Die Zahl der Attentate wächst ständig und mit ihr die Verzweiflung: Am 9. August 2020 wurden acht Menschen beim Besuch eines Giraffenparks nahe Kouré im Westen des Niger ermordet. Am 4. Oktober 2020 kamen in Pissila im Norden Burkina Fasos 25 Binnenvertriebene ums Leben. Sie waren auf dem Rückweg in ihre Dörfer, als ihr Buskonvoi angegriffen wurde. Am 5. Oktober 2020 errichteten dschihadistische Gruppen im Zentrum Malis einen Belagerungsring rund um das Dorf Farabougou. Fünf Menschen wurden getötet, der malischen Armee gelang es wochenlang nicht, die Angreifer zu vertreiben. Dies zeigt: Der westliche Sahel ist fest im Griff der Gewalt. Über eine Millionen Menschen mussten fliehen. Tausende Schulen sind geschlossen, viele seit mehreren Jahren. Bäuerliche Haushalte können ihre Felder nicht mehr bestellen, derzeit sind fünf Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen.
Seit Beginn der Krise 2012 im Norden Malis versuchen europäische und afrikanische Regierungen, der Gewalt mit militärischen Mitteln Einhalt zu gebieten. Doch die Lage ist unübersichtlich. Neben radikalen Islamisten sind auch kriminelle Banden und lokale Selbstverteidigungsgruppen der Bevölkerung aktiv. Zudem spielen staatliche Sicherheitskräfte eine äußerst zwielichtige Rolle, regelmäßig kommt es bei Antiterror-Einsätzen zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Das ist der Grund, weshalb europäische Regierungen immer öfter die begrenzte Reichweite militärischer Maßnahmen unumwunden einräumen. Stattdessen steigt die Bereitschaft, die ökonomischen, politischen und ökologischen Wurzeln der Konfliktdynamik stärker zu berücksichtigen.
Die Vielfachkrise im Sahel
Die Krise im Sahel ist eine Vielfachkrise, insbesondere vier Problemkomplexe leisten bis heute einen maßgeblichen Beitrag zur Entstehung dschihadistischer und krimineller Gruppen in der Region:
soziale Krise
Landkonflikte
Klimawandel
Staatsversagen.
(1) Soziale Krise
Im afrikanischen Kontext besteht ein enger Zusammenhang zwischen prekären Lebensbedingungen und gewalttätigem Dschihadismus. So hat die 2017 veröffentlichte UN-Studie "Journey to extremism in Africa"
Insofern verwundert es nicht, dass sich radikale islamistische Führer meist als Vertreter der armen Bevölkerungsschichten präsentieren, auch unter Bezugnahme auf dschihadistischen Reformbewegungen, die bereits im 19. Jahrhundert eine Vielzahl dschihadistischer Reiche im Sahel hervorgebracht haben. Ein Beispiel ist der Prediger Malam Ibrahim Dicko, der 2016 in Burkina Faso die Terror-Gruppe Ansar ul-Islam gegründet hat und 2017 bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben kam. Dicko stellte nicht nur die Vormachtstellung reicher Honoratiorenfamilien in Frage. Er kritisierte auch die systematische Diskriminierung der Rimaibé – das sind die Nachfahren von Sklaven innerhalb der Volksgruppe der Fulbe. Zudem wandte er sich gegen lokale Traditionen, wie aufwändige Hochzeiten und Taufen, die vor allem für die armen Bevölkerungsgruppen eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen.
(2) Landkonflikte
In Mali, Burkina Faso und Niger leben rund Zweidrittel der Bevölkerung auf dem Land. Umso gravierender ist, dass Acker- und Weideflächen in den letzten 30 Jahren zu einer hochgradig umkämpften Ressource geworden sind – erkennbar unter anderem an den stark gesunkenen Brachezeiten. Lange folgten im Sahel auf 4 bis 5 Jahre landwirtschaftlicher Bearbeitung 20 bis 30 Jahre Brache, um dem ausgelaugten Boden genügend Zeit zur Erholung zu geben. Heute haben sich die üblichen Brachezeiten auf wenige Jahre verringert, bisweilen wird sogar unter Nutzung von synthetischem Dünger zur permanenten Bodenbewirtschaftung übergegangen.
Die wichtigste Ursache dafür dürfte der demographische Faktor sein, also der Umstand, dass sich die Bevölkerungszahlen zwischen 1960 und 2020 mehr als vervierfacht haben – in Mali, Burkina Faso und Niger von 13,4 Mio. auf 61,8 Mio. Menschen. Die hohe Geburtenrate hat unter anderem mit prekären Lebensbedingungen zu tun: Weil es keine Sozialversicherungssysteme gibt, sind die Eltern im fortgeschrittenen Alter auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. Auch Frühverheiratung und unzulänglicher Schulbesuch von Mädchen tragen dazu bei, dass junge Ehefrauen weder um Empfängnisverhütung wissen, noch die Möglichkeit haben, Familienplanung gegen ihre Ehemänner durchzusetzen.
Weitere Ursachen für die Verknappung von Land sind "Landgrabbing" und Desertifikation. Bei Landgrabbing sind vor allem zwei Formen zu unterscheiden: Zum einen die Verpachtung riesiger Acker- und Weideflächen an agrarindustrielle Investoren oder Rohstoffunternehmen, zum anderen die Konfiszierung von Land durch staatliche Stellen oder (korrupte) Politiker, Beamte und Geschäftsleute.
(3) Klimawandel
Nicht minder gravierend sind die Folgen des Klimawandels: Zwischen 1970 und 2010 ist es im Sahel um 0,6 bis 0,8 Grad heißer geworden. Zudem regnet es weniger und vor allem unregelmäßiger, was das Pflanzenwachstum erheblich beeinträchtigt, häufig in Kombination mit erschöpften Böden. Folge sind bereits heute massive Ernteeinbußen. Mittelfristig werden Ertragsrückgänge von mindestens 30% prognostiziert – bei weiterhin stark wachsender Bevölkerung. Ebenfalls dramatisch ist, dass seit den frühen 1980er Jahren Starkregenereignisse und riesige Gewitterkomplexe mit einer Mindestausbreitung von 25.000 Quadratkilometern erheblich zugenommen haben. Dies führt zu immer häufigeren Überschwemmungen mit milliardenschweren Schäden an Ernten, Häusern und Vieh.
Und auch für Fischer- und Viehalter-Gemeinschaften ist der Klimawandel eine existenzielle Bedrohung. So sank das Fischaufkommen im Niger seit den 1990er Jahren um mindestens 50%, vor allem, weil der Fluss weniger Wasser führt und es daher weniger Laichplätze gibt. Viehalter müssen nicht nur beträchtliche Verluste an Weide- und Wasserressourcen verkraften, Hitze und Dürre verringern auch die Milchproduktion und reduzieren somit den Viehbestand, einschließlich schlechterer Fleischqualität.
Die wohl fatalste Konsequenz von Bodenknappheit und Klimawandel dürfte darin bestehen, dass sich Land- und Weidekonkurrenzen zwischen halbnomadischen Viehhirten und sesshaften Ackerbauern massiv zugespitzt haben. Eigentlich wirtschaften die beiden Gruppen bereits seit langem komplementär: Erstens, indem die Tiere auf den abgeernteten Feldern die übrig gebliebenen Halme fressen können, zweitens, indem die dabei anfallenden Ausscheidungen die Felder düngen und drittens, indem Viehhirten und Ackerbauern Milch- und Getreideprodukte austauschen. Dieses Gleichgewicht ist jedoch unter Druck geraten: Immer mehr Weideland wird in Ackerland umgewandelt, während umgekehrt Viehherden regelmäßig auf noch nicht abgeerntete Felder geraten und dort beträchtliche Schäden anrichten.
Hinzu kommt, dass nicht nur die Durchzugswege für die riesigen Herden, sondern auch die Zugänge zu Wasserstellen immer öfter durch neu angelegte Felder blockiert werden. Ergebnis ist eine massive, mitunter auch tödliche Zuspitzung der Verteilungskonflikte. Denn friedliche Konfliktklärungsmechanismen kommen ungleich seltener zum Zuge – insbesondere, weil die dafür zuständigen staatlichen Gerichte und traditionellen Autoritäten wegen Korruption und Parteilichkeit bei weiten Teilen der Bevölkerung an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Gleichzeitig instrumentalisieren dschihadistische Gruppen diese Konflikte, indem sie die Beteiligten gegeneinander ausspielen oder gar aufhetzen – ein Teufelskreis, der außerdem durch Selbstverteidigungsgruppen und staatliche Sicherheitsorgane angeheizt wird.
(4) Staatsversagen
Weil die Regierungen und Verwaltungen ihre Aufgaben in ländlichen Regionen allenfalls rudimentär erfüllen, muss von einem umfassenden Staatsversagen gesprochen werden. In jüngerer Zeit haben sich die Missstände weiter verschlimmert, weil sich zahlreiche staatliche Akteure (z.B. Kommunalbeamte oder Sicherheitskräfte) aus Angst vor dschihadistischen Anschlägen in die größeren Städte abgesetzt haben. Konkret bedeutet dies: Der Staat gewährt weder demokratische Teilhabemöglichkeiten, noch sorgt er für Infrastruktur oder Basisdienstleistungen, wie Bildung, landwirtschaftliche Subventionen oder Gesundheitsversorgung. Er kann auch keine Sicherheit für die Bevölkerung garantieren, mitunter ist er selber Quelle von Unsicherheit.
Vertreter des Staates agieren zudem auf den unterschiedlichsten Ebenen korrupt, unter anderem im Justizwesen. Das umfasst auch politische Repression, insbesondere im Niger. In diesem Sinne betrachten zivilgesellschaftliche Akteure im Sahel dschihadistische Gewalt als bloßes Echo der Korruption, Willkür und Gewalt des Staates