Zusammenfassung
Nach jahrelangen Diskussionen hinter den Kulissen hat Russlands Regierung Anfang April 2020 die "Energiestrategie bis 2035" gebilligt. Ihre Verwirklichung soll Russlands Position auf den Weltenergiemärkten festigen und die Versorgung des Binnenmarkts gewährleisten. Fossile Energieträger sollen bis 2035 einen Anteil von über 92 % an der Primärenergieerzeugung und von 84 % an der Binnenversorgung behalten. Nichttraditionelle erneuerbare Energien finden keine Beachtung. Die Energiestrategie unterstützt keine aktive Klimapolitik, sie rechtfertigt eine aggressive Energieaußenpolitik, wie sie von Rosneft-Chef Igor Setschin vorangetrieben wird.
Die vierte Energiestrategie Russlands
Im nachsowjetischen Russland wurde 1995 mit geplanter Laufzeit bis 2010 eine erste Energiestrategie beschlossen. 2003 folgte eine zweite, die bis 2020 berechnet war sowie 2009 eine dritte mit Geltung bis 2030. Eine vierte, bis 2035 konzipierte Energiestrategie legte das Energieministerium nach zweijähriger Vorarbeit 2015 vor. Sie wurde danach mehrfach umformuliert, was auf Meinungsverschiedenheiten der mit ihr befassten Ämter und Interessengruppen hindeutet, die aber nicht öffentlich ausgetragen wurden. Eine letzte Fassung wurde Anfang April 2020 von der Regierung verabschiedet.
Die "Energiestrategie der Russischen Föderation bis 2035" (Externer Link: https://minenergo.gov.ru/node/1920) stützt sich auf Prognosen weltwirtschaftlicher Entwicklungen – vor allem des Ölpreises und der Nachfrage nach Energieträgern auf dem Weltmarkt – und spiegelt gleichzeitig die geschäftlichen Ziele der großen Energieunternehmen der Kohle-, Öl- und Gaswirtschaft wider. In ihr wird ein "niedriges" Szenario, das von relativ niedrigen Wachstumsraten der Weltnachfrage nach Energie ausgeht, von einem "hohen", das mit höherem Wachstum der weltweiten Energienachfrage gleichzeitig die erwünschte Entwicklung repräsentiert, unterschieden. Dabei differieren in beiden Szenarien die für Russland angenommenen Raten des Wirtschaftswachstums kaum und entsprechen mit rund 3 % pro Jahr denen, die in der Wirtschaftsplanung bis 2036 vorgesehen waren – und wahrscheinlich nicht erreicht werden (siehe dazu den
Dem Energiesektor wird die Aufgabe gestellt, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu fördern sowie die Position Russlands auf den Weltenergiemärkten zumindest zu erhalten und womöglich zu stärken. Wie auch schon ihre Vorgänger verlangt die neue Energiestrategie die größtmögliche Ausschöpfung des Exportpotentials der fossilen Energierohstoffe Kohle, Erdöl und Erdgas. Außerdem erläutert sie ausführlich die Versorgung des Inlandsmarkts mit Energie aus "konventionellen" Quellen, womit die fossilen Energieträger sowie die Primärstromerzeugung (also nicht die Elektrizitätsgewinnung in Kohle- und Gaskraftwerken) in Kernkraftwerken und großen Wasserkraftwerken gemeint sind. Die "nichtkonventionellen" Energiequellen – erneuerbare Energien mit Ausnahme der großen Wasserkraftwerke – werden übergangen, ihr Modernisierungspotenzial wird nicht gewürdigt (
Förderung, Binnenverbrauch und Export der fossilen Energieträger
Förderung
Zwischen 1990 und 2000 war als Folge des Niedergangs der Schwer- und Rüstungsindustrie und der niedrigen Nachfrage auf den Weltmärkten die Förderung von Kohle, Erdöl und Erdgas zurückgegangen. Erst nach 2005 konnte das Förderniveau von 1991 wieder erreicht werden (
Die Kohleförderung war zwischen 2000 und 2018 um 70 % angestiegen. Ihr Volumen soll im Jahr 2035 gegenüber 2018 im niedrigen Szenario um 10 %, im hohen Szenario um 52 % steigen (
Auch die Förderung von Erdgas hatte ab 1999 wieder zugenommen, allerdings in weit geringerem Tempo als die Kohleförderung. Erst ab 2017 stieg sie dank der Inbetriebnahme der riesigen Gasfelder auf der Jamal-Halbinsel und der Fertigstellung der zugehörigen Gasfernleitungen und der Anlagen für die Erzeugung von Flüssiggas deutlich an. Je nach Szenario wird sie sich 2035 gegenüber 2018 zwischen 18 und 38 % erhöht haben (
In der Energiestrategie wird im günstigen Szenario eine bis 2035 andauernde Konstanz des Fördervolumens von Erdöl und im ungünstigen Fall dessen Rückgang um 12 % angenommen (
Binnenverbrauch
Russland importiert gegenwärtig und auch zukünftig Kohle, Erdöl und Erdgas sowie Elektrizität im Umfang von 2 – 3 % seines Binnenverbrauchs an Energie. Somit wird der weit überwiegende Anteil des Energieverbrauchs des Landes aus eigener Förderung und Produktion bestritten.
Die Energiestrategie sieht vor, dass Russlands Energiebinnenverbrauch 2035 gegenüber 2018 je nach Szenario entweder um 6 % höher oder um 2 % geringer sein wird, also jährlich im Durchschnitt um 0,3 % pro Jahr steigt oder um 0,1 % sinkt (
Für den Einsatz von Kohle im Inland sieht die Energiestrategie je nach Szenario bis 2035 entweder eine leichte Zunahme oder eine deutliche Abnahme vor, denn Kohle soll im Inland bei der Stromerzeugung möglichst durch Erdgas ersetzt werden, was sie für den Export frei macht. Schweröl und andere Erdölprodukte sollen ebenfalls in deutlich geringerem Umfang als bisher für die Stromproduktion eingesetzt werden. Der Absatz von Motorenbenzin soll wenig, der von Dieseltreibstoff stark ansteigen. Insgesamt soll der Inlandsverbrauch von Treibstoffen und anderen Erdölerzeugnissen sinken, damit Erdöl in konstanter Menge exportiert werden kann (
Während der inländische Erdgasverbrauch zwischen 1999 und 2018 um rund 20 % zugelegt hatte, soll er gemäß Energiestrategie ab 2019 fast gleich bleiben. Da die Energiestrategie auch in Zukunft eine Ausweitung der mit Gas versorgten Gebiete vorsieht, kann die Konstanz der im Inland verbrauchten Gasmenge nur durch einen Anstieg der Effizienz des Gasverbrauchs ermöglicht werden. Dafür müssten unter anderem die kommunalen Strom- und Heizkraftwerke modernisiert und/oder durch dezentrale Systeme ersetzt werden, was die kommunalen Finanzen kaum erlauben dürften (Externer Link: https://monde-diplomatique.de/artikel/!340112).
Der Anteil von Energie aus fossilen Quellen am inländischen Energieverbrauch wird planmäßig seinen 2018 erreichten Wert von rund 85 % bis 2035 beibehalten (
Export
Vom Aufkommen, also der heimischen Förderung einschließlich der Importe, soll in der Volumenrechnung bei Kohle und Erdöl jeweils mehr als die Hälfte, bei Erdgas mehr als ein Drittel exportiert werden, wobei die Exportsteigerungen bei Kohle und Erdgas als sehr hoch eingeschätzt werden (
Eine noch rasantere Exportsteigerung als bei der Kohle sieht die Energiestrategie für Erdgas vor. Insgesamt soll sich der Erdgasexport 2035 gegenüber 2018 je nach Szenario um die Hälfte erhöhen oder sogar verdoppeln, wobei das über Leitungen exportierte Gas um 16 bis 36 % zunehmen und die Menge des per Tanker verschifften Flüssiggases (liquid natural gas, LNG) auf das Vier- bis Siebenfache ansteigen soll. Ab 2020 wird China durch die Pipeline "Kraft Sibiriens" (Sila sibiri ) mit steigenden Gasmengen beliefert, die bis 2035 ein Drittel des gesamten leitungsgebundenen Exports von Gas aus Russland transportieren wird. LNG-Exporte werden wie schon heute überwiegend nach Asien erfolgen; für sie könnte zukünftig die Route durch das Nördliche Eismeer genutzt werden.
Der Export von Erdöl wird den Umfang, den er 2018 erreichte, wegen des begrenzten Exportpotentials (und auch bei hoher Weltnachfrage) nur knapp halten können. Der bislang geringe Export von Treibstoffen soll erheblich ansteigen, der von Schweröl und anderen Erdölprodukten dagegen deutlich abnehmen. Mehr als die Hälfte des Rohöls wird über die Druschba-Ölpipeline sowie per Schiff nach Europa exportiert, der zweitwichtigste Abnehmer ist China, das sowohl über die Ostsibirische Ölleitung (Eastern Siberia–Pacific Ocean oil pipeline , ESPO) als auch per Tanker beliefert wird.
Nichtfossile Energien
Anders als die fossilen Energieträger zielt der Einsatz von Wasserkraft und Kernkraft nicht auf den Export, sondern bis auf geringe Exportmengen nur auf die Inlandsversorgung mit Energie. Die Stromerzeugung der großen Wasserkraftwerke wird, weil die natürlichen Gegebenheiten weitgehend ausgeschöpft sind, nur noch wenig zunehmen können, während Atomstrom zulegen kann, weil weitere Reaktorblöcke in Betrieb genommen werden sollen. Das benötigte Uran stammt aus eigener Förderung und aus Kasachstan.
Während die Energiestrategie für die drei fossilen Energieträger Kohle, Erdgas und Erdöl zwischen 2018 und 2035 einen Anteil von über 92 % der Primärenergie plant (
Worte statt Taten: Russlands Klimapolitik
Russlands CO2-Emissionen hatten 2018 einen Anteil von 4,6 % an den weltweiten CO2-Emissionen gehabt. Das Land stand damit nach China, Indien und den USA an vierter Stelle der größten Emittenten (Externer Link: https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/9d09ccd1-e0dd-11e9-9c4e-01aa75ed71a1/language-en). Die Klimapolitik Russlands ist zweideutig: Zwar bekennt sich die Staatsspitze zu einer Politik, die dem Klimawandel entgegenwirkt, doch macht sie keine Anstrengungen, um diese Politik tatsächlich umzusetzen (Poberezhskaya in den Russland-Analysen 377). Wladimir Putin hatte auf der 70. UNO-Vollversammlung am 28. September 2015 versprochen, dass Russland bis 2030 die Emission von Treibhausgasen auf 70 bis 75 % des Niveaus von 1990 begrenzen werde. Aber erst im September 2019 rang sich die politische Führung dazu durch, dem Pariser Klimaabkommen von 2015 beizutreten und wiederholt seither das von Putin 2015 gesetzte Reduktionsziel, wobei dieses mit Anrechnung der Emissionsminderung durch Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (Land use, land-use change and forestry , LULUCF) erreicht werden soll. Gleichzeitig sind alle Bemühungen, diese Zielvorgabe um konkrete Verpflichtungen zu ergänzen, gescheitert, nachdem der Industrieverband energischen Protest eingelegt hatte (Externer Link: https://www.themoscowtimes.com/2019/10/17/russia-rejects-climate-changeplan-after-business-uproar-a67780). Weil nach der Rechnung mit LULUCF Russlands Emissionen durch den Niedergang der Schwerindustrie 2000 bereits auf 45 % des Werts von 1990 zurückgegangen sind und 2017 bei 51 % lagen, kann das selbstgesteckte Reduktionsziel ohne größere Anstrengungen bis weit in die Zukunft gehalten werden. Die Regierung entledigt sich auf diese Weise weitgehend der Verpflichtung zum Klimaschutz im Sinne der Vorbeugung und kann die Anpassung an den Klimawandel in den Vordergrund aller Überlegungen stellen. Seit 2014, als das Gesetz über die strategische Planung in Kraft trat, wurden zwar zahlreiche Pläne auf den Gebieten der Wirtschafts- und Energiepolitik beschlossen, darunter aber keine, welche die folgenlose Klimadoktrin von 2009 ersetzte (Externer Link: http://kremlin.ru/events/president/news/6365). Stattdessen beschloss die Regierung am 25. Dezember 2019 nur ein Programm für den Schutz vor den Folgen des Klimawandels (Externer Link: government.ru/docs/38739).
Am 23. März 2020 publizierte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung den Entwurf einer "Strategie der langfristigen Entwicklung der Russischen Föderation mit niedrigem Niveau der Treibhausgase bis 2050" (Externer Link: https://economy.gov.ru/material/file/babacbb75d32d90e28d3298582d13a75/proekt_strategii.pdf). Damit kommt das Ministerium der mit dem Beitritt zum Pariser Klimaabkommen übernommenen Verpflichtung zur Vorlage einer entsprechenden Planung nach. Die vorgestellte Strategie berechnet in ihrem "Basisszenario", das die wahrscheinlich durchsetzbaren Maßnahmen zur Energieeinsparung berücksichtigt, bis 2030 einen Anstieg der Emissionen von Treibhausgasen auf 67 % des Niveaus von 1990 und bis 2050 deren Rückgang auf 64 %. Dies bedeutet bis 2030 eine Erhöhung der Emissionen um 32 % gegenüber 2017 (
Taten statt Worte: Setschins Energieaußenpolitik
Russland hatte Ende 2016 zusammen mit den damals 14 OPEC-Mitgliedsstaaten und weiteren neun Ländern (darunter Aserbaidschan und Kasachstan) die Begrenzung der Ölförderung vereinbart, um den niedrigen Ölpreis wieder anzuheben. Zwischen 2017 und 2019 beschloss die sogenannte "OPEC+", auf deren staatseigene Ölunternehmen rund die Hälfte der Welt-Erdölförderung entfällt, weitere Förderkürzungen, die Ende März 2020 ausliefen. Da die privaten US-amerikanischen Ölfirmen an diese Vereinbarung nicht gebunden waren, konnten sie in diesem Zeitraum ihre Ölförderung ungehindert steigern (
Dass sich Setschin mit seinem Anliegen durchsetzen konnte, ist ihm nicht nur wegen seiner Nähe zum Präsidenten gelungen, sondern auch deswegen, weil er in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der herrschenden Kreise Russlands für die nicht durch internationale Abkommen eingeschränkte, maximale Ausbeutung der Energieressourcen des eigenen Landes eintritt. Auch die neue Energiestrategie hat mit der Forderung nach einer führenden Stellung Russlands auf dem Weltenergiemarkt Setschins aggressiver Energieaußenpolitik eine Rechtfertigung geliefert.
Bibliografie
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