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Ägypten | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Ägypten

Jan Claudius Völkel

/ 9 Minuten zu lesen

Nach dem „Arabischen Frühling“ startete die ägyptische Regierung ab 2013 harte Repressionen gegen Oppositionelle und Kritiker. Zwar ist eine gewisse Beruhigung eingetreten, aber Meinungsvielfalt wird weiterhin unterdrückt. Zudem bleiben die strukturellen Konfliktursachen ungelöst.

Der ägyptische Präsident as Sisi bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken am 18. September 2024. (© picture-alliance, Anadolu)

Die aktuelle Situation

Die aktuell größte Herausforderung für die ägyptische Führung ist die verheerende Wirtschaftslage. Nachdem die Covid-19 Pandemie den für Ägypten so wichtigen Tourismus in den Jahren 2020 und 2021 weitgehend zum Erliegen gebracht hatte, ist das Land von den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine seit 2022 erneut massiv betroffen. Nicht nur die verknappten Weizenimporte aus der Ukraine, bis dato wesentlicher Bestandteil des beliebten „Baladi“-Brots und Grundnahrungsmittel insbesondere der ärmeren Ägypter, sondern auch die steigenden Preise für importierte Produkte haben die Inflation, die Verschuldung und die Schwäche des ägyptischen Pfunds zusätzlich verschärft. Schon 2019 hatte die Weltbank rund 60 % der Ägypter als „arm oder verletzlich“ („poor or vulnerable”) bezeichnet. Angesichts der ungebremst wachsenden Armut rechnet u.a. die International Crisis Group mit zunehmenden sozialen Spannungen und innergesellschaftlichen Konflikten.

Die Folgen des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 und der anschließende Gaza-Krieg verschärfen Ägyptens Wirtschaftsprobleme weiter, da zwischenzeitlich nicht nur die wichtigen israelischen Gasexporte nach Ägypten zurückgingen, sondern auch die touristischen Buchungszahlen aus Westeuropa und Nordamerika sanken. Befürchtet wird außerdem, dass Flucht und Vertreibung aus dem Gazastreifen die Sicherheitslage auf dem Sinai erneut gefährden könnten, nachdem die Aufstände und Anschläge gegen das ägyptische Militär im nördlichen Teil der Halbinsel seit 2021 eingedämmt zu sein scheinen. Allerdings profitiert Ägypten als wichtiger Verhandler und Stabilitätsanker in der Region auch von der erneuten Eskalation des Nahostkonflikts. Die zwischen Ägypten und der EU am 17. März 2024 geschlossene „Strategische Partnerschaft“ muss in diesem Licht gesehen werden.

Neben dem Gaza-Krieg sind die ägyptische Führung und Sicherheitsapparate mit den instabilen Nachbarschaften im Osten und Süden des Landes beschäftigt. So ist die rund tausend Kilometer lange Grenze zu Libyen ein wichtiger Schmuggelweg für Waffen, Söldner und Terroristen. Zudem stellen die jüngsten geostrategischen Machtverschiebungen in der Sahel-Region infolge der Machtübernahme zunehmend russlandfreundlicher Regierungen und Militärregime auch für Ägypten eine ernstzunehmende diplomatische wie militärische Herausforderung dar: Präsident Sisis Versuche, sein Land innerhalb der Afrikanischen Union (AU) zu einer führenden Nation im Bereich der Friedenssicherung zu machen, geraten dadurch unter Druck.

Ungelöst bleibt auch der Konflikt mit den südlichen Anrainerstaaten um Nutzungsrechte des Nilwassers, von dem das überwiegend agrarisch geprägte Ägypten mit seiner schnell wachsenden Bevölkerung (aktuell über 110 Mio.) in existenzieller Weise abhängig ist. Angesichts der sich bereits massiv abzeichnenden Folgen des Klimawandels sieht man insbesondere das äthiopische Staudammprojekt „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ (GERD) kritisch. Seit Äthiopien im September 2023 die vollständige Aufstauung des Blauen Nils nahe der sudanesischen Grenze verkündet hat, wächst in Ägypten die Furcht vor sinkenden Pegelständen. Der ägyptische Außenminister Sameh Shoukry hat sogar ein militärisches Vorgehen gegen Äthiopien nicht ausgeschlossen, wenn mit der äthiopischen Führung keine zufriedenstellende politische Einigung erzielt werden könne.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts

Während des „Arabischen Frühlings“ im Jahr 2011 entlud sich die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit dem repressiven und kleptokratischen Regime des Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak (seit 1981). Dessen Rücktritt im Februar 2011 machte den Weg frei für die ersten demokratischen Parlamentswahlen, die islamistische Parteien mit ca. 70 % der Stimmen gewannen. Bei den Präsidentschaftswahlen im Frühsommer 2012 setzte sich der Kandidat der ägyptischen Muslimbruderschaft, Mohamed Mursi, knapp gegen Ahmed Schafik durch, den früheren Ministerpräsidenten und Vertreter des alten Regimes.

Während Mursis einjähriger Amtszeit trat die komplexe innenpolitische, soziale und religiöse Konfliktlage deutlich hervor. Im Wesentlichen standen sich drei Lager gegenüber: erstens Präsident Mursi und die Muslimbrüder, die sich vor allem auf eine breite Anhängerschaft in den ländlichen Gebieten stützten, zweitens die alten Eliten, die um ihre Schlüsselstellungen in der Verwaltung, den Sicherheitsapparaten, der Justiz und der Wirtschaft kämpften, sowie drittens die Aktivisten des „Arabischen Frühlings“, die jedoch kaum über die notwendigen Strukturen verfügten, um wirksam agieren und um die Macht konkurrieren zu können.

Mursi konzentrierte sich anfangs darauf, durch die Erarbeitung einer neuen (islamistisch geprägten) Verfassung und die Besetzung von Regierungs- und Gouverneursposten mit Muslimbrüdern seine Macht zu sichern. Damit provozierte er jedoch eine Solidarisierung zwischen alten Eliten und Demokratieaktivisten, die sich gemeinsam gegen die drohende Islamisierung der Gesellschaft erhoben. Das Militär nutzte die wiederaufflammenden Proteste als Vorwand für einen Putsch. Am 3. Juli 2013 ergriff der ehemalige General und Verteidigungsminister Abdel Fattah as-Sisi die Macht und ließ sich im Juni 2014 zum Präsidenten wählen.

Damit trat die Auseinandersetzung zwischen den drei Konfliktparteien in eine neue Phase ein; nun lagen Machtfülle und Handlungsmöglichkeiten deutlich auf Seiten des Militärs und der alten Funktionäre. Die neue alte Führung nutzte den Staats- und Sicherheitsapparat, um sowohl die Anhänger Mursis als auch die Demokratieaktivisten politisch oder physisch zu eliminieren. Die brutale Repressionswelle forderte tausende Todesopfer und füllte die Gefängnisse mit geschätzt 40.000 politischen Häftlingen. Der Bericht „We do unreasonable things here“ der Organisation Human Rights Watch vom September 2017 dokumentiert hunderte Fälle systematischer Folterung und gewaltsamen Verschwindenlassens.

An den strukturellen Ursachen des „Arabischen Frühlings“ hat sich bis heute kaum etwas geändert: Politische Parteien sind schwach, zivilgesellschaftliche Räume kaum vorhanden, die Ungleichheit nimmt weiter zu. Vor allem kann das Regime den alten Gesellschaftsvertrag, der auf dem Tausch materieller Vorteile gegen politische Loyalität beruhte, nicht mehr erfüllen. Denn die Finanzierung des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystems wird immer schwieriger. Externe Einkünfte, wie die Schifffahrtsgebühren aus dem Suez-Kanal, Einnahmen aus dem Tourismus, die Rücküberweisungen der ägyptischen Diaspora und die Unterstützung von Partnerländern, haben bislang geholfen, die strukturellen Defizite einigermaßen auszugleichen. Diese Einnahmen sind jedoch volatil und können bei Störungen schnell einbrechen.

Insgesamt fehlt dem Regime eine „glaubwürdige Vision für eine langfristige Entwicklung und wirtschaftliche Transformation, die die strukturellen Schwächen ihrer Wirtschaft überwinden könnte“, wie Arafeh und Meddeb (2024) analysieren. Weitere Gründe für die Wirtschaftsmisere sind die hohe Korruption sowie die zunehmende Dominanz des „militärischen Komplexes“. Gemeint sind Firmen im Besitz des Militärs, die kaum Steuern und oftmals keine Löhne zahlen und weder Umwelt- noch Arbeitsstandards beachten. Zudem agieren sie intransparent und sind jeglicher externen Kontrolle entzogen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Seit dem Putsch von 2013 haben die Militärs und die alten Eliten versucht, die ausufernde Staatskrise durch den Rückgriff auf autoritäre Strategien des Konfliktmanagements einzudämmen und zu überwinden. Statt Gewaltenteilung, demokratische Beteiligung und Meinungsvielfalt als Voraussetzung für die Identifizierung und Aushandlung inklusiver politischer Lösungen zu fördern, werden Oppositionelle aus dem islamistischen, dem liberalen sowie linken Spektrum, darunter Studierende, Professoren, Künstler und Medienschaffende, eingeschüchtert, verfolgt und eingesperrt. Auch der katastrophalen Wirtschaftskrise hat die Regierung aktuell wenig entgegenzusetzen. Während sie die Glitzerfassaden der „Neuen Verwaltungshauptstadt“ für internationales Investment anpreist, können Millionen von Ägyptern kaum noch ihren Tagesbedarf an Nahrung und Medikamenten decken. Tragfähige Antworten auf diese drängende Fragen bietet die Regierung nicht.

Seit 2021 hat die Regierung einige wohlklingende Initiativen zur Beruhigung der innergesellschaftlichen Konflikte angekündigt. Zunächst wurden der Ausnahmezustand aufgehoben und Grundrechte formal wieder in Kraft gesetzt. Zudem hält die Regierung seit 2022 einen „Nationalen Dialog“ ab, in dem zivilgesellschaftliche Gruppierungen innenpolitisch relevante Themen zur Sprache bringen sollen. Zugleich wurden politische Häftlinge entlassen und die Vollstreckung von Todesstrafen reduziert: Amnesty International verzeichnete für das Jahr 2023 nur noch acht offizielle Hinrichtungen ein starker Rückgang im Jahresvergleich – wobei gleichzeitig 590 neue Todesurteile verhängt wurden.

Die Zahlen der tatsächlich aus den Gefängnissen entlassenen politischen Häftlinge blieb jedoch weit hinter den Erwartungen ägyptischer Oppositionsgruppen zurück, und grundsätzlich gilt nach wie vor: Wer sich kritisch über die Regierung äußert, muss mit Verfolgung und Bestrafung rechnen. Zum Repertoire der Regierung gehört dabei auch die Verfolgung von Familienangehörigen, also Sippenhaft, welche in Deutschland und der EU mit dem Prinzip der „individuellen Schuld“ unvereinbar ist.

Kritiker bemängeln, dass die öffentlichkeitswirksam inszenierten Liberalisierungsmaßnahmen weniger auf tatsächliche Verbesserungen für oppositionelle Kräfte im Inland als auf Imagepflege im Ausland zielen. Ein wichtiges Motiv dabei sei, dass die Regierung aufgrund der wachsenden Wirtschaftsmisere und der Zurückhaltung der Geldgeber aus der arabischen Golfregion nun wieder vermehrt auf die EU und die USA als potenzielle Kooperationspartner zugehen müsse.

Die westlichen Mächte appellieren zwar an die Regierung, Demokratie und Menschenrechte zu wahren, setzen tatsächlich aber eher auf die Unterstützung des Regimes, um eine weitere Destabilisierung der Region zu verhindern. Das im März 2024 abgeschlossene „Strategische Partnerschaft“-Abkommen zwischen der EU und Ägypten zur gemeinsamen Migrationssteuerung ist ein aussagekräftiges Beispiel dafür: Obgleich es als zentral für die ägyptische Wirtschaftsentwicklung und damit auch für die gesellschaftliche Aussöhnung beschrieben wird, nützt es in erster Linie den Interessen der Machthaber. Solange Kairo national wie regional ein Minimum an Stabilität gewährleistet, wird sich der externe Druck in Grenzen halten. Dies gilt umso mehr, als sich die geostrategische Bedeutung Kairos in Anbetracht des aktuellen Gaza-Kriegs weiter erhöht hat.

Geschichte des Konflikts

Die Ausgrenzung und Verfolgung Andersdenkender begann unter Ägyptens legendären Präsidenten Gamal Abdel Nasser (Amtszeit 1954-1970). Als charismatischer Anführer der arabischen Welt im Kampf für die eigene Unabhängigkeit vom europäischen Kolonialismus sowie in Abgrenzung zum neu gegründeten Staat Israel warb er für die „doppelte Einheit“ aller Ägypter und Araber. Damit profilierte sich die nasseristische Bewegung einerseits als Avantgarde des Panarabismus. Auf der anderen Seite wurde jegliche Kritik an der Politik der Regierung als Verrat an der „arabischen Sache“ wahrgenommen und unterdrückt. Oppositionelle, insbesondere aus dem islamistischen Spektrum, wurden in den Untergrund gedrängt.

Seit 1956 ermöglichte der nahezu ununterbrochen andauernde Ausnahmezustand den staatlichen Sicherheitsorganen ein weitgehend unkontrolliertes Vorgehen. Hier begann die Radikalisierung vieler oppositioneller Akteure, vor allem von Muslimbrüdern, aber auch anderer islamistischer Gruppen. Bewegungen wie „Gama’at al-Islamiyya“ oder „Wilayat Sina“ attackierten zunehmend staatliche Ziele und verübten Attentate. Im Oktober 1981 wurde der damalige ägyptische Präsident Anwar al-Sadat von vier Islamisten der Gruppe „Al-Dschihad“ ermordet. Auch touristische Attraktionen, wie der Hatschepsut-Tempel in Luxor (November 1997), das Hilton Hotel in Taba (Oktober 2004) oder ein Reisebus an den Pyramiden von Gizeh (Mai 2019), wurden zum Ziel von Anschlägen.

Die islamistische Interner Link: Muslimbruderschaft war 1928 von Hassan al-Banna auch aus Protest gegen die aus seiner Sicht dekadente herrschende Klasse Ägyptens gegründet worden. Schnell zur Massenorganisation gereift, wurde sie nach dem Ende der Monarchie 1952 verboten und erst ab den 1970er Jahren unter Anwar al-Sadat wieder vorsichtig in den politischen Prozess mit eingebunden. Sie betrieb wichtige soziale Einrichtungen und war deswegen bei vielen Ägyptern beliebt. Zugleich entwickelte sie militärische Fähigkeiten im Kampf gegen das Regime und baute mit Ablegern in anderen arabischen Ländern ein internationales Netzwerk auf.

Nach den Erfolgen bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2011/2012 wähnten sich die Muslimbrüder mit dem Wahlsieg ihres Präsidenten Mursi am Ziel und begannen, die Gesellschaft ihren Vorstellungen gemäß umzubauen. Doch der Militärputsch im Sommer 2013 läutete die Restaurierung des alten Regimes ein. Nach Ansicht vieler Beobachter ist der neue starke Mann Ägyptens, Abdel Fattah as-Sisi, heute mit größerer Machtfülle ausgestattet als Hosni Mubarak. Auch das Ausmaß staatlicher Repression hat deutlich zugenommen, wie die regelmäßigen Berichte von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen belegen.

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Jan Claudius Völkel ist DAAD Seconded Professor an der Universität Ottawa, Kanada. Er forscht seit mehr als 20 Jahren zum Nahen Osten und hielt sich über fünf Jahre in Ägypten und anderen arabischen Ländern auf. Seit 2008 fungiert er als „Regionalkoordinator Nordafrika/Nahost“ beim Bertelsmann Transformationsindex (BTI).