Die Armenier gehören zu den ursprünglichen Bevölkerungsgruppen Ostanatoliens und des südlichen Kaukasus. Ihre Geschichte lässt sich bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgen. Ihre verschiedenen Königreiche und Fürstentümer standen dabei häufig in Abhängigkeit oder unter der Vorherrschaft mächtiger Nachbarreiche, insbesondere Persiens, Byzanz‘ sowie später unter arabischem Einfluss. Im Jahr 301 n. Chr. erklärte König Tiridates III. (286-344) das Christentum zur Staatsreligion. Armenien wurde somit zum ersten christlichen Staat der Welt. Die Armenische Apostolische Kirche, die zu den Altorientalischen Kirchen gezählt wird, ist bis heute eigenständig. Ihr Hauptsitz ist in Etschmiadzin in Armenien, wo auch der Katholikos aller Armenier als geistliches Oberhaupt residiert. Der Katholikos des Hohen Hauses von Kilikien, dessen ursprünglicher Sitz in Sis (heute Kozan) lag, residiert seit dem Völkermord im Jahr 1915 in Antelias nahe Beirut. Außerdem besteht das Patriarchat der Armenisch Apostolischen Kirche in Konstantinopel, also in Istanbul und das Patriarchat in Jerusalem.
Eine zentrale Zäsur in der armenischen Geschichte war die Eroberung Armeniens im 11. Jahrhundert durch die aus Zentralasien kommenden turkstämmigen Seldschuken. Damit begann die Geschichte der Teilung und unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen eines Ost- und Westarmeniens: Ostarmenien, die heute unabhängige Republik Armenien, blieb zunächst unter persischem und seit dem Ende des russisch-persischen Krieges im Jahr 1828 unter russischem Einfluss; Westarmenien, das heutige Ostanatolien, blieb unter der Herrschaft der Turkstämme und wurde schließlich in das um 1300 von Osman I. gegründete Osmanische Reich integriert.
Die Eroberung Armeniens durch die Seldschuken bezeichnet gleichsam auch den Beginn der weltweiten Zerstreuung, der Diaspora der Armenier. Weit verzweigt in Europa und über Europa hinaus entstanden Diasporagemeinden: Lemberg, Amsterdam, Venedig, Rom, Marseille, Konstantinopel, Moskau, Tiflis oder Nor Djugha (Isfahan), Madras und Kalkutta. Am Anfang der Geschichte der armenischen Diaspora steht allerdings die Gründung eines Königtums in Kilikien, mit Königssitz in Sis, im Jahr 1080, das für dreihundert Jahre einer außergewöhnlich reichen kulturellen Blüte Raum gab. Die Eroberung des Königreichs Kilikien im Jahr 1375 bezeichnete schließlich das Ende der Geschichte eines Armeniens als territorialer und politischer Einheit.
Trotz dieser Entwicklungen blieben die Armenier in den Gebieten ihrer ehemaligen Königreiche und Fürstentümer bis zum Völkermord des Jahres 1915
weiterhin eine große Bevölkerungsgruppe, in einigen Regionen stellten sie sogar die relative Bevölkerungsmehrheit.
Nach einem ersten, zwischen 1844 und 1867 erhobenen offiziellen Zensus der osmanischen Regierung lebten zu dieser Zeit etwa 2,4 Millionen Armenier im Osmanischen Reich.
Die Angaben über die Stärke der einzelnen Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg variieren deutlich: Der offizielle Zensus der osmanischen Regierung im Jahr 1914 nannte, bei einer Gesamtgröße der Bevölkerung des Osmanischen Reichs von ca. 20 Millionen Menschen, 13,4 Millionen Muslime – für sie wurde anders als für die nicht-muslimischen Gemeinschaften, keine ethnische Unterscheidung vorgenommen – und 1.225.422 Armenier.
Die armenische Gemeinschaft im Osmanischen Reich
Mit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 hatte sich die osmanische Herrschaft über Kleinasien endgültig konsolidiert. Unter der Herrschaft der Osmanen wurde eine auf den islamischen Rechtsvorstellungen der Scharia basierende Gesellschaftsordnung etabliert, das sogenannte "Millet-System" (von arab. milla = Religionsgemeinschaft). Das Millet-System definierte und regelte die rechtliche Stellung von nicht-muslimischen Gemeinschaften, wobei der Millet-Status nur den sogenannten "Religionen des Buches", dem Judentum und Christentum, zuerkannt wurde. Geprägt war dieses System von einer grundlegenden Nicht-Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Besonders drastische Auswirkungen hatte dies im rechtlichen Bereich, da etwa die Zeugenschaft von Nicht-Muslimen gegenüber Muslimen vor Gericht nicht anerkannt war. Außerdem war es Nicht-Muslimen im Gegensatz zu Muslimen nicht erlaubt Waffen zu tragen. Bei dieser, in der Forschungsliteratur häufig als Toleranzsystem beschriebenen Gesellschaftsordnung, die den nicht-muslimischen Gemeinschaften tatsächlich ein Überleben und eine Fortexistenz ermöglichte, handelte es sich insgesamt um ein System der Über- und Unterordnung, das für die Nicht-Muslime mit Stigmatisierungen und Demütigungen einherging.
Die Armenier im Osmanischen Reich, die um 1460 mit der Einrichtung des armenischen Patriarchats von Konstantinopel (Istanbul) unter dem osmanischen Sultan Mehmet II. (1432-1481) den Status eines Millets erhalten hatten, galten dabei lange als das millet-i sadika, als das treue Millet. Zahlreiche Armenier genossen das Vertrauen des Sultans und standen in seinen Diensten. So gehörten viele einflussreiche Bankiers der Sultansfamilie zur armenischen Oberschicht. Auch als Architekten von Moscheen und öffentlichen Bauten für den osmanischen Sultan gelangten Armenier zu gesellschaftlichem Ansehen. Zu nennen ist hier vor allem die Balyan-Familie, deren zahlreiche Gebäude – darunter auch der Dolmabahçe-Palast, seit Mitte des 19. Jahrhunderts Residenz der Sultane – bis heute das Stadtbild Istanbuls prägen.
Eine Entwicklung der armenischen Gemeinschaft selbst konnte unter den Restriktionen des millet-Systems nur bedingt stattfinden. Die armenische Landbevölkerung in den Provinzen des Osmanischen Reichs war sowohl der Gewalt kurdischer Clans als auch der Willkür von Großpächtern ausgesetzt, denen das Land zu Verwaltung anvertraut war.
Als im Jahr 1839 vor dem Hintergrund der außen- und innenpolitischen Krise des Reichs umfassende Reformen angestrebt wurden (Tanzimat = "Neuordnung"), gehörte dazu auch das Versprechen einer Gleichstellung der Nicht-Muslime mit den Muslimen. Damit begann eine Periode der Aufklärung für die armenische Gemeinschaft, armenisch Sarthong ("Erwachen"), die den Zeitraum zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und der
Dieses kulturelle Erwachen führte auch dazu, dass Armenier große Bedeutung für die Kultur und Künste im Osmanischen Reich gewannen und zu den Pionieren einer Modernisierung in den Bereichen der Musik, der bildenden Künste und Fotografie, aber auch im Bereich des Theaterwesens gehörten. So wurde das erste gewerbliche Theater im Osmanischen Reich, das 1861 eröffnete Arevelyan Thatron (Orientalisches Theater), von dem Armenier Güllü Agop gegründet. Um den Bereich der Musik und Musiktheorie hat sich etwa Hampartsoum Limondjian (1768-1839) verdient gemacht. Neben seiner Leistung als Komponist von armenischer Sakralmusik entwickelte er ein System zur Notation für armenische und klassische osmanische Musik.
Mit diesem Prozess ging auch ein politischer Aufbruch einher, der zuvorderst auf eine Modernisierung der traditionell religiös geprägten Gemeinschaft zielte. So erarbeiteten die Armenier ein Gemeindestatut, das eine säkulare Reformierung der Gemeindestrukturen einleiten sollte. 1863 wurde sogar eine sogenannte "Nationalversammlung" innerhalb der kirchlichen Millet-Strukturen errichtet.
Vor dem Hintergrund einer sich zusehends verschlechternden Situation in den armenischen Siedlungsgebieten wurden schließlich aber auch Forderungen nach politischer Partizipation und nach Schutz der Gemeinschaft vor Willkür und Übergriffen durch die muslimische Bevölkerung formuliert. Getragen wurden diese Forderungen dabei zuvorderst von sozialistisch orientierten Parteien, die von Armeniern in Genf und Tiflis gegründet worden waren. Die gegen die Gewaltherrschaft Sultan Abdülhamids II. gerichtete Zusammenarbeit dieser Gruppierungen mit der jungtürkischen Opposition, von der man sich dann nach der Revolution im Jahr 1908 Emanzipation und Reformen erhoffte, sollte sich jedoch als Enttäuschung erweisen.
Nach dem Völkermord
Dieser kulturelle, gesellschaftliche und politische Aufbruch wurde in den Jahren 1915/16 durch den Völkermord, dem Schätzungen zufolge zwischen 800.000 und über 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen, radikal beendet.
Nach dem Völkermord befand sich die Gemeinschaft der Überlebenden in einer prekären Situation, denn die Verfolgung der Armenier setzte sich auch nach 1916 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und darüber hinaus in den anschließenden "Türkischen Befreiungskriegen" fort bis zur
Insgesamt lässt sich die von der Republik Türkei seit 1923 gegenüber ihrer armenischen Bevölkerungsgruppe wie auch anderer nicht-muslimischer Gemeinschaften verfolgten Politik dahingehend charakterisieren, dass sie nicht auf eine Stärkung der Gemeinschaft gerichtet war, sondern eher auf eine weitere Schwächung, insbesondere auf eine Schwächung der Bildungseinrichtungen und Institutionen der Gemeinschaft sowie der Wirtschaftskraft ihrer Mitglieder. Ein Rahmen dieser Politik wurde bereits auf dem Wirtschaftskongress des Jahres 1923 in Izmir (İzmir İktisat Kongresi) gelegt. Hier wurde eine Direktive für die Wirtschaftspolitik der neu gegründeten Republik beschlossen, die explizit auf eine Stärkung türkischer Unternehmer und einen darauf abgestellten Kapitaltransfer zielte. Damit war die Grundlage für die Einführung rigoroser Sondersteuern geschaffen, von denen die nicht-muslimischen Bürger, in türkischen Statistiken als içimizdeki yabancılar (Innere Fremde) geführt, in besonderer Weise getroffen wurden. Begründet mit einem möglichen Eintritt der Türkei in den Zweiten Weltkrieg wurde im Jahr 1942 etwa eine Vermögenssteuer, Varlık Vergisi, für Unternehmer und Geschäftsleute eingeführt, die verheerende Auswirkungen für die nicht-muslimischen Bürger der Türkei hatte. Denn während die Besteuerung der muslimischen Bürger in der Praxis bei einem Satz von fünf Prozent lag, lagen die Besteuerungsquoten bei Nicht-Muslimen um das zehn- bis fünfzehnfache höher. Bis zur Wiederabschaffung dieser Steuer im Jahr 1944 hatten viele Nicht-Muslime ihr gesamtes Vermögen an die Staatskasse verloren – oder waren bei Zahlungsunfähigkeit in Arbeitslager verschickt worden.
Im Jahr 2007 restauriert und als Museum wiedereröffnet: Die armenische Kirche zum Heiligen Kreuz auf der Insel Akdamar im Vansee aus dem 10. Jahrhundert. (© picture alliance / Tuul/Robert Harding)
Im Jahr 2007 restauriert und als Museum wiedereröffnet: Die armenische Kirche zum Heiligen Kreuz auf der Insel Akdamar im Vansee aus dem 10. Jahrhundert. (© picture alliance / Tuul/Robert Harding)
Eine Fortsetzung fand diese Politik nicht zuletzt auch in den Plünderungen vom 5./6. September 1955 während der
In jüngerer Zeit hat diese Politik, die zu weitreichenden Einschränkungen für die armenische Gemeinschaft geführt hatte, allerdings Veränderungen erfahren. So sind einige der enteigneten Stiftungsgüter an die armenische Gemeinschaft zurückgegeben worden. Von symbolischer Wirkkraft war die Restaurierung der im 10. Jahrhundert erbauten armenischen Kirche zum Heiligen Kreuz auf der Insel Akhtamar (im Türkischen: Akdamar) im Vansee. Zudem werden die oben angeführten, lange Zeit in der Türkei tabuisierten diskriminierenden Maßnahmen gegen die nicht-muslimischen Gemeinschaften heute zunehmend in Medien und Öffentlichkeit thematisiert. Dies gilt auch für die Gewaltpolitik der Jahre 1915/16 gegen die Armenier, die in jüngster Zeit, auch wenn von offizieller Seite weiterhin die Qualifizierung als Genozid tabuisiert und eine Vernichtungsabsicht bestritten wird, zu einem vieldiskutierten Thema in der Türkei geworden ist.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan empfängt den stellvertretenden armenischen Patriarchen, Erzbischof Aram Ateşyan. Patriarch Mesrob Mutafyan hat sich krankheitsbedingt aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. (© picture alliance/AA )
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan empfängt den stellvertretenden armenischen Patriarchen, Erzbischof Aram Ateşyan. Patriarch Mesrob Mutafyan hat sich krankheitsbedingt aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. (© picture alliance/AA )
Heute leben ca. 70.000 Armenier in der Türkei, fast ausschließlich in Istanbul. Zudem gibt es dort noch ca. 3.000 katholische Armenier und eine noch geringere Anzahl protestantischer Armenier. In Istanbul besteht weiterhin das armenische Patriarchat mit dem höchsten Repräsentanten der Gemeinschaft in der Türkei. Die Gemeinschaft in Istanbul ist heute trotz aller Einschränkungen gut organisiert und verfügt über eine Infrastruktur mit mehr als 30 Kirchen, einem Krankenhaus und sechzehn Schulen, in denen auch die armenische Sprache gelehrt wird. Aufgrund eines Mangels an gut ausgebildeten Lehrern findet die Vermittlung der armenischen Sprache allerdings auf einem nur mangelhaften Niveau statt, so dass Armenisch in der Türkei heute von immer weniger Personen gesprochen wird. Dies wirkt sich auch negativ auf die Absatzahlen der beiden armenischsprachigen Tageszeitungen Jamanak und Marmara aus, während die von Hrant Dink