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Ein unbekanntes Volk? Daten, Fakten und Zahlen | Sinti und Roma in Europa | bpb.de

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Ein unbekanntes Volk? Daten, Fakten und Zahlen Zur Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in Europa

Udo Engbring-Romang

/ 14 Minuten zu lesen

Woher kommen Sinti und Roma? Welche Religion haben sie? Was ist Romanes für eine Sprache? Unser Wissen über das Leben der Sinti und Roma in der Vergangenheit ist sehr begrenzt.

Demonstration von Sinti und Roma am 28. Januar 1983 anlässlich des 50. Jahrestags der Machtergreifung der Nazis vor dem BKA. (© Paula Bulling)

Herkunft

Unser Wissen über das Leben, auch über Einzelheiten der Geschichte der Sinti und Roma in der Vergangenheit ist sehr begrenzt, da es fast keine eigenen Schriftquellen gibt. Fast alle Informationen wurden Jahrhunderte lang von Nicht-Sinti und -Roma gesammelt und weitergegeben, zum Teil aber auch nur abgeschrieben. Vieles liegt hier im Dunkeln.

Seit dem späten 18. beziehungsweise frühen 19. Jahrhundert ist aufgrund linguistischer Studien die Herkunft als gesichert anzusehen. Die Vorfahren der heute in Europa lebenden Roma und Sinti stammen ursprünglich aus Indien beziehungsweise dem heutigen Pakistan. Sie wanderten seit dem 8. bis 10. Jahrhundert über Persien, Kleinasien oder den Kaukasus (Armenien), schließlich im 13. und 14. Jahrhundert über Griechenland und den Balkan nach Mittel-, West- und Nordeuropa; und von dort aus auch nach Amerika. Möglicherweise gab es einen weiteren Migrationsweg über Nordafrika nach Spanien. Die Quellenlage ist hier aber sehr dürftig.

Hintergrund war kein – ihnen lange Zeit unterstellter – Wandertrieb, sondern sie waren oder sie sahen sich durch Kriege, Verfolgung, Vertreibung oder aus wirtschaftlicher Not zu dieser Wanderung gezwungen, die bezogen auf Mitteleuropa über 500 Jahre dauerte.

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Ankunft in Europa

In Europa waren Roma "neue Fremde". Sie unterschieden sich von den Einheimischen im Aussehen, in ihren kulturellen Traditionen und durch die eigene Sprache, durch das Romanes. Sie wurden als "Tartaren" (Norddeutschland, Skandinavien), als "Ägypter" (England, Frankreich), "Böhmen" (Frankreich) oder sehr häufig als "Heiden" bezeichnet. Ab dem 14./15. Jahrhundert werden sie "Cingari" oder "Volk des Pharaos" genannt oder auch "Athinganoi" (= Unberührbare), ins Deutsche übertragen als "Zigeuner". Diese Begrifflichkeit gibt es im Ungarischen, im Rumänischen, in den slawischen Sprachen, aber auch in den romanischen Sprachen.

Die Geschichte der Roma ist regional in Europa sehr unterschiedlich. In Osteuropa wurden sie oft zu Leibeigenen oder gar Sklaven gemacht, in Mitteleuropa dagegen wurden die Sinti als Teilgruppe der Roma Ende des 15. Jahrhunderts zu Vogelfreien (Rechtlosen) erklärt, die sich der Gruppe der Fahrenden anschließen mussten und diesen bald den Namen gaben: "Zigeuner".

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Bezeichnung

Roma gilt als der allgemeine Sammelbegriff für die außerhalb des deutschen Sprachraums lebenden Gruppen; in Deutschland wird er überwiegend für die Gruppen im südosteuropäischen Raum gebraucht. Lange Zeit wurde der Begriff "Zigeuner" benutzt, der eine Fremdbezeichnung ist und von vielen Sinti und Roma als beleidigend oder herabsetzend empfunden wird.

Sinti (Einzahl, männlich: Sinto; Einzahl, weiblich: Sintez(z)a) und Roma (Einzahl, männlich: Rom, auch Ehemann oder Mensch; Einzahl, weiblich: Romni) sind die Bezeichnungen von im gesamten Europa lebenden Minderheitengruppen. Die Bezeichnung Sinti für die mitteleuropäischen Gruppen leitet sich möglicherweise von der Region Sindh (Indus) ab.

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Romanes – die Sprache der Roma und Sinti

Das Romanes, die Sprache der Roma und Sinti, ist mit dem indischen Sanskrit verwandt. Romanes hat im Laufe der Jahrhunderte und aufgrund der Wanderwege beziehungsweise der jeweiligen heutigen Heimatregionen unterschiedliche Dialekte entwickelt, sodass man zum Beispiel von einem "deutschen Romanes" oder einem "ungarischen Romanes" spricht. Einige Roma-Gruppen haben im Verlauf der langen Geschichte, vor allem der Ausgrenzung und der versuchten Zwangsassimilierung, ihre Sprache verloren.

Romanes ist vor allem eine mündliche Sprache. In verschiedenen Regionen Europas gab und gibt es Projekte und Vorhaben, Romanes zu verschriftlichen oder auch zu vereinheitlichen, nicht immer unter Beteiligung der Betroffenen. Größere Projekte gab es unter anderem in der frühen Sowjetunion, in Polen und auch in Deutschland.

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Kultur

Über die Kultur der Roma und Sinti gibt es viele Informationen von Ethnologen und Soziologen, die vielfach zur Verfestigung von "Zigeuner"-Bildern beigetragen oder sogar Verfolgungen vorbereitet haben, sei es im Zeitalter von Renaissance und Humanismus (Sebastian Münster), während der Zeit der Aufklärung (Moritz Grellmann) oder sei es während des Nationalsozialismus durch selbsternannte "Zigeunerexperten".

Das Misstrauen gegenüber den Wissenschaften, etwas über sich und ihre Gruppen preiszugeben, ist bei Roma und Sinti deshalb sehr groß.

Eigene Äußerungen bezeugen vor allem eine große kulturelle Heterogenität oder Vielfalt zwischen Roma-Gruppen in Russland, Sinti in Deutschland oder Roma in Spanien. Gemeinsam ist die Wertschätzung der Familie und Verwandtschaft über die Kernfamilien hinaus, der Respekt vor den Älteren, der Gebrauch der eigenen Sprache und nicht zuletzt auch das Bewusstsein der langen Diskriminierung und das Wissen um den nationalsozialistischen Völkermord. Bezeichnet Kultur mehr als Traditionen und Lebensauffassungen, so treten Roma und Sinti seit Jahrhunderten in der Öffentlichkeit auf, unter anderen durch eine eigenständige Musik, die auch in der klassischen Musik, zum Beispiel bei Franz Liszt, oder auch im Jazz einen sehr eigenen Ausdruck gefunden hat, so bei Django Reinhardt, der eine neue Stilrichtung des Jazz geprägt hat, und bei seinen vielen Nachfolgern.

Einen besonderen Stellenwert nimmt die Erzählkunst ein, die sowohl in den Gemeinschaften als auch nach außen wirkt. Seit einiger Zeit gibt es Literatur, zumeist aber in der jeweiligen Landessprache verfasst und nicht in Romanes, und Beispiele in der bildenden Kunst. Dies zeigt ein sich stärker entwickelndes Selbstbewusstsein, nicht zuletzt von jungen Sinti und Roma.

Religion

Eine eigene Religion haben Roma und Sinti nicht. Sie sind Mitglieder verschiedener Religionen oder auch Konfessionen, vielfach sind sie Moslems oder Orthodoxe im europäischen Südosten, Katholiken und Protestanten in Mitteleuropa und auch Mitglieder von Freikirchen überall in der Welt.

Jahrhundertelang waren Roma und Sinti als "Heiden" bezeichnet worden, obwohl – wie es in den Quellen seit dem 16. Jahrhundert heißt – sie unter den Christen ihre Kinder taufen ließen, denn Christen waren unabhängig von der jeweiligen Konfession. Im Gemeindeleben spielten Roma und Sinti in der Regel keine Rolle; sie wurden von den Kirchen vielfach überhaupt nicht wahrgenommen und wenn, dann eher als Störfaktor.

Seit dem späten 19. Jahrhundert gibt es verstärkt Versuche, Roma und Sinti als eigenständige Gruppen in den Kirchen und bei der Seelsorge zu betreuen, so zum Beispiel bei der Seelsorge für Roma und Sinti der deutschen Bischofskonferenz.

Die Kirchen und die Sinti und Roma

Die Geschichte begann mit einem Missverständnis. Als Roma und Sinti Ende des 14., zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Mitteleuropa ankamen, wurden sie als Pilger angesehen. Entsprechend statteten Könige und Fürsten sie mit Geleitbriefen aus, die es ihnen erlaubten, von Landschaft zu Landschaft zu ziehen, auf Unterstützung vertrauend, aber immer vor dem Hintergrund, dass sie wieder zurückgehen würden. Sie blieben, das Wohlwollen schwand und wurde durch Ablehnung ersetzt. Aus den Roma und Sinti wurden "Zigeuner", aus der Sicht der europäischen Christenheit "Heiden".

Wenn sie als Heiden betrachtet wurden, so heißt es nicht, dass massive Anstrengungen unternommen wurden, um sie zum christlichen Glauben zu bringen. Martin Luther erwähnte "Zigeuner" an einigen Stellen. Dass er vorschlug, Juden "wie die Zigeuner" zu behandeln, zeigt, dass er sie als verfolgte Gruppe wahrnahm, zeigt aber auch, dass er die Verfolgung akzeptierte und den Juden als Nichtchristen eine ähnliche Behandlung androhte. Ihm folgten die protestantischen Fürsten in Mitteleuropa. Etwa gleichzeitig bestimmten die Katholiken auf dem Konzil von Trient, dass "Zigeuner" innerhalb der Gemeinden nicht geduldet werden sollten. Was in den Jahrhunderten bis ins 20. Jahrhundert in Mitteleuropa folgte, ist weitgehend eine Nichtwahrnehmung durch die christlichen Kirchen. Sinti und Roma wurden von den Kirchen entweder ignoriert oder halbherzig als Ziel von Missionsversuchen wahrgenommen.

Im nationalsozialistischen Deutschland bekamen die Kirchen und ihre Geistlichen von den Machthabern die Aufgaben, alte Kirchenbücher nach "Zigeunern" zu durchforsten. Die "Zigeuner"-Meldungen sollten die genealogischen Tafeln der Rassenforscher ergänzen und Auskunft geben über den Grad der sogenannten "Zigeunerherkunft". Diese kirchlichen Informationen halfen bei der Zusammenstellung der Deportationen in die Vernichtungslager. Es gab kaum kirchlichen Widerstand. Nur wenige Geistliche verweigerten die Mitarbeit.

Selbst während der ihnen bekannten Deportationen im Jahre 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz konnten sich die deutschen Bischöfe nicht zum Versuch der Rettung ihrer katholischen Mitglieder entscheiden. Von einem Protest protestantischer Geistlicher ist nichts bekannt – vielleicht auch, weil ungefähr 90 Prozent der Sinti und Roma Katholiken waren. Ein Schuldbekenntnis angesichts des Schweigens während des Nationalsozialismus formulierten Kirchenvertreter sowohl in den evangelischen Kirchen als auch in der katholischen Kirche erst spät.

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Antiziganismus

Antiziganismus ist die Abwehrhaltung der Mehrheitsbevölkerungen gegen Roma und Sinti. Antiziganismus bezeichnet die Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik gegen Sinti und Roma seit dem 15. Jahrhundert. Im Antiziganismus werden Mitglieder der Gruppen der Roma und Sinti pauschalisierend als "fremd", "nomadisch", "müßiggängerisch", "musikalisch" und "frei", "primitiv", "archaisch", "kulturlos" oder "kriminell" und "modernisierungsresistent" kennzeichnet. Wichtig ist, dass es sich um Bilder handelt, die auf Personen und Personengruppen übertragen werden.

Antiziganismus ist eine bis heute in der Gesellschaft durchaus akzeptierte Grundhaltung vieler Menschen gegenüber Sinti und Roma. Diese Grundhaltung macht es unmöglich oder schwierig, die realen Menschen zu erkennen, und sie führt zu massiven Diskriminierungen der Minderheit. Antiziganismus richtet sich gegen eine ethnische Minderheit, der ein solches Verhalten vielfach als unveränderliche Wesensart unterstellt wird. „Der gegenwärtige Antiziganismus“, so der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, „ist mehr ein Produkt der Vergangenheit als der Gegenwart. [… Vorurteile sind mit Krankheiten zu vergleichen. Wenn man weiß, wann und warum sie entstanden sind, weiß man meist auch, wie man sie heilen und beseitigen kann.“

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Nationalsozialismus: Rassismus als Staatsdoktrin

Handabdruck, numeriert und mit Namen versehen. (© Paula Bulling)

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Januar 1933 wurden nicht nur die Juden, sondern auch die Sinti und Roma systematisch entrechtet. Gegenüber den Sinti und Roma konnten die Nationalsozialisten zum Teil an die Gesetzgebung und die Verwaltungspraxis des Kaiserreichs und der Weimarer Republik anknüpfen. In den ersten Jahren der NS-Herrschaft wurden die verschiedenen Ländergesetze gegen Sinti und Roma aber weiter verschärft.

1936 wurden Sinti und Roma in den Nürnberger Gesetzen als "Artfremde" aufgenommen und ihnen wurde die Eheschließung mit "Deutschblütigen" verboten: "Artfremden Blutes sind in Europa regelmäßig nur Juden und Zigeuner", hieß es im offiziellen Kommentar. Seit 1936 begannen einige deutsche Städte Internierungslager für Sinti und Roma einzurichten, so in Berlin, Düsseldorf oder Frankfurt.

Ab 1938/39 wurde ein kriminalpolizeilicher Apparat aufgebaut, der eigens der "Zigeunerbekämpfung" diente. Er erstreckte sich von der "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" in Berlin bis hinunter zu den Ortspolizeibehörden.
Die institutionellen Voraussetzungen für eine reichseinheitliche Unterdrückung der Sinti und Roma waren gegeben.

Systematische Verfolgung

Am 8. Dezember 1938 begründete Heinrich Himmler in seinem Runderlass die weiteren Verfolgungsmaßnahmen gegen die in Deutschland lebenden Sinti und Roma. Himmler verlangte eine "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus".

Mit dem Festsetzungserlass vom 17. Oktober 1939 wurde den Sinti und Roma jede Bewegungsfreiheit genommen. Die Betroffenen wurden an den Orten, an denen sie sich zu den Stichtagen aufhielten, festgesetzt. Familien wurde so auseinandergerissen. Ein Verwandtenbesuch außerhalb des Wohnsitzes musste behördlich beantragt und genehmigt werden. Jede Übertretung der Festsetzung konnte sofort mit der Einweisung in ein Konzentrationslager bestraft werden. Organisierte Vertreibungen von Sinti und Roma hatte es zuerst im Sommer 1938 gegeben, als einige Hunderte Sinti und Roma aus dem deutschen Südwesten – ohne Ziel – nach "Osten" verschoben wurden.

Im Mai 1940 wurden etwa 2.800 Sinti und Roma aus Norddeutschland, dem Rheinland und dem deutschen Südwesten nach Polen deportiert. Dies sollte der Beginn der Deportation aller Sinti und Roma aus Deutschland und Österreich sein. Die Mehrheit der Deportierten wurde im Generalgouvernement, dem besetzten Polen, unter SS-Bewachung in Zwangsarbeiterkolonnen zusammengefasst und zum Bau von Militäreinrichtungen oder KZs genötigt und auch interniert. Die Deportationen wurden nach wenigen Wochen eingestellt. Aber die deutschen Behörden hatten bewiesen, dass sie in der Lage waren, innerhalb kürzester Zeit viele Menschen "geordnet" zu deportieren.

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Der Völkermord

Die Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord ist für viele Roma und Sinti als kollektives Trauma von größter Bedeutung. Im September 1942 wurde der Völkermord beschlossen. Gemäß einem Befehl von Heinrich Himmler vom 16. Dezember 1942 sollten schließlich die Sinti und Roma aus Deutschland und angrenzenden Staaten in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt werden. Mit dem Schnellbrief vom 29. Januar 1943 verfügte das Reichssicherheitshauptamt die Deportation. Seit Ende Februar/Anfang März 1943 wurden Sinti und Roma verhaftet, an Sammelstellen zusammengeführt und dann in Zügen der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert. Doch nicht alle deutschen Sinti und Roma wurden nach Auschwitz deportiert. Sinti und Roma, die mit sogenannten "Deutschblütigen" verheiratet waren, blieben von der Deportation ausgenommen. Sie wurden in der Regel – wie auch die meisten ihrer Kinder – zwischen 1943 und 1945 sterilisiert. Gemäß einem ergänzenden Erlass des Reichsministers des Inneren vom 26. Januar 1943 wurde das Eigentum der nach Auschwitz verschleppten Personen für den deutschen Staat eingezogen.

Im "Zigeunerfamilienlager" in Auschwitz-Birkenau wurden etwa 23.000 Menschen zusammengepfercht. 20.078 der dort registrierten Sinti und Roma wurden ermordet. Von April bis Juli 1944 wurden die noch arbeitsfähigen Sinti und Roma in die KZs Buchenwald, Ravensbrück und Flossenbürg überstellt und dort zur Sklavenarbeit ("Vernichtung durch Arbeit") gezwungen. Insgesamt wurden etwa 70 Prozent aller deutschen Sinti und Roma ermordet.

Die meisten Roma wurden in Südost- und Osteuropa, vor allem in der besetzten Sowjetunion, von Einsatztruppen oder von Mitgliedern der Wehrmacht, zum Teil von Kollaborateuren der mit Deutschland verbündeten Staaten, ermordet. Insgesamt liegt die Opferzahl der europäischen Sinti und Roma bei etwa einer halben Millionen Menschen.

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Sinti und Roma in Deutschland

Zwischen 70.000 bis 150.000 Sinti und Roma leben heute in der Bundesrepublik Deutschland. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, da es keine offiziellen Erhebungen gibt; die Zahlen beruhen auf Schätzungen der verschiedenen Sinti- und Roma-Verbände. Die Sinti sind als Gruppen im 14./15. Jahrhundert nach Mitteleuropa und Deutschland, die Roma im 19. Jahrhundert nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in Ost- und Südosteuropa eingewandert. Weitere Roma-Gruppen sind einmal in den 1960/70er-Jahren als sogenannte Gastarbeiter, vor allem aus dem damaligen Jugoslawien gekommen, zudem oft als Flüchtlinge nach dem Zerfall Jugoslawiens in der 1990er-Jahren und schließlich als EU-Binnenwanderer nach 2004, als die weiteren ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten in die EU aufgenommen wurden.

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Roma im neuen Europa

Europa (© Paula Bulling)

Von den acht bis zwölf Millionen Roma Europas leben die meisten im Osten und Südosten Europas. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaftssysteme verloren Roma eher als andere Menschen ihre Arbeit und gerieten dadurch noch stärker in Armut als große Teile der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung.

Eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) von 2009 bestätigt ältere Untersuchungen, nach denen Roma die am stärksten diskriminierte Gruppe in Europa sind. Etwa die Hälfte der Befragten berichteten von Diskriminierungserfahrungen. Antiziganistische Zuschreibungen, Ressentiments und Vorurteile werden benutzt, um den Ausschluss aus der Gesellschaft zu rechtfertigen.

QuellentextDiskriminierungserfahrungen werden nicht gemeldet

Von den 3 500 in sieben Mitgliedstaaten für die EU-MIDIS-Erhebung befragten Roma haben 1 641 angegeben, sich in den vorangegangenen 12 Monaten diskriminiert gefühlt zu haben, und 1 282 von ihnen haben dies nirgendwo gemeldet.

Quelle: Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), 2009

Die Europäische Union hat selbst die Roma-Frage auf die Tagesordnung gesetzt: Die Verbesserung der Lebensgrundlagen der Roma sei ein Gradmesser für den selbstgestalteten Anspruch auf Humanität. Die Lage vieler Roma in den Staaten der Europäischen Union wie auch außerhalb der EU, zum Beispiel in Serbien, Mazedonien oder im Kosovo, ist äußerst prekär. Armut und soziale Isolation, Chancenlosigkeit und gesellschaftliche Ausgrenzung prägen den Alltag vieler europäischer Roma. Ihre Lebenserwartung ist geringer, da sie kaum Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, viele Roma-Kinder gehen nicht oder unregelmäßig zur Schule oder werden in Sonderschulen abgeschoben.

Neben der schwierigen humanitären Lage werden Sinti und Roma in Ländern wie Ungarn, Italien, Tschechien, aber auch Deutschland immer wieder zur Zielscheibe rassistischer Hetze rechtspopulistischer Gruppierungen bis hin zur gewaltsamen Bedrohung ihres Lebens.

Die Staaten der EU haben 2009 ein Europäisches Forum für die Inklusion der Roma organisiert, das die EU, die nationalen Regierungen, internationale Organisationen und Vertreter der Roma zusammenführen sollte. Nationale Strategien mit dem Zieljahr 2010 wurden von allen Staaten der Europäischen Union verlangt und nur zum Teil geliefert. Der Bericht der Bundesrepublik Deutschland wurde 2011 veröffentlicht.

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Selbstorganisationen und Anerkennung der Roma und Sinti

Seit Beginn der 1970er-Jahre organisierten sich Roma und Sinti weltweit, um gegen Diskriminierung aufzutreten, die Verbrechen des Nationalsozialismus bekannt zu machen, Entschädigungen zu fordern, ihre Rechte und ihre Kultur zu fördern und zu schützen.

In einigen Staaten der Europäischen Union sind die Roma und Sinti als nationale Minderheiten anerkannt und seit 1995 in das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz und zur Förderung nationaler Minderheiten einbezogen. Die konkrete Umsetzung obliegt aber den Einzelstaaten beziehungsweise in der Bundesrepublik Deutschland den Ländern. In Schleswig-Holstein wurden die Sinti und Roma nach Dänen und Friesen in die Landesverfassung aufgenommen 20, in Baden-Württemberg wurde am 28. November 2013 vom Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und dem Landesvorsitzenden Daniel Strauß erstmals in der Bundesrepublik Deutschland ein Staatsvertrag zwischen dem Land und dem Verband Deutscher Sinti und Roma unterzeichnet.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Ruch, Martin: Zur Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen "Zigeunerforschung" von den Anfängen bis 1900. Freiburg 1986; Breger, Claudia: Ortlosigkeit des Fremden. "Zigeunerinnen" und "Zigeuner" in der deutschsprachigen Literatur um 1800. Köln, Weimar 1998 Zum Nationalsozialismus und die Zeit danach: Schmidt-Degenhard, Tobias: Vermessen und Vernichten. Der NS-"Zigeunerforscher" Robert Ritter, Tübingen 2012; Hohmann, Joachim S.: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie. "Zigeunerforschung" im Nationalsozialismus und in Westdeutschland im Zeichen des Rassismus. Frankfurt am Main u. a. 1991

  2. Strauß, Daniel (Hrsg.): Die Sinti/Roma-Erzählkunst im Kontext Europäischer Märchenkultur. Heidelberg 1992

  3. Engbring-Romang, Udo / Solms, Wilhelm (Hrgs.): Die Stellung der Kirchen zu den deutschen Sinti und Roma. Marburg 2007 (Beiträge zur Antiziganismusforschung Band 5), auch zum Folgenden.

  4. Rose, Romani: "... wenn uns die katholische Kirche nicht in ihren Schutz nimmt" Externer Link: www.sintiundroma.de/uploads/media/rose_kath_kirche_01.pdf

  5. Leugers, Antonia: "Die Kirche soll einschreiten." Hilferufe von Sinti und Roma angesichts ihrer Deportation 1943. In: theologie.geschichte, Bd. 8 (2013) Externer Link: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/tg/article/viewArticle/548/587

  6. End, Markus / Herold, Kathrin / Robel, Yvonne: Antiziganistische Zustände: Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster 2011 Kalkuhl Christina / Solms, Wilhelm (Hrsg.): Antiziganismus heute. Seeheim 2005 (Beiträge zur Antiziganismusforschung Band 2) End, Markus: Gutachten Antiziganismus. Marburg 2013, siehe auch Externer Link: https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Gutachten_Antiziganismus_2013.pdf

  7. Wippermann, Wolfgang: "Wie die Zigeuner". Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin 1997
    Solms, Wilhelm: Zigeunerbilder: ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte ; von der frühen Neuzeit bis zur Romantik, Würzburg 2008
    Bogdal, Klaus-Michael: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin 2011

  8. Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage". Göttingen 1996; Beispiel für Regionalgeschichtliche Forschung: Engbring-Romang, Udo: Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950. Frankfurt am Main 2001; Fings, Karola / Opfermann, Ulrich F. (Hrsg.): Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933 - 1945. Paderborn u. a. 2012

  9. Schreiben des Reichsinnenministers vom 3. Januar 1936. Abgedruckt in: Rose, Romani: (Hrsg.): "Den Rauch hatten wir täglich vor Augen ..." Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1998

  10. Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage". Göttingen 1996

  11. Runderlass des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern zur Erfassung der Sinti und Roma, 8. Dezember 1938 abgedruckt bei: Vorbereitung und Durchführung der Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager 1938 bis 1944 auf: Externer Link: www.digam.net/?str=213, siehe dort auch weitere Dokumente. Der Schnellbrief zur Deportation 1943 ist abgedruckt bei: Engbring-Romang, Udo: Verfolgung (s. Anm. 14)

  12. Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische 'Lösung der Zigeunerfrage'. Göttingen 1996

  13. Internetausstellung mit Dokumenten aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg Externer Link: www.digam.net/?str=213

  14. Engbring-Romang, Udo: Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950. Frankfurt am Main 2001

  15. Die in Auschwitz zurückgehaltenen Sinti und Roma wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 ermordet. Eine kleinere Gruppe von jugendlichen Sinti und Roma, die im Juli nach Buchenwald verbracht worden war, dort als "arbeitsunfähig" eingestuft worden war, wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz zur Ermordung zurücktransportiert. Engbring-Romang, Udo: Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950. Frankfurt am Main 2001

  16. Open Society Institute: Monitoring des Minderheitenschutzes in der Europäischen Union: Die Lage der Sinti und Roma in Deutschland. Göttingen 2003

  17. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: Erster Bericht der Reihe: Daten kurz gefasst. Die Roma. 2009 Externer Link: http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/413-EU-MIDIS_ROMA_DE.pdf

  18. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Dokumentation. Antiziganismus in Europa. Erscheinungsformen. Auswirkungen. Gegenstrategien. Stuttgart 2013

  19. bspw. Rose, Romani: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland. Heidelberg 1987

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Udo Engbring-Romang für bpb.de

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Dr. Udo Engbring-Romang ist Historiker und Diplom-Politologe. Er lebt in Marburg und ist als wissenschaftlicher Autor sowie in der Erwachsenenbildung und der Lehrerfortbildung tätig. Sein Spezialgebiet sind die Themen Antiziganismusforschung und die Verfolgung von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus mit einem Schwerpunkt im Bereich der hessischen Regionalgeschichte. Er ist freier Mitarbeiter beim Verband Deutscher Sinti und Roma Landesverband Baden-Württemberg und beim Verband Deutscher Sinti und Roma Landesverband Hessen sowie seit 1998 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Antiziganismusforschung e.V. in Marburg.