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Das Militär, die AKP und der gescheiterte Putsch | Türkei | bpb.de

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Das Militär, die AKP und der gescheiterte Putsch

Jürgen Gottschlich

/ 9 Minuten zu lesen

Im Juli 2016 versuchten Teile des türkischen Militärs, durch einen Putsch die Regierung zu stürzen. Vor allem in Europa und den USA werden die anschließenden Aktionen des Staates als Maßnahmen wahrgenommen, um das politische System der Türkei im Sinne einer autoritären Alleinherrschaft umzustrukturieren. Was passierte im Vorfeld des Putschversuches und was bedeutet er für das politische Gleichgewicht im Land?

Proteste in Ankara gegen den Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs, 16. Juli 2016. (© picture-alliance/dpa)

Seit Einführung des Mehrparteiensystems und den ersten demokratischen Wahlen 1946 ist die Türkei eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster. Tatsächlich aber behielt das Militär, das seit Gründung der Republik 1923 eine wichtige Rolle im Staat spielte, auch nach 1946 noch eine wesentlich dominantere Rolle als in anderen westeuropäischen Staaten. Das Militär blieb eine Art "Regierung der letzten Instanz“. Die Militärführung übte über einen regelmäßig tagenden Nationalen Sicherheitsrat in Sicherheitsfragen die verfassungsrechtlich verankerte Oberaufsicht über die jeweilige Regierung aus und scheute auch nicht davor zurück, Regierungen abzusetzen, wenn sie aus Sicht der Generäle die Prinzipien der von Atatürk gegründeten Republik schwerwiegend verletzten.

Insgesamt drei Mal putschte das Militär erfolgreich (1960, 1971, 1980). 1997 wiederum stellte das Militär der amtierenden Regierung von Necmettin Erbakan ein Ultimatum und verlangte Maßnahmen, die eine vermeintliche Islamisierung von Staat und Gesellschaft verhindern sollten. Interner Link: Erbakan trat zurück, die Regierung akzeptierte die Forderungen und verhinderte damit einen Militärputsch.

Nach den Wahlen im April 2007 hatte der damalige Premierminister Erdoğan den islamisch-konservativen Außenminister Abdullah Gül als Kandidat der Regierungspartei AKP ("Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt", Adalet ve Kalkinma Partisi) für das Präsidentenamt vorgeschlagen. Daraufhin drohte das Militär mit einem Putsch, da es die Trennung von Staat und Religion gefährdet sah. Die anschließend angesetzten Neuwahlen gewann die AKP so überzeugend, dass das Militär die Wahl von Abdullah Gül zum neuen Staatspräsidenten nicht mehr behinderte.

Am 15. Juli und in der Nacht des 16. Juli dieses Jahres unternahmen Teile des Militärs den bislang letzten Versuch, durch einen Putsch die Regierung zu stürzen und selbst die Macht zu übernehmen. Anders als bei dem letzten erfolgreichen Putsch im September 1980 ging der Umsturzversuch am 15. Juli vermutlich nicht vom Generalstab, also der Spitze des Militärs aus, sondern mutmaßlich von Generälen unterer Ränge. Letztlich scheiterte der Putsch nicht nur an der auffallend niedrigen Beteiligung des Militärs am Putsch, sondern vor allem am Widerstand der Bevölkerung und der Polizei.

Bei den vorangegangenen Putschen ging es entweder darum, dass das laizistisch-kemalistische Militär als Hüter der Republik Atatürks gegen seiner Meinung nach bedrohliche islamische Tendenzen der zivilen Regierung intervenierte; oder, wie beim Putsch 1980, dass das Militär die Regierung absetzte, weil diese aus ihrer Sicht nicht dazu in der Lage war, täglich eskalierende gewaltsame Straßenkämpfe zwischen linken Sozialrevolutionären und islamistischen, rechtsnationalistischen Gruppen unter Kontrolle zu bringen.

Bei den Putschisten vom 15. Juli 2016 soll es sich laut türkischer Regierung aber nun nicht um säkulare-kemalistische Offiziere gehandelt haben, die eine zunehmend islamische Umformung der Gesellschaft verhindern wollten, sondern um Offiziere, die der islamischen Gülen-Bewegung angehören, die nach Auffassung der Regierung die Macht im Staate übernehmen wollten. Für diese Behauptung gibt es bislang Indizien und Zeugenaussagen, die diese stützen – eindeutige Beweise aber, dass die zweitgrößte Armee der NATO erfolgreich von den Interner Link: Gülenisten unterwandert wurde, gibt es nicht.

Der Kampf zwischen der AKP und dem Militär

Seit die islamisch geprägte AKP bei den Parlamentswahlen im November 2002 die absolute Mehrheit gewann, lässt sich ihre Politik in unterschiedliche Phasen unterteilen. In der ersten Legislaturperiode bis 2007, der liberalen Reformphase der AKP, suchte sich die Parteiführung innerhalb und außerhalb des Landes möglichst viele Verbündete. Die AKP Regierung setzte auf Beitrittsverhandlungen mit der EU, hob in den kurdischen Gebieten des Landes den Ausnahmezustand auf und umwarb die liberalen Intellektuellen des Landes, indem sie eine echte Demokratisierung versprach, in dessen Folge auch die Macht des Militärs reduziert und das Primat der zivilen Politik durchgesetzt werden sollte. Als das Militär dann 2007 tatsächlich noch einmal indirekt mit einem Putsch drohte, falls die AKP den islamisch-konservativen Außenminister Abdullah Gül zum Präsidenten wählen sollte, hatte die AKP den größten Teil der Gesellschaft hinter sich, als sie diese Drohung durch Neuwahlen abwehrte.

In der zweiten Phase, von 2007 bis zu den Wahlen 2011, änderte sich der Kurs der AKP von demokratischer Partizipation zu Repression. Ein prominentes Beispiel ist der Fall "Ergenekon": Nachdem im Jahr 2007 bei einer Hausdurchsuchung der Staatsanwaltschaft in Istanbul Handgranaten und Sprengstoff gefunden wurden, führten die weiteren Ermittlungen zu Strafverfahren gegen eine Geheimorganisation namens "Ergenekon". Diese soll das Ziel gehabt haben, einen Militärputsch vorzubereiten. In dessen Zuge wurden hochrangige Militärs, Journalisten, Unternehmer und ehemalige Interner Link: Politiker verhaftet – erst 2013 wurden fast alle der 285 Angeklagten zu langen Haftstrafen verurteilt. Diese Verfahren, die Züge von Schauprozessen aufwiesen und bei denen bis zu einem Drittel des höheren Offizierskorps angeklagt wurde, schwächten das traditionell säkulare Militär in erheblichem Maße. Zudem hinterließ die damit einhergegangene Entlassungswelle ein Vakuum im Militär.

Die Rolle der Gülen-Bewegung

An dieser Stelle kommt die Gülen-Bewegung (Gülen Hareketi) ins Spiel. Interner Link: Fethullah Gülen, dessen Wirken Mitte der 1960er-Jahre begann und der in den späten 1970er-Jahre das Gülen-Netzwerk ins Leben rief, ist wie die AKP konservativ-sunnitisch orientiert, ideologisch sind sie eng verwandt. Noch deutlicher wird dies bei Betrachtung der Millî Görüş-Bewegung, aus deren Umfeld einige AKP-Politiker stammen. Doch während Millî Görüş offen politische Forderungen tätigt und auf eine Islamisierung der Wirtschaft setzt, hat die Gülen-Bewegung, die in mittlerweile über 130 Ländern Bildungseinrichtungen gegründet hat und von vielen als gemäßigt islamische Bildungsbewegung eingeschätzt wird, sich nie offen zu politischen Zielen bekannt. Vielmehr versuchte sie durch eigene Schulen, private Universitäten und Internate, eine eigene islamische Elite heranzuziehen. Diese sollte sozusagen im "Marsch durch die Institutionen“ Schlüsselstellungen im Staat besetzen, um am Ende die säkulare türkische Republik zu einem am Islam orientierten Staat zu machen.

Gülen hat diese Unterwanderung immer bestritten und ging 1999, als gegen ihn ein Prozess wegen Ausnutzung der Religion für politische Ziele eröffnet wurde, in die USA ins Exil. Als die AKP 2002 die Wahl gewann und dann mit durchweg unerfahrenen Leuten die Regierung bildete, stützte sie sich innerhalb der Bürokratie in großem Umfang auf Anhänger der Gülen Gemeinde. Als "islamische Freunde" halfen sie der AKP, sich gegen die säkulare kemalistische Ministerialbürokratie durchzusetzen. Ergebnis dieser Zusammenarbeit war, dass Gülenisten überall in Polizei, Justiz und im Militär auf hohen Posten wiederzufinden waren. Zum Beispiel waren viele der Staatsanwälte und Richter, die ab 2008 die Ergenekon-Prozesse gegen die säkularen Militärs führten, Anhänger Fethullah Gülens.

Der Bruch zwischen Erdoğan und Gülen

Im Jahr 2012 kam es zum Bruch zwischen Erdoğan und Gülen. Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung jahrelang bestritten wurde, gibt eine Reihe begründeter Vermutungen, warum die Allianz zerbrach. Zu den gängigsten gehören: dass nachdem der gemeinsame Feind, die säkulare Bürokratie und Armee, bekämpft schien, sich die Machtfrage im eigenen Lager stellte – Erdoğan und Gülen betrachten sich beide als große islamische Führer, und für zwei Führer ist nun einmal nicht genug Platz; dass die Gülen-Bewegung für Erdoğans Empfinden, dem Mann, der gewählter Ministerpräsident war und dies bei der Wahl 2011 noch einmal eindrucksvoll unterstrichen hatte, zu weitreichende Forderungen stellte; oder dass es um die Frage ging, wie mit der als terroristisch eingestuften kurdischen Interner Link: Arbeiterpartei PKK umzugehen sei, mit denen Erdoğan verhandelt wollte, wohingegen Gülen weiter auf eine "militärische Lösung" setzte.

Zum offenen Bruch jedenfalls kam es Ende 2013, als Staatsanwälte, Polizisten und Untersuchungsrichter, die der Gülen-Bewegung angehört haben sollen, Korruptionsermittlungen gegen vier Minister der Regierung einleiteten; zudem tauchten Telefonmitschnitte im Zuge der Korruptionsaffäre auf, von der auch die Familie Erdoğans betroffen war. Erdoğan ließ daraufhin die Ermittlungen niederschlagen und versetzte Staatsanwälte, Polizisten und Richter, einige wurden gefeuert; mit diesem Vorgang verletzte er die richterliche Unabhängigkeit. Seitdem gilt die Gülen-Bewegung in der offiziellen Lesart als kriminelle Vereinigung, die den Staat unterwandert habe und die Regierung stürzen wolle. Erdoğan ließ Gülen-nahe Unternehmen und Medien unter Staatskontrolle stellen und führende Gülenisten verhaften.

Jetzt, nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016, wird die Gülen-Bewegung von der Regierung als alleinverantwortlich identifiziert. Regierungsnahe Publizisten deuten an, dass die Anhänger der Gülen-Bewegung die früheren "Säuberungen" des säkularen Offizierskorps, etwa nach den Ergenekon-Prozessen, dazu genutzt haben, ihre eigenen Leute in Schlüsselstellungen im Militär unterzubringen. Dadurch sei dann der Putschversuch möglich geworden. Eine weit verbreitete Vermutung in der türkischen Öffentlichkeit ist auch, dass der Putsch vom 15. Juli von Gülen-Anhängern gestartet wurde, um einer geplanten "Säuberung" von eigenen Leuten im Militär zuvorzukommen.

Die Konsequenzen des Putschversuchs

Wenige Tage nach dem Putschversuch verhängte Erdoğan, der 2014 zum Präsidenten der Türkei gewählt wurde, den Ausnahmezustand über das Land. Zunächst für drei Monate – er kann aber nochmals verlängert werden. Seit dem Putsch geht der türkische Staat gegen vermutete Gülen-Anhänger in allen Bereichen der Gesellschaft vor. An erster Stelle steht dabei das Militär, es wurden jedoch auch Anhänger aus zivilen Kreisen verhaftet – vor allem im Justizsystem, Journalismus, Schulen, Universitäten, Gewerkschaften.

Über zehntausend Soldaten wurden verhaftet, mehrere tausend Offiziere aus der Armee ausgestoßen. Von Luftwaffe und Marine soll jeweils das halbe höhere Offizierskorps in U-Haft sein. Nach letzten Angaben wurden rund 80.000 Personen, darunter die Hälfte Lehrer, Dozenten Professoren oder andere Angestellte aus dem Bildungsbereich von ihren Posten suspendiert. Solange der Ausnahmezustand andauert, können sie dagegen nicht klagen. Die Regierung setzt in dieser Situation aber nicht nur auf Entlassungen, sondern strukturiert die Armee grundsätzlich um.

So soll von nun an die Ausbildung umstrukturiert werden. Die Offiziersschulen und Kadettenanstalten, in denen die zukünftige Militärelite bereits ab 14 Jahren für ihre Laufbahn geformt wurde, werden aufgelöst. Damit verliert das Militär die Kontrolle über die Ausbildung des eigenen Nachwuchses. Stattdessen sollen die Kadetten zukünftig an einer Universität für nationale Verteidigung ausgebildet werden.

Weiterhin wird die Rolle des Generalstabschefs eingeschränkt, die Chefs der drei Waffengattungen sollen zukünftig dem Verteidigungsminister unterstellt werden, die Gendarmerie und die Küstenwache wiederum dem Innenministerium. Außerdem wird im Nationalen Sicherheitsrat die Anzahl der Zivilisten aufgestockt, so dass die Militärs zukünftig in der Minderheit sein werden. Nach den Worten von Ministerpräsident Binali Yıldırım soll dadurch sichergestellt werden, dass das Militär nie wieder in der Lage ist, einen Putsch zu inszenieren. Polizei und Geheimdienste stehen ebenfalls auf dem Prüfstand, wie genau die neue Struktur aussehen soll ist aber noch unklar.

Dasselbe gilt für die Justiz. Noch ist die Regierung dabei, tausende Richter Staatsanwälte und andere Justizangestellte zu suspendieren oder festnehmen zu lassen, rund ein Fünftel der Staatsanwälte und Richter wurde schon entlassen – alles mit der Begründung, Gülen-nahe "Elemente" auszusieben, "den Virus" zu bekämpfen, wie Erdoğan sagte.

Gleichzeitig laufen aber bereits Gespräche mit zwei der drei Oppositionsparteien – die kurdische Partei HDP ist nicht dabei –, um die Justiz per Verfassungsänderung "unabhängiger" zu machen. Vor allem in Europa und den USA sieht man die bisherigen Aktionen und die sogenannten "Säuberungswellen" des Staates nach dem gescheiterten Putsch als Versuch, den ganzen Staat im Sinne einer autoritären Alleinherrschaft umzustrukturieren.

Optimisten in der säkularen Opposition hoffen darauf, dass die Erfahrungen mit der Unterwanderung staatlicher Institutionen durch eine religiöse Sekte, wie die Gülen-Bewegung von Kritikern genannt wird, nun dazu führen könnte, Justiz, Armee, Polizei und die staatlichen Bildungseinrichtungen zu entideologisieren, von religiösen Einflüssen frei zu machen und zu tatsächlich unabhängigen neutralen, nur dem Recht verpflichteten Institutionen zu machen.

Dass Erdoğan die einstigen Verbündeten in aller Härte verfolgen lässt, spricht allerdings gegen diese Hoffnung. Was er wirklich will, wird sich zeigen, wenn bei den überparteilichen Gesprächen für eine neue Verfassung klar wird, ob er bereit ist, auf seine langjährige Forderung zu verzichten: eine auf seine persönlichen Machtbefugnisse zugeschnittene Präsidialverfassung einzuführen. Denn nur dann wird ein demokratischer Neuaufbau der Institutionen möglich sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Seit den 1940er-Jahren gibt es einen Nationalen Sicherheitsrat (Milli Güvenlik Kurulu, kurz MGK) in der Türkei. Seit dem ersten Militärputsch von 1960 und der daraus entstandenen Verfassung von 1961 ist der Nationale Sicherheitsrat auch als Verfassungsorgan fest im türkischen Recht verankert. […] Der MGK war in Fragen der Sicherheit der Regierung weisungsbefugt. Aufgrund zahlreicher Verfassungsreformen und Gesetzesänderungen seit 2003 durch die AKP ist der Sicherheitsrat mit einer zivilen Mehrheit ausgestattet […]. Außerdem tritt er nur noch alle zwei Monate zusammen und ist ausschließlich ein beratendes Organ.“ Quelle: Das politische System der Türkei, www.bpb.de/184968

  2. Das Selbstverständnis des türkischen Militärs gründet sich auf den Prinzipien des Laizismus und Kemalismus; es sieht sich seit seiner Gründung in der Aufgabe, die unbedingte Trennung von Religion und Staat auf allen Ebenen aufrechtzuerhalten sowie die Prinzipien des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk zu bewahren, der das Land in den 1920er- und 1930er-Jahren streng von oben nach westlichen Standards modernisierte und die in seinen Augen rückständigen osmanischen sowie islamisch-religiösen Bräuche aus dem öffentlichen Leben verbannte. Das Militär versteht sich seither als Bewahrer der kemalistischen Republik Türkei.

  3. Im April dieses Jahres hob das Berufungsgericht die damaligen Entscheidungen allerdings wieder auf.

  4. Mehrere tausend Polizisten, über hundert Staatsanwälte

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Jürgen Gottschlich, Auslandskorrespondent in Istanbul und Autor des Buches "Beihilfe zum Mord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier".