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Kommentar: Mögliche Rassendiskriminierung auf der Krim – Ukraine vs. Russland vor dem Internationalen Gerichtshof | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Mögliche Rassendiskriminierung auf der Krim – Ukraine vs. Russland vor dem Internationalen Gerichtshof

Dmytro Koval

/ 6 Minuten zu lesen

Der ukrainische Vorwurf der Rassendiskriminierung auf der Krim wird derzeit vom Internationalen Gerichtshof geprüft. Welche Positionen vertreten die ukrainische und russische Seite im Prozess? Und welche Erwartungen haben die beiden Länder an den Ausgang des Verfahrens?

Im März 2017 verhandelte der Internationale Gerichtshof in Den Haag über den Vorwurf der Ukraine an Russland, rebellische Separtisten zu finanzieren und die Krimtartaren zu diskriminieren. (© picture alliance/AP Photo)

Einführung

Im Fall Ukraine gegen Russland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) geht es um die mutmaßliche Verletzung zweier völkerrechtlicher Verträge durch die Russische Föderation. Eines dieser Abkommen ist das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (internationale Abkürzung: ICERD). Der IGH überprüft, inwiefern es seit 2014 auf der Krim zur Rassendiskriminierung gekommen ist. Die Anhörung hat gerade erst begonnen.

Mit der Klage gegen Russland vor dem IGH will die Ukraine erreichen, dass die auf der Krim lebenden Tataren und Ukrainer Zugang zu Bildung in ihrer Muttersprache haben. Außerdem soll ihnen Vereinigungsfreiheit garantiert werden, ebenso der Schutz vor diskriminierenden Maßnahmen Russlands wie Verschwindenlassen oder Inhaftieren von Menschen.

Eine (zumindest teilweise) positive Entscheidung des IGH würde die Position der Ukraine in Verhandlungen mit ausländischen Partnern über Sanktionen gegen Russland stärken. Sie wäre auch eine solide Basis für den möglichen Beginn von Verhandlungen mit Russland über eine Konfliktlösung und die Rückgabe der Kontrolle über die ukrainischen Gebiete.

Obwohl Russland das Verfahren vor dem IGH nicht angestrebt hat, hat es ebenfalls Erwartungen an den Prozess. Falls der Gerichtshof den ukrainischen Vorwurf der Rassendiskriminierung nicht bestätigen würde, könnte Russland seine Krim-Politik beibehalten. Außerdem würde das die Aufhebung der nach der Krim-Besetzung verhängten Sanktionen wahrscheinlich erleichtern. Die russische Führung könnte dies der eigenen Bevölkerung als Bestätigung ihrer Version der Ereignisse durch die internationale Gemeinschaft präsentieren und so ihr Image verbessern.

Vorteilhaft wäre für Russland auch, wenn der IGH aufgrund unzureichender Zuständigkeit oder einer engen Auslegung der Kernbegriffe des Abkommens den Fall nicht annehmen würde. Stillstand oder eine Entscheidung über die Nichtanwendbarkeit des Abkommens wären für Russland positiv. Eine solche Entscheidung würde wahrscheinlich medial genutzt werden. Ähnlich war es nach der Entscheidung des IGH im Fall Georgien vs. Russland. Damals entschied der IGH, dass es unmöglich sei, den Fall zu prüfen, da Georgien die obligatorische Pflicht zur Vorverhandlung von Verstößen gegen das ICERD vor der Anrufung des Gerichtshofs nicht eingehalten habe. Diese Entscheidung interpretierte Russland als eindeutigen Sieg.

Die ukrainische Argumentation

Die Position der Ukraine in Bezug auf das ICERD stellt sich folgendermaßen dar:

  • Nach Durchführung des nicht anerkannten Referendums auf der Krim am 16. März 2014 habe Russland auf der Halbinsel zu einer Atmosphäre der Intoleranz, die gegen Ukrainer und Tataren auf der Halbinsel gerichtet sei, beigetragen.

  • In dieser Atmosphäre komme es laut Ukraine zu Verfolgungen aus politischen und kulturellen Gründen: Kulturelle Zusammenkünfte würden verboten. Deren Teilnehmer verschwänden und würden körperlich misshandelt. Willkürliche Durchsuchungen und Verhaftungen fänden statt. Die Arbeit der tatarisch- oder ukrainischsprachigen Medien und Bildungseinrichtungen werde eingeschränkt.

  • Die Einschränkungen im Einzelnen: Der Medschlis des Krimtatarischen Volks [das repräsentative Organ der Krimtataren – Anm. d. Red.] sei verboten worden, seiner Führung werde die Einreise verwehrt. Der Unterricht auf Ukrainisch und auf Krimtatarisch werde eingeschränkt. Von mehr als 12.500 Schülern, die im Jahr 2013 Ukrainisch gelernt hätten, seien im Jahr 2016 nur etwa 1.000 übrig geblieben. Vom ukrainischen Bildungsministerium genehmigte Lehrbücher auf Krimtatarisch seien ohne Alternative verboten worden. An tatarischen religiösen Schulen fänden unter dem Vorwand, extremistische Literatur müsse beschlagnahmt werden, Durchsuchungen statt. Krimtataren und Ukrainer seien entführt oder inhaftiert worden, darunter krimtatarische und ukrainische Meinungsführer. Es sei zu Repressionen gegen Medien der ukrainischen und krimtatarischen Community gekommen (zum Beispiel gegen die Zeitung "Krymska switlyzja", das "Zentrum für journalistische Recherchen" und den Fernsehsender "ATR"). Großveranstaltungen an für Ukrainer und Krimtataren wichtigen Tagen seien verboten worden, so am 201. Geburtstag von Taras Schewtschenko, am 70. Jahrestag der Deportation der Krimtataren ("Sürgün") und am Internationalen Tag der Menschenrechte. Ukrainer und Krimtataren seien außerdem von der Krim auf das ukrainische Festland vertrieben worden. Während 2001 noch 243.400 Krimtataren auf der Halbinsel gelebt hätten, seien es 2015 laut Zensus der Russischen Föderation nur noch 42.254 gewesen.

  • Die Klageschrift verweist auf Berichte und Resolutionen regionaler und internationaler Organisationen, um die Objektivität der ukrainischen Vorwürfe zu untermauern. Diese Berichte dokumentieren im Grunde die Fakten, die die Ukraine in ihrer Klageschrift nennt.

  • Die Ukraine sieht in der Einschränkung der Rechte von Ukrainern und Krimtataren einen Verstoß gegen Artikel 2 bis 5 des ICERD. Diese Artikel verpflichten Staaten dazu, Rassendiskriminierung zu verurteilen und zu verhindern, die Anstiftung zu Rassendiskriminierung durch Staatsvertreter zu verbieten und grundlegende Menschenrechte zu gewährleisten.

Die russische Sicht

Auf die in der Klageschrift der Ukraine angeführten Argumente reagierte Russland mit einer eigenen Darstellung. Die russische Seite versuchte zu zeigen, dass sich die Situation auf der Halbinsel seit dem von der Ukraine als "Beginn der Okkupation" bezeichneten Zeitpunkt kaum verändert habe und dass es keine Diskriminierung von Ukrainern und Krimtataren gebe.

Außerdem warf Russland der Ukraine Verfahrensverstöße bei der Initiierung des Prozesses vor und stellte damit die Zulässigkeit des Verfahrens in Frage. Die russische Seite argumentierte, die Ukraine wolle durch die Anrufung des IGH Russlands Souveränität über die Krim in Frage stellen – statt Russland für Verstöße gegen das ICERD zur Verantwortung zu ziehen. Fälle, die die territoriale Zugehörigkeit der Krim betreffen, können ohne das beidseitige Einverständnis Russlands und der Ukraine vor dem IGH nicht verhandelt werden. So sollte das Gericht zu einer skeptischen Haltung gegenüber der ukrainischen Position gebracht werden.

Das Team von Rechtsanwälten, das Russlands vertritt, brachte dazu folgende Argumentation vor:

  • Die Ukraine habe vor 2014 die krimtatarische Bevölkerung auf der Halbinsel jahrzehntelang diskriminiert. Entgegen den ukrainischen Angaben würden nach 2014 mehr als 277.000 Krimtataren und 345.000 Ukrainer auf der Krim leben. Dass sich die Zahlen so deutlich unterscheiden, liege daran, dass die Ukraine die Daten aus dem russischen Zensus falsch zitiert habe: Während sich Russland auf die Gesamtzahl der Krimtataren beziehe, habe die Ukraine die Zahl derjenigen Tataren genannt, deren Muttersprache nicht Krimtatarisch sei. Ergänzt wurden diese Ausführungen durch Informationen über die im Innenministerium der Krim, der Staatsanwaltschaft und in den Schulen tätigen Ukrainer und Krimtataren.

  • Der Gerichtshof könne Resolutionen und Berichte internationaler Organisationen nicht als unparteiische Stellungnahmen werten, denn diese Organisationen würden die Krim nicht als Teil Russlands anerkennen.

  • Der Medschlis des Krimtatarischen Volkes sei nicht das einzige repräsentative Organ der Krimtataren. Es gebe andere Organe, die die "Änderung des Status der Krim" unterstützen würden, wie etwa das Taurische Muftiat. Der Medschlis hingegen sei eine reaktionäre, nicht registrierte Organisation und eine Gefahr für den Staat.

  • Trotz der Behauptung der Ukraine, die Rechte ihrer Bürger auf der Krim vor Rassendiskriminierung schützen zu wollen, habe die Ukraine nach dem dritten bilateralen Treffen weitere Verhandlungen abgelehnt. Für die Sitzungen selbst habe die Ukraine jeweils nur einige Stunden Zeit eingeräumt. Die Ukraine habe sich auch nicht an den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung gewandt, was darauf hindeute, dass sie kein Interesse habe, die Streitigkeit außergerichtlich beizulegen.

  • Ein Diskriminierungsmotiv, welches für die Feststellung von Rassendiskriminierung notwendig ist, sei nicht vorhanden. Die Haltung gegenüber der ukrainischen und krimtatarischen Bevölkerung unterscheide sich nicht von der Haltung gegenüber der russischen.

Erste Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes

Der IGH folgte im Wesentlichen bisher der Argumentation der Ukraine in Bezug auf das ICERD. Das Gericht ordnete im April 2017 einstweilige Maßnahmen an. Russland wurde verpflichtet, die Einschränkung gegenüber den krimtatarischen Organisationen (einschließlich gegenüber dem Medschlis), einzustellen und den Zugang zu Unterricht auf Ukrainisch zu gewährleisten. Im Falle eines Verstoßes gegen die einstweiligen Maßnahmen hat die Ukraine ein Recht auf Reparationen. (Außerdem würde in der finalen Entscheidung des IGH auf Verstöße Russlands gegen die Anordnung einstweiliger Maßnahmen hingewiesen werden, was der Ukraine eine Art Genugtuung verschaffen würde.) Es gibt jedoch weder für den IGH noch für die Ukraine ein probates Mittel zur Durchsetzung der einstweiligen Maßnahmen.

Bisher hat Russland der ukrainischen Regierung und Nichtregierungsorganisationen zufolge die beiden ihr vom IGH auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt. Die Ukraine hat deshalb fristgerecht eine Klageschrift eingereicht. Darin werden dem IGH die den Fall betreffenden Beweise und deren juristische Auslegung dargelegt. Russland brachte Einwände gegen die Zuständigkeit des IGH und die Zulässigkeit des Verfahrens vor. Am 14. Januar 2019 legte die Ukraine gegen die Infragestellung der Zulässigkeit Einspruch ein.

Das weitere Verfahren für die Anhörung sollte in naher Zukunft vom Gerichtshof festgelegt werden. Sicher kann man zurzeit nur sagen, dass der Prozess eine Sache von Jahren, nicht von Monaten sein wird.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines

Fussnoten

Dmytro Koval ist Dozent am Lehrstuhl für Völker- und Europarecht der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie. 2014 promovierte er im Fach Rechtswissenschaften an der Nationalen Juristischen Akademie Odessa. Seit 2018 ist er als Programmkoordinator und Rechtsberater für Democracy Reporting International tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Humanitäres Völkerrecht, Internationales Strafrecht und Menschenrechte.