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Nigeria | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Nigeria

Heinrich Bergstresser

/ 10 Minuten zu lesen

2023 wurde Bola Tinubu neuer Präsident Nigerias. In den verschiedenen Landesteilen gibt es Gewaltkonflikte, u.a. im Nordosten durch den IS-Ableger „Islamischer Staat der Provinz Westafrika“.

Bola Tinubu, Präsident von Nigeria. (© picture-alliance/AP)

Aktuelle Situation

Im Februar 2023 wurde Bola Tinubu zum fünften Präsidenten der IV. Republik gewählt. Die Wahlbeteiligung von 29 % markierte einen historischen Tiefpunkt; so reichte die Stimme von nur 10 % der Wahlberechtigten dem Kandidaten der stärksten Fraktion der Herrschaftselite zum Wahlsieg. Das Versprechen Tinubus, „die Sicherheitslage merklich zu verbessern, Wirtschaftsreformen zu forcieren und die Korruption erkennbar einzudämmen“, wurde bislang nicht eingelöst. Vielmehr hat sich die Wirtschafts- und Sicherheitslage verschlechtert, u.a. ausgelöst durch die schockartige Abwertung der Landeswährung Naira, gepaart mit einer extrem widersprüchlichen Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitspolitik, und den Rückgang sowohl der Öl- und Gasförderung als auch der Kraftstoffproduktion. In der Folge haben sich die Rahmenbedingungen für Bearbeitung und Lösungsansätze der mehrdimensionalen Gewaltkonflikte insgesamt weiter verschlechtert.

Im Kontrast zu den Versprechungen der Wahlkampfkampagne fehlt der neuen Regierung eine Strategie, wie Nigeria aus der selbstverschuldeten wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Misere herausfinden kann. Stattdessen setzt er die Verschuldungspolitik seiner Vorgänger fort, um ein Mindestmaß an Wachstum zu generieren und die Rentenökonomie abzusichern. Denn Nigeria verfügt noch immer über einen großen Handlungsspielraum, seine Wirtschafts- und Finanzpolitik zu einem beträchtlichen Teil mittels interner und externer Kreditaufnahme zu gestalten.

Angesichts dieser politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besteht kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Einhegung und Bearbeitung der zahlreichen Gewaltkonflikte in den verschiedenen Landesteilen:

  • Im Nordosten des Landes hat der IS-Ableger „Islamischer Staat der Provinz Westafrika“ (ISWAP) in etlichen Landstrichen rigide Herrschafts- und Verwaltungssysteme errichtet, in denen er Steuern erhebt und ggf. drakonische Strafen verhängt. Punktuell kommt es zu Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Splittergruppen wie der einst dominanten und nun wiedererstarkten Boko Haram.

  • Im Nordwesten hat sich eine Gewaltdynamik mit Dutzenden von Banden – zumeist vom Volk der Fulani – verfestigt, die sich durch Raub, Plünderung, Brandschatzung, Kidnapping und Mord finanzieren. Hintergrund sind eskalierte Spannungen zwischen Fulani-Nomaden und sesshaften Bauern. Neben Dörfern sind vor allem Schulen und höhere Bildungseinrichtungen bevorzugte Ziele.

  • Auch in Zentralnigeria schwelen ethnisch geprägte Auseinandersetzungen zwischen sesshaften Bauern, zumeist aus den zahlreichen Minoritätenvölkern, und Fulani-Hirten um die Nutzung von Grund und Boden. Sie verschärfen ethnisch-religiös gefärbte Verteilungskämpfe und Gewaltkriminalität (z.B. Viehdiebstahl, Raub, Plünderungen und Kidnapping), in die auch Teile der Sicherheitskräfte involviert sind. Diese Konflikt- und Gewaltmuster breiten sich zunehmend in Richtung Süden aus.

  • Das Nigerdelta, wo auch viele ethnische Gruppen leben, ist mit seinen Öl- und Gasvorkommen die wirtschaftliche Lebensader des Landes. Hier hält der gut organisierte Ölraub Förderindustrie und Sicherheitskräfte in Atem. Die Umsetzung der kostspieligen Amnestie- und Reintegrationsprogramme für ehemalige Milizangehörige und die Sanierung der ölverseuchten Landstriche kommt nur schleppend voran.

  • Im Südosten, dem Kernland der Igbo, versuchen gewaltbereite Gruppierungen, angeführt von der Indigenous People of Biafra (IPOB) und ihrem Anführer Nnamdi Kanu, weiterhin das Ziel eines unabhängigen Biafra-Staates zu verwirklichen. Die IPOB wurde von der Regierung zur Terrororganisation erklärt.

  • Landesweit bleibt die organisierte Kriminalität (z.B. Drogenhandel, Kidnapping, Erpressung, Menschenhandel, Banküberfälle und Raubüberfälle auf Fernstraßen) auf hohem Niveau. Zudem haben sich ethnisch geprägte Geheimbünde (secret cults) als Gewaltakteure etabliert. Ihre Netzwerke reichen in etlichen Bundesstaaten bis in die obere politische Ebene und staatliche Sicherheitsdienste. Dieses Muster wurde inzwischen auch nach Europa und Übersee exportiert.

Das Ausmaß der Konflikte ist ein Indikator für das tiefsitzende Misstrauen gegenüber den politischen Eliten auf der Bundesebene und für die chronische Schwäche der Institutionen der 36 Bundesstaaten und der 774 Bezirksregierungen (local governments). Demzufolge betrachtet eine wachsende Zahl gesellschaftlicher Gruppen Gewalt und Kriminalität als erfolgversprechenden Weg, sich einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum anzueignen.

Als Reaktion auf die allgegenwärtige Gewalt hat sich eine prosperierende „Konflikt- und Sicherheitsindustrie“ etabliert. Der Staat setzt zunehmend auf Militarisierung, und private Sicherheitsfirmen bieten ihre Dienste an. Die Ausgaben für Militär und Polizei belaufen sich auf ca. 4 Mrd. US$ (2023). Darin sind die Aufwendungen für die ‘security votes‘ an die Gouverneure und die staatlichen paramilitärischen Einheiten nicht berücksichtigt. Auch ist die Debatte um den Aufbau autonomer Polizeiinstitutionen und paramilitärischer Einheiten in der Zuständigkeit der Bundesstaaten neu entflammt. Vorreiter sind einige südliche Bundesstaaten, die damit erste bescheidene Erfolge erreichen konnten.

Ursachen und Hintergründe

Nigeria, das mit rd. 220 Mio. Einwohnern bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land Afrikas, verfügt mit etwa 400 Ethnien auch über die größte ethnische Vielfalt des Kontinents. Aus der Gas- und Ölproduktion werden rd. 70 % des Staatshaushalts und fast die gesamten Deviseneinahmen realisiert. Die Bevölkerung ist extrem jung und hat sich innerhalb von drei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Gleichzeitig blieb die wirtschaftliche Entwicklung deutlich hinter der demografischen Entwicklung zurück. Die zunehmende Nord-Südwest-Binnenmigration verschärft diese Gegensätze und das massive Jugendarbeitslosigkeits- und Generationenproblem, was einer sozialen Zeitbombe gleichkommt.

Die politische Dominanz der drei Mehrheitsvölker Haussa-Fulani, Igbo und Yoruba prägt auch die zentral- und bundesstaatlichen Machtstrukturen. Der nigerianische Föderalismus, erdacht als Interessenausgleich zwischen den Regionen und Völkern, entwickelte sich schnell zu einem System quasi-legaler Bereicherung der Eliten. Dadurch geht – weitgehend unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit – die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander, und die krassen strukturellen Entwicklungsunterschiede zwischen dem unterentwickelten Norden und dem relativ prosperierenden Süden verfestigen sich.

In der Folge erhalten radikale Gruppierungen Zulauf, die sich mit ihren politisch-religiös gefärbten gesellschaftlichen Vorstellungen als Interessenvertreter für benachteiligte Bevölkerungsgruppen anbieten. Die Gruppen, allen voran die ISWAP, haben sich in teils konkurrierende kriminelle Vereinigungen verwandelt und in etlichen Landstrichen erfolgreich quasi-totalitäre Herrschaftsstrukturen errichtet. Sie tragen Gewalt und Terror in die Nachbarstaaten am Tschadsee und verstärkt auch in die südlichen Landesteile Nigerias.

Auch im Nordwesten und in Zentralnigeria ist das staatliche Gewaltmonopol erheblich eingeschränkt. Den Freiraum nutzt eine Vielzahl gut organisierter Verbrechersyndikate, um ihr einträgliches Geschäft zu betreiben: u.a. Viehdiebstahl, Brandschatzung, Kidnapping, Raubüberfälle und Auftragsmorde. Sie besitzen inzwischen eine beträchtliche Handlungsmacht gegenüber den Regionalregierungen und partiell auch gegenüber der Zentralregierung, die sich immer wieder auf Lösegeldzahlungen und Tauschgeschäfte einlassen.

Die im Nigerdelta durchgeführten, kostspieligen Amnestie-, Reintegrations- und Ausbildungsprogramme führten nur partiell zur Befriedung der Region. Ein Teil der einstigen Milizionäre hat sich in Verbrechersyndikaten organisiert. Sie terrorisieren die Fernstraßen im Süden, führen Raubüberfälle auf Reisende und Banken durch und betreiben Kidnapping, wobei vermehrt Entführte trotz Lösegeldzahlung ermordet werden. Der Kampf gegen den professionell betriebenen Ölraub in einer Größenordnung von drei- bis vierhundert Tausend Barrel pro Tag, in dem auch Sicherheitsdienste und Mitarbeiter der Ölunternehmen verstrickt sind, ist bislang nur mäßig erfolgreich.

Die zunehmende Gewalt in den von Igbo dominierten Bundesstaaten im Südosten, die sich im Wesentlichen gegen den Staat und Teile der Zivilgesellschaft richtet, steht in direktem Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren gegen den IPOB-Gründer Nnamdi Kanu, der wegen Sezessionsbestrebungen und angeblicher Terroranschläge angeklagt ist. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil können aber noch Jahre vergehen.

Die Zahl der Geheimbünde, wie z.B. „Black Axe“, beläuft sich auf mehrere Dutzend. Einst an den Universitäten als politische Speerspitze gegen koloniale Bevormundung gegründet, verwandelten sich etliche studentischen Gruppen ab den 1980er Jahren in kriminelle Organisationen. Seit Beginn der IV. Republik (1999) sind mehrere tausend Menschen Erpressung, Zwangsprostitution und Mord zum Opfer gefallen. Dank Internet und irregulärer Migration haben sich die Geheimbünde und ihre Netzwerke weiter professionalisiert und ihre Aktivitäten auch auf das Ausland, insbesondere Europa und Übersee, ausgeweitet.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Präsident Tinubu hat mit seiner „Agenda erneuerte Hoffnung“ eine entschlossene Politik zur Ankurbelung der Wirtschaft und Verbesserung der Sicherheitslage im Land angekündigt. Während die wirtschaftlichen Schwerpunkte, wie Abwertung der Währung, Abschaffung von Kraftstoffsubventionen und Devisenbeschränkungen sowie Steuererleichterungen auf einen Kurs der Wirtschaftsförderung bei gleichzeitiger Vernachlässigung sozialer Belange hindeuten, überwiegen im Sicherheitsbereich Maßnahmen zum weiteren Ausbau von Armee und Polizei. Dazu zählt u.a. die Anschaffung von Flugzeugen und Hubschraubern, die Schaffung eines 2.200 Mann starken Korps zur Sicherung von Bergbaustätten und Bekämpfung des illegalen Bergbaus, die Anschaffung moderner Patrouillenschiffe zur Auffindung und Zerstörung illegaler Ölraffinerien sowie die jährliche Rekrutierung von 30.000 neuen Polizisten.

Ein breiterer Ansatz liegt der am 13. Februar verkündeten Pulako-Initiative zugrunde. Insgesamt sollen 50 Mrd. Naira aufgewendet werden, um in sieben Bundesstaaten – Katsina, Zamfara, Sokoto, Niger, Kaduna, Benue und Kebbi – Bandentum (= Terrorismus), Entführungen, Viehdiebstahl, Aufstände und andere Sicherheitsbedrohungen zu bekämpfen. Im Rahmen der Initiative sollen sowohl die Konfliktlösung, der Wiederaufbau von Gemeinden (z.B. Straßen, Wohnhäuser, Schulen) als auch die Unterstützung von Bauern und Viehhirten finanziert werden.

Doch auch unter Präsident Tinubu ist kein grundlegender politischer Kurswechsel zu erwarten. Der nationalen Regierung fehlt es an strategischer Planungskapazität, finanziellen Ressourcen und operativer Handlungsfähigkeit, um die den o.g. Konflikten zugrundeliegenden Ursachen nachhaltig zu bearbeiten und terroristische, kriminelle und aufständische Gruppen dauerhaft zu neutralisieren. Eine gesellschaftlich breit akzeptierte politische Strategie zur politischen Befriedung und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ist nicht in Sicht. Die völlig unzureichenden staatlichen Dienstleistungen für die breite Bevölkerung (z.B. öffentliche Sicherheit, soziale Absicherung, Gesundheitssystem) sind eher geeignet, die Ungleichheit und Rivalität zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und ethnischen Gruppen zu verstärken. Mehr noch: Der nigerianische Staat ist immer weniger in der Lage, das Eigentum und die Sicherheit der Eliten abzusichern.

Internationale staatliche Akteure – allen voran die USA, Großbritannien und die EU – betrachten Nigeria primär als Eckpfeiler der Sicherheit und Stabilität in Westafrika und als Energielieferant. Dem sind alle anderen Politikfelder untergeordnet. Die USA drängen zwar auf Reformen (z.B. Einhaltung der Menschenrechte, Bekämpfung der Korruption, Demokratisierung von Staat und Verwaltung), doch mit Blick auf die Durchsetzung bleibt es bei diplomatisch verbrämten Ermahnungen.

Geschichte des Konflikts

Nigeria hat seit seiner Unabhängigkeit (1960) das Stadium des unfertigen Staates noch immer nicht überwunden und verfügt auch unter der formal demokratischen IV. Republik (seit 1999) nur in Ansätzen über eine funktionierende Staatlichkeit. Die tiefste sozioökonomische und soziokulturelle Kluft verläuft zwischen dem islamisch geprägten Norden und dem überwiegend christlich geprägten Süden des Landes. In beiden Religionen verstärken sich seit Jahren Fundamentalisierungstendenzen, und in fast allen Landesteilen ist die ethnische Zugehörigkeit zu einer zentralen Legitimations- und Mobilisierungsressource im Kampf um Grund und Boden und um Transferzahlungen des Staates geworden.

Der blutige Sezessionskrieg um Biafra (1967–1970), dessen Ursachen und Folgen nie aufgearbeitet wurden, markiert bislang den einzigen „Betriebsunfall“ für die nigerianischen Eliten. Seitdem gilt die ungeschriebene Staatsdoktrin, dass sich ein derartiges Ereignis nicht wiederholen darf. Dies soll ein Elitenkonsens garantieren, der darin besteht, die Pfründe so reibungslos wie möglich aufzuteilen, um das „System Nigeria“ in seiner jetzigen Form nicht zu gefährden. Dieser Konsens geriet bereits mehrfach in Gefahr – so unter Militärdiktator Sani Abacha (1993-98) und Präsident Goodluck Jonathan (2010-15). Doch damit ist unter dem aktuellen Präsidenten Tinubu nicht zu rechnen.

Das öl- und gasreiche Nigerdelta schafft den größten Reichtum Nigerias, der jedoch zu einem großen Teil von den Eliten vereinnahmt wird. Ethnisch definierte gewaltbereite und gut organisierte Gruppen fordern seit Beginn der Demokratisierung 1998/99 die Elitenherrschaft immer wieder heraus. Dabei waren einige Milizen, wie die Niger Delta People’s Volunteer Force (NDPVF) und die Niger Delta Avengers (NDA), mit der Anwendung von Gewalt erfolgreich und konnten zumindest einen Teil der staatlichen Einnahmen zu ihren Gunsten umverteilen und sich so als Teil der Herrschaftselite etablieren.

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geb. 1949, ist freier Journalist, Trainer bei der AIZ innerhalb der GIZ in Bonn-Röttgen und freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA in Hamburg, schreibt seit Jahren im Africa Yearbook den Beitrag zu Nigeria. Er war mehr als 20 Jahre Redakteur bei der Deutschen Welle in Köln und Bonn, wo er sich besonders den Thematiken zu Afrika und den Nord-Süd-Beziehungen widmete. In den 1990er Jahren verbrachte er als Repräsentant der Friedrich-Naumann-Stiftung mehrere Jahre in Nigeria und Ghana.