.

In die ab Juli 2008 eskalierenden Zusammenstöße zwischen georgischen Sicherheitskräften und südossetischen Milizen griff Russland nach einer georgischen Offensive gegen Zchinwali ein. Russische Streitkräfte drängten die georgischen Truppen binnen weniger Tage zurück und zerstörten große Teile der militärischen Infrastruktur im georgischen Kernland. Das politische Momentum nutzend, erkannte Moskau die politische Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens nun auch offiziell an.

Der georgisch-russische Krieg stellt eine wichtige Zäsur in der Konfliktgeschichte, aber auch im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen dar: Russland hat mit seinem Angriff auf Georgien deutlich gemacht, dass es seine Einflusssphären auch mit massiver militärischer Gewalt sichern und unbotmäßige Nachbarn abstrafen wird. Die politischen Konflikte zwischen Georgien und Abchasien sowie Südossetien bleiben eng mit geopolitischen Problemen verknüpft, insbesondere mit der Frage der NATO-Osterweiterung und dem russischen Anspruch auf eine Einflusssphäre im "nahen Ausland".

Weitere Inhalte

Marion Kipiani, geb. 1981, ist Doktoratsstudentin der Staatswissenschaften mit Schwerpunkt auf Außen- und Sicherheitspolitik an der University of Texas in Austin. Bis 2017 arbeitete sie als Koordinatorin und freie Beraterin in EU-Projekten zu Demokratisierung und Friedensaufbau im Südkaukasus, den GUS-Staaten und dem Nahen Osten.