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Analyse: Euromaidan goes Parliament: Wer sind "die neuen" ParlamentskandidatInnen? | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Euromaidan goes Parliament: Wer sind "die neuen" ParlamentskandidatInnen?

Susann Worschech

/ 12 Minuten zu lesen

Bei der Parlamentswahl am 26. Oktober 2014 in der Ukraine kandidieren erstmals auch viele Aktivist­Innen aus der Zivilgesellschaft. Die Studie geht den politischen und beruflichen Biographien der KandidatInnen nach und veranschaulicht deren zivilgesellschaftlichen Hintergrund. Eine Netzwerkanalyse zeigt, dass einige zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien als zentrale Orte der Vernetzung herausragen und als "Sprungbrett" dieser ambitionierten NachwuchspolitikerInnen gelten können.

Abgeordnete des ukrainischen Parlaments in Kiew. (© picture-alliance)

Einleitung

Am 26. Oktober 2014 wird in der Ukraine ein neues Parlament gewählt. Insgesamt 450 Parlamentssitze werden jeweils zur Hälfte über Parteilisten und über Direktmandate vergeben. Erstmals seit der Unabhängigkeit der Ukraine stellt sich bei dieser Wahl auch eine größere Anzahl von Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Bereich der Zivilgesellschaft und der Medien zur Wahl. In einem Land, in dem Politik bisher weithin als schmutziges Geschäft und PolitikerInnen generell als korrupt und als ausschließlich am eigenen Vorteil interessiert galten, ist dies ein Novum. Gerade jene AktivistInnen der Zivilgesellschaft, die jahrelang für eine demokratische Entwicklung der Ukraine gekämpft haben, konnten sich bisher nicht deutlich genug von "der Politik" abgrenzen. Jetzt wagen einige von ihnen den Sprung ins Parlament.

Aber wer sind diese AktivistInnen, welchen Hintergrund haben sie, was verbindet sie? Ein Blick in die Biographien der wichtigsten ProtagonistInnen kann einen Eindruck vermitteln, was ihre Metamorphose zum Politiker / zur Politikerin für die neue Ukraine bedeuten könnte.

28 Kandidaten, fünf Listen, zwei Direktmandate: Who is who?

Es ist eine Gruppe von knapp 30 Aktivistinnen und Aktivisten, die über fünf Listen bzw. zwei Direktmandate für das Parlament kandidieren: Auf der Liste des Wahlblocks von Petro Poroschenko finden sich die Maidan-Aktivistin und Ärztin Olha Bohomolez (Listenplatz 3), die Journalistin und Aktivistin Switlana Salischtschuk (Listenplatz 18), der Journalist Serhij Leschtschenko (19), der Journalist und Maidan-Initiator Mustafa Najem (20), der Journalist und Aktivist Oleksandr Tschernenko (21), die Journalistin Olha Tscherwakowa (61) und die Journalistin und NGO-Managerin Iwanna Klympusch-Zinsadse (61). Aktuell liegt der Block Poroschenko in den Umfragen bei etwa 40 % Zustimmung, so dass alle sieben Aktivistinnen und Aktivisten mit großer Sicherheit ein Mandat erringen werden.

Auf der Liste der neu gegründeten Volksfront (Narodnij Front) von Premierminister Arsenij Jazenjuk kandidieren die Journalistinnen Tetjana Tschornowol (Listenplatz 2) sowie Viktoria Siumar (7). Bei derzeit 6 bis 8 % Zustimmung in den Umfragen ist auch für diese beiden Aktivistinnen davon auszugehen, dass sie in das Parlament einziehen werden. Auf der Liste der Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna) von Julia Timoschenko kandidieren der Aktivist Ihor Luzenko (Listenplatz 3), die Advocacy-Expertin Aliona Schkrum (5), der Aktivist Oleksij Riabtschyn (9) und der frühere Journalist Andrij Schewtschenko (20). Schewtschenko ist bereits seit 2006 Abgeordneter der Rada, hat aber zuvor als Journalist den 5. Kanal mitgegründet und vom Parlament aus eng mit der Zivilgesellschaft zusammengearbeitet. Auch diesen KandidatInnen ist der Parlamentssitz relativ sicher, da die Vaterlandspartei bei etwa 8 bis 10 % Zustimmung liegt. Weitere vier Kandidatinnen und Kandidaten stehen auf der Liste Bürgerliche Position des früheren Verteidigungsministers Hryzenko: der Aktivist Wasyl Hazko (Listenplatz 2), der Blogger Oleh Derewianko (4), der Antikorruptionsexperte Witali Schabunin (5) und die Journalistin Natalia Sokolenko (13). Die Bürgerliche Position liegt ebenfalls bei etwa 8 % Zustimmung, so dass die genannten Listenplätze recht sicher sind.

Schließlich kandidieren acht Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft auf der Wahlliste der Partei Selbsthilfe des Lemberger Bürgermeisters Andrij Sadowij: die Aktivistin Hanna Hopko (Listenplatz 1), die Juristin Oksana Syroid (4), der Aktivist Wiktor Kriwenko (5), die Lustrationsaktivistin Iryna Suslowa (6), die Aktivistin Olena Sotnik (11), der Journalist und Lustrationsaktivist Jehor Sobolew (13), der Aktivist Ostap Jednak (17) sowie der Aktivist Wolodymyr Harkusha (35). In den Umfragen liegt diese Liste derzeit bei etwa 3 % und verfehlt damit sehr wahrscheinlich die Fünfprozenthürde, um in das Parlament einziehen zu können. Wolodymyr Tschystylin und Nadija Sawynska (beide Journalisten und Mit-Initiatoren des Charkiwer Euromaidans) kandidieren für ein Direktmandat im ostukrainischen Charkiw. Weiterhin ist Oleksandr Solontai zu nennen. Solontai ist ein langjähriger Zivilgesellschaftsaktivist, der vor allem in der landesweiten Koordinierung regionalpolitischer Initiativen engagiert ist. Er ist Mitbegründer und Kandidat der sehr jungen Partei Stärke des Volkes (Syla Ljudei), die aber keine Chance auf den Parlamentseinzug hat.

Biographischer Hintergrund der KandidatInnen

Die meisten der genannten Aktivistinnen und Aktivisten sind um 1980 geboren; sie stammen aus verschiedensten Landesteilen der Ukraine – von Luhansk über die Krim bis Uschhorod – und viele von ihnen sind zum Studium nach Kiew gegangen und wurden hier aktiv. Von den insgesamt 28 Akteuren sind 13 JournalistInnen und 15 AktivistInnen; zehn Kandidaten sind sowohl JournalistIn als auch AktivistIn; vier verfügen bereits über Parlamentserfahrung – zumeist auf kommunaler Ebene (Hazko, Schabunin, Luzenko); nur ein früherer Journalist (Schewtschenko) ist bereits Abgeordneter der Werchowna Rada. In der Analyse der Biographien fallen aber nicht nur Ähnlichkeiten in Bezug auf Alter, beruflichen Hintergrund und Engagement auf. Es wird auch deutlich, dass die zivilgesellschaftlichen KandidatInnen über bestimmte NGOs, Kampagnen, Initiativen oder Medien eng miteinander verbunden sind. Der Soziologe Georg Simmel bezeichnete dieses Phänomen als die Kreuzung sozialer Kreise: Jedes Individuum ist Teil mehrerer verschiedener Freundschafts-, Familien-, Berufs- oder Politiknetzwerke. Dabei "besetzt" das Individuum eine spezifische Position, an der sich diese verschiedenen Netzwerke überschneiden.

Aus dieser jeweils spezifischen Überschneidung, also aus der Mitgliedschaft in den verschiedenen sozialen Kreisen, ergibt sich eine bestimmte Identität des Individuums. Die Kombination der sich überkreuzenden Kreise beeinflusst das Individuum an der Schnittstelle und das Individuum selbst beeinflusst die Gruppen, zu denen es gehört. Simmel prägte dafür den Begriff der Wechselwirkung. Darin steckt die Idee der sozialen Dualität: Gruppen und Individuen beeinflussen sich gegenseitig. Wer das Handeln eines Individuums verstehen will, sollte daher auch dessen Gruppenzugehörigkeiten und die entsprechenden Wechselwirkungen reflektieren. Die Soziale Netzwerkanalyse setzt diese Idee theoretisch und methodisch um.

AktivistInnen-Netzwerke

Die Biographien der zivilgesellschaftlichen ParlamentskandidatInnen weisen zum Teil sehr viele Überschneidungen auf. Zunächst waren zwölf KandidatInnen sehr aktiv in die Euromaidan-Proteste involviert – zum Beispiel als Initiator (Najem), als Koordinator des zivilen Sektors des Euromaidan (Jednak), als Koordinatorin der Kampagnenkommunikation in den Sozialen Netzwerken (Salischtschuk), als OrganisatorInnen regionaler Euromaidane (Tschystylin, Sawynska) oder als Leiterin des Medizinischen Koordinierungszentrums (Bohomolez).

Doch enge Verbindungen gerade zwischen den Protagonisten des Euromaidan bestanden auch schon in den Jahren zuvor. Zunächst beteiligten sich viele von ihnen bereits an den Protesten der Orangenen Revolution, die als zentrales politisches Sozialisationsereignis gelten kann. Zentral für die Vernetzung und Kooperation war im darauffolgenden Jahrzehnt besonders die Kampagne Stop Censorship!, welche gegen die Zensur und die Einschränkung der Pressefreiheit vor allem in den staatlichen Massenmedien kämpfte. Dieser von der NGO Centre.UA und hier insbesondere von Switlana Salischtschuk im Jahr 2010 ins Leben gerufenen und organisierten Kampagne schlossen sich 570 ukrainische JournalistInnen und Medienschaffende sowie 135 zivilgesellschaftliche Organisationen an. Neun dieser JournalistInnen kandidieren nun für das Parlament. Sieben JournalistInnen der Kampagne zählten zugleich zur Kerngruppe des Euromaidan – die Überscheidungen zwischen diesen beiden Bereichen des Engagements sind am größten. Eine dritte wichtige Basis einer möglicherweise gemeinsamen politisch-kritischen Sozialisation ist die renommierte unabhängige Internet-Zeitung Ukrainska Prawda: Sieben JournalistInnen, die heute für das Parlament kandidieren, haben dort als JournalistInnen bzw. Blogger gearbeitet und / oder frei publiziert. Auch hier gibt es einige personelle Überschneidungen mit der Kampagne Stop Censorship! und der Euromaidan-Kerngruppe (jeweils vier). Weitere Medien, die als zivilgesellschaftliche "Basis" der KandidatInnen gelten können, sind der Fernsehsender 5. Kanal, den Poroschenko 2003 gründete und der bisher als einer von zwei unabhängigen und kritischen Sendern galt, sowie das erst 2013 gegründete Internetfernsehprogramm Hromdske.TV.

Die NGO Institute of Mass Information, ein weiterer Akteur für den Erhalt der Pressefreiheit, ist ebenfalls eine Hintergrundorganisation, in der zwei Aktivistinnen tätig waren. Aus den NGO-Netzwerken hat sich in der Folge des Euromaidans zudem eine NGO namens Reanimation Package of Reforms (RPR) gegründet. Diese Organisation versteht sich als Koordinationsplattform für etwa 20 thematische Arbeitsgruppen zu spezifischen Reformen. An den Arbeitsgruppen sind insgesamt mehr als 100 Experten aus verschiedensten NGOs und Think-Tanks beteiligt. Die Aktivitäten der Plattform umfassen die Organisation und Koordination der wöchentlichen AG-Treffen, Lobby- und Pressearbeit für die jeweiligen Reformen sowie die Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen. Die Plattform kooperiert mit einem interfraktionellen Arbeitskreis des ukrainischen Parlaments. Fünf AktivistInnen der Kerngruppe des RPR kandidieren für das Parlament – drei davon allerdings auf den aktuell wenig aussichtsreichen Plätzen der Partei Selbsthilfe. Neben den Organisationen fallen zwei Themen auf, die viele AktivistInnen und JournalistInnen verbinden: In der Korruptionsbekämpfung engagierten sich sieben KandidatInnen und zwei weitere waren aktiv bei der Umsetzung einer umfassenden Lustration.

Interessant ist auch eine weitere Gemeinsamkeit von vier AktivistInnen: Switlana Salischtschuk, Serhij Leschtschenko, Mustafa Najem und Andrij Schewtschenko nahmen an einem Fellowship-Programm der Universität Stanford teil, welches Demokratisierung, Entwicklung und Rechtstaatlichkeit thematisierte. Auch wenn alle vier in unterschiedlichen Jahren dort waren, ist die gemeinsame Erfahrung dieses Programms und eine damit zusammenhängende mögliche ähnliche politische Prägung eine bemerkenswerte biographische Übereinstimmung, zumal dieses Programm die Stärkung relevanter zivilgesellschaftlicher Akteure zum Ziel hat. Schließlich sollte noch bemerkt werden, dass einige AktivistInnen eigene Parteien gegründet haben. Über Oleksandr Solontai und seine Partei Stärke des Volkes ist bereits berichtet worden. Stärke des Volkes schließt sich keiner der etablierten Wahllisten an, sondern kandidiert allein – was einerseits für ihren Unabhängigkeitsanspruch stehen könnte, andererseits aber auch die Frage nach den Überlebenschancen der jungen Partei aufwirft. Auf den fünf genannten Wahllisten werden die Parteien Demokratische Allianz und Wolja durch drei bzw. fünf KandidatInnen vertreten. Die Demokratische Allianz, die aus einer Jugend-NGO hervorgegangen ist, hat sich mit der Liste Bürgerliche Position zusammengetan, während die Wolja-Mitglieder auf verschiedenen Listen kandidieren.

Einzelengagements der KandidatInnen

Neben diesen mehreren AktivistInnen gemeinsamen Zugehörigkeiten sind die genannten KandidatInnen in einer Reihe von weiteren Organisationen und Initiativen aktiv, die den gemeinsamen biographischen Hintergrund der Gruppe individuell ergänzen. Beispielsweise ist Oleksij Riabtschyn einer der Organisatoren des Ukraine Crisis Media Center, das seit dem Euromaidan täglich internationale Pressekonferenzen ukrainischer PolitikerInnen und AktivistInnen anbietet und koordiniert. Witali Schabunin leitet seit 2011 die NGO Zentrum gegen Korruption und war Stadtratsabgeordneter im westukrainischen Riwne. Oleksandr Tschernenko ist der Leiter der sehr renommierten Wahlrechts- und Wahlbeobachtungs-NGO Komitee der Wähler der Ukraine. Ihor Luzenko ist der Gründer der Initiative Save Old Kiev, die sich – überwiegend ehrenamtlich – für den Erhalt historischer Bausubstanz in Kiew und gegen deren Abriss durch Investoren einsetzt. Olena Sotnik verteidigt als Juristin die Interessen der Familien der auf dem Euromaidan getöteten Aktivisten, der sogenannten Himmlischen Hundertschaft. Darüber hinaus arbeiten einige der KandidatInnen (Syroid, Siumar, Schkrum, Klympusch-Zinsadse) als ExpertInnen in ukrainischen Think-Tanks und in Projekten zur Beratung der Legislative.

Zentrale Personen

Bei der Betrachtung der Rolle einzelner Akteure in der Gesamtgruppe der KandidatInnen fallen einige Akteure als besonders zentral auf. Zentralität meint hier im Sinne der Sozialen Netzwerkanalyse eine hohe Anzahl von Beziehungen zu anderen Akteuren. Je mehr Verbindungen ein Akteur in einem Netzwerk zu anderen hat, umso zentraler ist er. Diese Person erhält z. B. Informationen von vielen verschiedenen Menschen, ist vermutlich in mehrere soziale Kreise eingebunden oder wird von vielen Akteuren um Rat gefragt. Eine hohe Zentralität zeugt daher zunächst von vielen Verbindungen und kann (je nach Inhalt der Beziehung) auf ein gewisses Prestige der Person hindeuten.

Sehr zentral sind in diesem Netzwerk Switlana Salischtschuk und Jehor Sobolew. Switlana Salischtschuk arbeitete für Centre.UA und initiierte die Kampagne Stop Censorship, war aktiv am Euromaidan beteiligt, arbeitet beim RPR mit, war als Journalistin für den 5. Kanal tätig und beschäftigt sich mit dem Thema Korruption. Jehor Sobolew ist einerseits bekannt als Aktivist, der für eine umfassende Lustration in der Ukraine kämpft, befasst sich aber auch thematisch mit der Korruptionsbekämpfung, war auf dem Euromaidan und in der Kampagne Stop Censorship sehr aktiv und gründete die Partei Wolja. Weitere zentrale Akteure im Netzwerk (mit etwas geringeren Zentralitätswerten) sind Tetjana Tschornowol, Serhij Leschtschenko, Mustafa Najem und Ihor Luzenko. Salischtschuk und Sobolew zeigen zudem hohe Werte in der Betweenness-Zentralität, welche beschreibt, wie viele indirekte Beziehungen zwischen zwei Akteuren über die zentrale Person laufen.



Eine Person mit hoher Betweenness-Zentralität verbindet also viele andere Akteure aus verschiedenen Bereichen des Netzwerks – es handelt sich um eine Vermittlerposition. Zugleich hat diese Person damit auch eine gewisse Macht, denn sie kann entscheiden, welche Informationen und Ressourcen sie zwischen zwei Akteuren vermittelt. Für jene Akteure mit hohen Zentralitätswerten ergibt sich zweierlei aus ihrer Position: Einerseits verfügen sie über gute Chancen, gemeinsames Handeln der AktivistInnen im Parlament zu organisieren, Koalitionen zu formieren und dadurch die Gruppe der zivilgesellschaftlichen KandidatInnen auch fraktions- bzw. listenübergreifend zusammenzuhalten und gemeinsame Interessen durchzusetzen. Zugleich bedeutet eine hohe Zentralität aber auch eine Machtposition, insbesondere im Falle der Betweenness-Zentralität. Es bedarf eines hohen demokratischen Anspruchs und einer hohen Selbstreflexionsfähigkeit, um die Vorteile, die sich an dieser "Schaltstelle" im Netzwerk ergeben, auch als Netzwerkressource und nicht zum eigenen Vorteil einzusetzen.

Grundsätzlich hat das Netzwerk mit 36 % realisierten Beziehungen (von allen im Netzwerk möglichen Beziehungen) eine mittlere Dichte. Dies deutet angesichts der 13 möglichen Zuordnungen zu NGOs, Medien, Parteien oder Fellowships darauf hin, dass die Personen im Netzwerk ihre Aktivitäten eher verteilen denn konzentrieren und sich die Kreise daher an vielen Stellen kreuzen. Abschließend soll eine Cliquenanalyse das Bild der sozialen Kreise ergänzen. Mittels dieser Analyse kann dargestellt werden, welche Gruppen mit mindestens drei Mitgliedern, die möglichst viele Zugehörigkeiten miteinander teilen, sich im Netzwerk ergeben. Zur Kerngruppe des Netzwerks mit jeweils sechs gemeinsamen Cliquenüberschneidungen gehören demnach Switlana Salischtschuk, Serhij Leschtschenko, Mustafa Najem, Jehor Sobolew und Tetjana Tschornowol.

Auf der Basis der Analyse können diese fünf Aktivistinnen und Aktivisten derzeit als herausragende, am besten vernetzte und vielfältig engagierte Vertreter der Zivilgesellschaft für das Parlament gelten. Diese fünf untereinander eng verbundenen Akteure kandidieren auf verschiedenen Listen, was sich aufgrund ihrer nah beieinander gelegenen Netzwerkpositionen nicht unbedingt erschließt. Die breite Aufstellung der AktivistInnen über insgesamt fünf Listen kann als Strategie interpretiert werden, auf relativ sicheren Plätzen zu kandidieren (mit Ausnahme der Liste der Partei Selbsthilfe), um möglichst vielen VertreterInnen der Zivilgesellschaft das Erringen eines Parlamentsmandats zu ermöglichen. Zugleich zeigt sich hier auch, dass die VertreterInnen der ukrainischen Zivilgesellschaft in gewisser Hinsicht "unideologisch" sind und möglicherweise vorhaben, für die von der Zivilgesellschaft geforderten Reformen in mehreren Parteien zu werben und auf der Basis ihrer intensiven Vernetzung ggf. fraktionsübergreifende Bündnisse zu ermöglichen.

Bedeutung der Aktivistinnen-Netzwerke für die ukrainische Politik

Die Analyse hat verdeutlicht, dass die KandidatInnen, die aus der Zivilgesellschaft heraus am 26. Oktober für das ukrainische Parlament kandidieren, im "Vorfeld der Politik" bestens und zum Teil langjährig vernetzt sind. Insbesondere die Kampagne Stop Censorship! nahm hierbei eine zentrale Rolle ein, da in ihr nicht nur auffällig viele KandidatInnen engagiert waren, sondern weil durch sie offensichtlich auch ein stärkerer Austausch zwischen JournalistInnen und AktivistInnen zustande kam. Sieben der neun JournalistInnen, die in der Kampagne engagiert waren, sind seither zusätzlich als AktivistInnen in Erscheinung getreten. Welchen Erfolg die Kampagne selbst für die Pressefreiheit hatte, ist eher spekulativ und zudem schwer zu messen – die offensichtlich erfolgreiche und dauerhafte Vernetzung hingegen kann als klares Ergebnis dieser Kampagne gewertet werden.

Ein weiterer positiver Aspekt der Vernetzung ist die breite Wissensbasis, auf die die KandidatInnen zugreifen können. Innerhalb des Netzwerks können beispielsweise die Akteure des Reanimation Reforms Package über die zentralen Personen in wenigen Schritten erreicht werden – und damit auch dessen ExpertInnen, so dass bei Bedarf Beratung der Legislative bzw. einzelner Abgeordneter akquiriert werden kann. Auf dieser Basis ist eine effektive Zusammenarbeit zwischen der wissensorientierten Zivilgesellschaft (Think-Tanks etc.) und den zivilgesellschaftlichen Abgeordneten denkbar. Darüber hinaus zeigen die Ähnlichkeiten in den zivilgesellschaftlichen Biographien, dass die meisten KandidatInnen in zwei oder mehr Organisationen, den Medien o. Ä. aktiv waren und sich daher mit verschiedenen Inhalten sowie mit zivilgesellschaftlichem Management auseinandergesetzt haben.

Gerade Kandidat­Innen wie Hanna Hopko, Switlana Salischtschuk, Jehor Sobolew oder Ihor Luzenko verfügen über breit gefächerte Erfahrungen im Kampagnenmanagement, in der Mobilisierung, im Umgang mit Behörden oder Polizei. Diese Fähigkeiten werden – unabhängig von Inhalten – bei der Durchsetzung der Reformagenda im Parlament notwendig sein. Einige der zentraleren Akteure haben im Laufe ihrer Kandidatur betont, dass die Zivilgesellschaft ihr eigenes Handeln als Abgeordnete ebenso kritisch beobachten solle, wie sie dies als AktivistInnen oder JournalistInnen zuvor selbst getan haben. Gerade angesichts des relativen Machtpotenzials der zentralen Akteure innerhalb der Gruppe zivilgesellschaftlicher KandidatInnen erscheint ihre kritische Begleitung durch Medien und Zivilgesellschaft auch sehr angemessen.

Es ist nicht zu erwarten, dass zwanzig bis dreißig AktivistInnen der Zivilgesellschaft die parlamentarische Arbeit in der Ukraine grundlegend verändern können. Aufgrund der Gemeinsamkeiten ihrer Biographien im gesellschaftspolitischen Raum wird sich aber möglicherweise eine neue Form der Zusammenarbeit unter den reformorientierten Abgeordneten entwickeln, die die Belange der Euromaidan-Proteste in das Parlament hineinträgt. Die AktivistInnen wissen, worauf es bei den Reformen ankommt, damit nicht wieder die Fehler passieren und sich die Probleme einstellen, die sie lange selbst bekämpft haben. Die Chancen stehen gut, dass sie die politische Kultur in der Rada verändern und die Erwartungen der Gesellschaft an eine Erneuerung der Ukraine in die Politik tragen werden.

Fussnoten

Susann Worschech, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, promoviert an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) zu Netzwerkstrukturen der ukrainischen Zivilgesellschaft und ihrer externen Förderung.