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Analyse: Die Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Justiz in Polen

Marta Bucholc Maciej Komornik Universität Bonn Universität Bonn und Universität Warschau und Maciej Komornik Marta Bucholc

/ 18 Minuten zu lesen

Zwar befindet sich Polen auf dem vom World Justice Project erstellten Ranking zur Lage der Rechtsstaatlichkeit vor anderen EU-Mitgliedsstaaten, die Beschränkung der Judikative durch die Exekutive ist dennoch besorgniserregend. Die Rechtslage bleibt auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Unabhängigkeit der Gerichte chaotisch.

Auf einer Demonstration gegen die Justizreform in Danzig wird ein Protestplakat hochgehalten. Am 18. Dezember 2019 sind in über 180 polnischen Städten Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den Vorschlag der PiS, das Verfassungstribunal der regierenden Partei unterzuordnen, zu protestieren. (© picture alliance/NurPhoto)

Zusammenfassung

Seit die national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) im Jahr 2015 in Polen die Regierungsverantwortung übernommen hat, ist die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen von verstärktem Interesses für die internationale öffentliche Meinung. Die Krise, die infolge des Konfliktes zwischen der Regierung und dem Verfassungstribunal hervorgerufen wurde und die gleich nach den Parlamentswahlen im Herbst 2015 einsetzte, erwies sich dabei nur als erster Akt in diesem Drama. In ihrer ersten Regierungsperiode hat die PiS, die in beiden Parlamentskammern (Sejm und Senat) die Mehrheit sowie die Unterstützung des von ihr nominierten Präsidenten hatte, ab 2017 mit einer sogenannten Justizreform begonnen, deren beabsichtigte Folge eine weit reichende Unterordnung der Judikative unter die Exekutive war. Diese Aktivitäten mit dem Ziel, die richterliche Unabhängigkeit einzuschränken, werden auch nach den Parlamentswahlen 2019 fortgesetzt, bei denen die PiS erneut die absolute Mehrheit im Sejm erhielt, allerdings die Mehrheit im Senat verlor. Trotz Protesten im Land und Maßnahmen von Seiten der Europäischen Union gibt es weitere Signale, dass sich die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen systematisch verschlechtert.

Die Bewertung der Lage der Rechtsstaatlichkeit

Internationale Rankings, die auf quantitativen Erhebungen basieren, haben den grundsätzlichen Nachteil, dass hier Dinge schnell vergleichbar zu sein scheinen, die in ihrem Wesen aber nicht vergleichbar sind. Dem Rule of Law Index, erstellt vom World Justice Project, kann man die meisten der Mankos internationaler Rankings nicht vorwerfen. Er illustriert die Lage der Rechtsstaatlichkeit in 126 Ländern. Im Jahr 2019 wurde Polen auf Rang 27 (von 126) platziert. Unter den EU-Mitgliedern befand sich Polen vor Italien (28), Rumänien (31), Griechenland (36), Kroatien (42), Bulgarien (54) und Ungarn (57). In der Gruppe der EU, der EFTA (Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz) und Nordamerikas fiel Polen um zwei Plätze von Rang 16 im Jahr 2018 auf Rang 18. Bei den acht Indikatoren, die der Index umfasst, verzeichnete Polen besonders niedrige Werte bei dem Punkt Constraints on Government Powers. Dieser Indikator berücksichtigt u. a. die Unabhängigkeit der Justiz, die Wirksamkeit unabhängiger Audits und Kontrollen, Sanktionen gegenüber Beamten bei Rechtsverletzungen und die Wirksamkeit der von unabhängigen Medien ausgeübten Kontrolle. Würde nur dieser Indikator berücksichtigt, befände sich Polen weltweit auf Platz 50; ein schlechteres Ergebnis unter den EU-Mitgliedsstaaten würden in dieser Kategorie nur Kroatien, Bulgarien und Ungarn verzeichnen. Im Zusammenhang mit der Rolle der Medien sei darauf hingewiesen, dass Polen im Ranking von Freedom House zwar zu den freien Ländern gezählt wird (anders als Ungarn, das nur "teilweise frei" ist), aber was die Freiheit der Medien betrifft, rutschte es bereits im Jahr 2017 in die Kategorie "teilweise frei", was bedeutet, dass die Medien nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, ihre Funktion als Kritiker der Regierung auszuüben.

Sowohl die Berichte des World Justice Project als auch von Freedom House geben Anlass zur Sorge um das Schicksal der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit nicht nur in Polen. Sich der Bewertungen dieser Rankings zu bedienen, kann man natürlich als ein weiteres Beispiel für die "Osteuropaschelte" auffassen, einer moralistischen Kampagne gegen Ost(mittel)europa, die von den Ländern Westeuropas aus einer Position der Überlegenheit geführt wird. Die Situation in Polen ist allerdings insofern eine besondere, als der Indikator für das Ausmaß der Beschränkungen der Exekutive von den anderen Indikatoren für Rechtsstaatlichkeit abweicht. Die geringen Beschränkungen, mit denen die Regierenden rechnen müssen, führen wiederum zu der Frage nach den Ursachen, warum sich Polen immer weiter vom Rechtsstaat entfernt, dessen Wesen ja die Beschränkung und Kontrolle der Regierenden ist.

Der ideologische Hintergrund des Konfliktes

Die Übernahme der Regierungsverantwortung durch die PiS im Jahr 2015 bedeutete eine radikale ideologische Wendung. Unter den aktuell in Polen tätigen Parteien, die den Verlauf und die Folgen der Systemtransformation von 1989 in Frage stellen, ist die PiS die wichtigste. Das liberale Transformationsprojekt, das mit hohen und in manchen Regionen wirklich sehr hohen sozialen Kosten einherging, wurde bereits in den 1990er Jahren kritisiert. Auch die Kompromisslösungen für typische Probleme der Justiz in dieser Übergangsphase, das heißt die Abrechnung mit der Zeit des Sozialismus und den damaligen politischen Eliten, wurden von einem deutlichen Teil der antikommunistischen Opposition keinesfalls mit Begeisterung aufgenommen. Polen hat ein relativ wenig restriktives Modell der Überprüfung (poln. lustracja) eingeführt: Weder die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei und noch nicht einmal die Ausübung wichtiger öffentlicher Funktionen vor 1989 wurden zu einem Hindernis für die weitere politische, juristische, akademische oder militärische Karriere. Die Verfolgung kommunistischer Verbrechen nach 1989 bewerteten viele andere Kreise der ehemaligen Opposition jedoch als nicht streng genug. Die antikommunistische Opposition der Volksrepublik hatte sich in Fraktionen gespalten, zum einen in einen liberaleren Flügel, der politische Kompromisse bei der Systemtransformation befürwortete, und zum anderen in eine national-konservative Fraktion, die gegen das liberale Reformszenario in Polen argumentierte. Die Beteiligung postkommunistischer Milieus bei der Gestaltung der neuen Ordnung im Rahmen der Verhandlungen am Runden Tisch 1989 und bei den folgenden demokratisch gebildeten Regierungen waren für die national-konservativen Kräfte die Grundlage dafür, die moralische Rechtmäßigkeit des demokratischen Systems in Frage zu stellen, dessen rechtlicher Ausdruck die Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997 war.

Die Kritik am Erbe der Transformation von 1989 gehört heute zu den Grundlagen des politischen Programms der PiS. Dieses Programm richtet sich gegen die Relikte des Postkommunismus in Polen, obgleich der politische Hauptgegner der PiS die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) war und ist, eine konservativ-liberale Partei, die aus den liberalen Kreisen der antikommunistischen Opposition hervorgegangen war.

Die Änderung der Verfassung gehört zu den festen Punkten des politischen Programms der PiS: Ihre Vertreter kritisierten wiederholt das Grundgesetz als eines, das die Relikte des Postkommunismus verfestige, und als Hindernis auf dem Weg zu einer echten Erneuerung des Staates. Kritisiert wurde auch, dass der Prozess, den Rechtsstaat in Polen zu implementieren, vorschnell und unvollkommen gewesen sei, auf fehlerhaften Voraussetzungen gründete und im Ergebnis eine effektive Tätigkeit der vollziehenden Gewalt unmöglich gemacht habe. Ihre eigenen Aktivitäten seit dem Jahr 2015 stellte die PiS als "guten Wandel" dar, als Erneuerung des Staates, der von den Postkommunisten und den mit ihnen identifizierten Liberalen zerstört worden sei. Das Justizwesen, zu dem im weitesten Sinne auch das Verfassungstribunal zu zählen ist, wurde zum Ziel von Angriffen, deren Begründung im Wahlprogramm der PiS 2019 folgendermaßen formuliert wurde:

"Es besteht auch kein Zweifel, dass die Justiz, in der nach 1989 nur oberflächliche Änderungen durchgeführt wurden, ein sehr bedeutendes, vielleicht geradezu das grundlegende – insbesondere nach dem Jahr 2000 – Fundament des postkommunistischen Systems und des Systems des späten Postkommunismus geworden ist. Das bedeutete den wiederholten Schutz von Missständen und Mechanismen, die gegen Entwicklung gerichtet waren, und manches Mal sogar schlicht den Schutz der Welt des Verbrechens. Ein besonders wichtiges Symptom, das sich auf das Interesse großer gesellschaftlicher Gruppen bezieht, war und ist die Trägheit der Gerichte, die sich u. a. auf ausgebaute Verlangsamungsmechanismen und manchmal auch auf die vollständige Blockade der Justiz stützt. Charakteristisch sind auch die Verwicklungen einzelner Richter und manchmal auch größerer Gruppen im Zusammenhang mit verschiedenen lokal und auch breiter tätigen Interessensgruppen sowie auch mit der vollziehenden Gewalt auf den verschiedenen Ebenen."

Obgleich Polen in Untersuchungen, die die Europäische Kommission über das Funktionieren der Justiz in der Europäischen Union durchgeführt hat, zumindest nicht drastisch vom europäischen Durchschnitt abwich, gelang es der PiS, ein Bild von den polnischen Gerichten als außerordentlich ineffektiv und unehrlich zu schaffen und dies mit den Relikten des kommunistischen Systems zu verknüpfen. Dieser Zustand soll angeblich nicht so sehr den übernommenen organisatorischen Mängeln, der unzureichenden Finanzierung, dem Personalmangel oder ineffektiven Verfahren entspringen, sondern vor allem den Eigenschaften der Richter selbst, die die regierende Partei als Verteidiger der Kommunisten darstellt oder als Konformisten, die sich den "externen Widersachern Polens" unterordnen, womit gewöhnlich, abhängig von der Situation, Deutschland oder die Europäische Union gemeint sind. Die Richter, insbesondere die des Obersten Gerichts (Sąd Najwyższy), wurden im Narrativ der regierenden Gruppierung zu einem Teil der postkommunistisch-liberalen Elite mit einer postkolonialen und nicht selten verbrecherischen Mentalität. Diese Diagnose bemühte sich die PiS medial zu festigen, indem sie sich in einer breit angelegten Kampagne auf einige bestätigte Fälle kleinerer Diebstähle von Richtern berief. Die Straflosigkeit einzelner Richter sollte das gesamte Milieu kompromittieren und die Notwendigkeit begründen, eine harte Disziplinargerichtsbarkeit einzuführen und die alten Richter durch eine neue Elite zu ersetzen, die sich zu den traditionellen nationalen und christlichen Werten im Einklang mit der Ideologie der PiS bekennt.

Der bisherige Verlauf der Justizreformen

Der Aspekt, der bei der Reform der PiS am meisten ins Auge sticht, sind die personellen Veränderungen, die als Kampf gegen die postkommunistischen Eliten präsentiert werden und die im Wesentlichen zu einem beschleunigten Personalaustauch in den Gerichtsorganen führen. In der Zeit von November 2015 bis Dezember 2016 führte die PiS faktische und rechtliche Änderungen durch, um das Verfassungstribunal der regierenden Partei unterzuordnen. Trotz gesellschaftlicher Proteste, trotz der Appelle von Richtern und Rechtswissenschaftlern sowie auch internationalen Organisationen gelang es, das Verfassungstribunal – die Instanz der gerichtlichen Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze – als politischen Risikofaktor für die regierende Partei auszuschließen. Im Januar 2020 werden von 15 Verfassungsrichtern 14 von der PiS nominiert sein. Dabei bestehen bei drei von ihnen immer noch ernsthafte Zweifel über die Rechtmäßigkeit ihrer Wahl. Unabhängig davon weckten die Personen, die vom PiS-dominierten Parlament zu Richtern am Verfassungstribunal gewählt wurden, grundsätzliche Zweifel an ihrer Neutralität, die sowohl von Politikern als auch Vertretern der Rechtswissenschaft und der juristischen Milieus zum Ausdruck gebracht wurden. Ein Teil der Nominierten war vor der Wahl an das Verfassungsgericht für die PiS politisch aktiv. Ende 2019 begann der politische Monolith, der das Verfassungstribunal unter der PiS-Regierung geworden war, zwar etwas von seinem einheitlichen Charakter einzubüßen, nämlich infolge von Meinungsverschiedenheiten zwischen den von der PiS gewählten Richtern, von denen manche ein entschiedeneres Handeln zugunsten eines vollständigen Abtreibungsverbots erwarteten. Wie sich dies auf die Situation des Verfassungstribunals auswirken wird, ist aktuell schwer vorhersagbar. Es steht allerdings nicht zu erwarten, dass dies seine politische Instrumentalisierung verringern oder dazu beitragen wird, dass sein angekratztes Bild in der Öffentlichkeit wieder aufgebaut wird.

Im Jahr 2017 stimmte die PiS für ein Gesetzespaket, das zusammenfassend als "Justizreform" bezeichnet wurde. Die Gesetze betrafen das Oberste Gericht, den Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS), die allgemeinen Gerichte und die Landesschule für Gerichtswesen und Staatsanwaltschaft (Krajowa Szkoła Sądownictwa i Prokuratury). Nach einer Welle gesellschaftlicher Proteste im ganzen Land legte der Präsident der Republik Polen gegen zwei der Gesetze des Pakets – gegen das Gesetz über das Oberste Gericht und über den Landesjustizrat – sein Veto ein und stellte eigene Gesetzesvorschläge vor, die allerdings die grundsätzliche Ausrichtung der Reform nicht veränderten.

Im Ergebnis des intransparenten und übereilten Gesetzgebungsverfahrens bildete sich eine Rechtssituation heraus, in der der Einfluss der Exekutive auf die Judikative eine deutliche Ausweitung erfuhr. Die wesentlichen Elemente dieser Ausweitung sind folgende: Die Gesetze über die allgemeinen Gerichtsbarkeit übertrugen dem Justizminister sowie dem Präsidenten der Republik Polen eine Reihe von Befugnissen, u. a. im Bereich der Justizverwaltung sowie die Befugnis, die Präsidenten der allgemeinen Gerichte aller Stufen zu ernennen und abzuberufen. Da der Justizminister seit 2016 gleichzeitig der Generalstaatsanwalt ist, hat die regierende Partei infolge der Justizreformen die Möglichkeit erlangt, sowohl auf die Staatsanwälte als auch auf die Richter Einfluss zu nehmen, also auf die beiden wichtigsten Einheiten in der Rechtsprechung. Eingeführt wurden unterschiedliche Pensionseintrittsalter für Männer und Frauen (65 bzw. 60 Jahre), und der Exekutive wurde das Recht erteilt, einer darüber hinausgehenden Amtsausübung zuzustimmen. Ein anderes Machtinstrument der Regierung wurde die Wiedereinführung der Institution der Assessoren, die vom Minister bestimmt werden und denen die Ausübung der richterlichen Pflichten übertragen werden kann. Auch dies öffnet den Weg, politischen Druck auf die Justiz auszuüben. Das Gesetz über das Oberste Gericht sah ebenfalls den automatischen Eintritt aller Richter in den Ruhestand vor und machte die weitere Ausübung ihres Amtes von der Zustimmung des Präsidenten abhängig. Das Pensionseintrittsalter der Richter am Obersten Gericht wurde gesenkt und es war eine tiefgehende Umstrukturierung des Obersten Gerichts vorgesehen, die Einrichtung einer neuen Disziplinarkammer inbegriffen, die sich ausschließlich mit Disziplinarverfahren gegenüber Richtern befassen soll sowie in einem bestimmten Bereich als Kassationsinstanz tätig werden soll, auch gegenüber Vertretern anderer juristischer Berufe.

Das Gesetz über den Landesjustizrat, das heißt über ein Verfassungsorgan, zu dessen Kompetenzen es gehört, die Richterkandidaten zu nominieren, die anschließend vom Präsidenten der Republik ernannt werden, veränderte entscheidend die Art und Weise, wie dieses Organ berufen wird. Nach der neuen Gesetzgebung zählt der Landesjustizrat 25 Mitglieder, von denen vier ihm von Amts wegen angehören. Die übrigen Mitglieder (zwei Senatoren, vier Abgeordnete und 15 Richter aus Gerichten aller Ebenen) wählt aktuell das Parlament, während bis zum Jahr 2018 die Richter-Mitglieder des Landesjustizrates von Richtern gewählt wurden. Dieser Aspekt der Reform wurde von der Opposition als Ausdruck der verfassungswidrigen politischen Instrumentalisierung des Landesjustizrates aufgefasst. Die Kandidaten für die Richterposten im neuen Landesjustizrat können von mindestens 2.000 Bürgern oder von 25 in ihrem Amt tätigen Richtern vorgeschlagen werden. Die Wahl aller wählbaren Mitglieder des Landesjustizrates wird in einem Verfahren vollzogen, das der stärksten Kraft im Parlament einen uneingeschränkten Einfluss auf die Wahl einräumt, also im Endeffekt darauf, wer dort Richter wird und auch wer Richter an der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts wird.

Angesichts des Tempos und des Ausmaßes der oben genannten Reform der allgemeinen Gerichtsbarkeit schafften es die Systemänderungen nicht – obgleich auch sie von großer Bedeutung sind – ein Echo in der öffentlichen Meinung hervorzurufen. Auf der Grundlage der neuen Gesetze vollzog der Justizminister bereits den Austausch von mehr als 100 Gerichtspräsidenten auf allen Ebenen. Die Gesetze über das Oberste Gericht und insbesondere über den Landesjustizrat erwiesen sich dagegen als Keim neuer Probleme. Die Mitglieder­anwerbung für den neuen Landesjustizrat verlief unter Widerständen. Ein deutlicher Teil des Richtermilieus boykottierte den Prozess der Kandidatenanmeldung, was zur Folge hatte, dass sich auf die 15 Plätze nur 18 Personen meldeten, die mehrheitlich mit dem Justizminister verbunden und mit teilweise zweifelhaften Qualifikationen ausgestattet sind. Mehr noch, bei einer der betreffenden Personen traten nach bereits erfolgter Wahl durch den Sejm ernste Zweifel auf, ob sie tatsächlich die erforderliche Anzahl Unterschriften von den vorschlagenden Richtern erhalten hatte. Bis heute wurden die Listen derer, die die einzelnen Kandidaten vorgeschlagen hatten, nicht veröffentlicht, trotz vielfach wiederholter Forderungen, die das Hauptverwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny) in seinem Urteil vom 28. Juni 2019 bestätigt hat. Die Kanzlei des Sejm lehnte es ab, dem Urteil nachzukommen, und berief sich dabei auf die Anordnung des Amtes für den Schutz Persönlicher Daten (Urząd Ochrony Danych Osobowych). Mit der Anordnung wurde die Kanzlei angewiesen, die Listen nicht zu veröffentlichen, solange nicht geklärt sei, ob dies nicht den Schutz der persönlichen Daten verletze. Der neue Landesjustizrat nahm gleich nach seiner Berufung seine Tätigkeit auf, ohne die Klärung der Rechtslage abzuwarten.

Der Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen zum Jahresende 2019 lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Tätig ist ein teilweise fehlerhaft gewähltes Verfassungstribunal. Zur Besetzung des Obersten Gerichts gehören Richter, die der neue Landesjustizrat gewählt hat, und die beiden neuen Kammern des Obersten Gerichts – die Disziplinarkammer sowie die Kammer für Außerordentliche Kontrolle und Öffentliche Angelegenheiten – setzen sich ausschließlich aus Personen zusammen, die vom neuen Landesjustizrat nominiert wurden. Den neuen Kammern wurden Angelegenheiten übertragen, die für die Unabhängigkeit des Gerichtswesens und die juristische Selbstverwaltung Schlüsselbedeutung haben, sowie Fragen zur Richtigkeit von Wahlen, zur Regulierung des Kapitalmarktes und zur Freiheit der Medien. Der gesetzlich geregelte Vorgang zur Wahl des Landesjustizrates weckt verfassungsrechtliche Zweifel und auch die Vereinbarkeit der Wahl und der Zusammensetzung mit dem Gesetz ruft Zweifel hervor, angesichts der Weigerung, die Namen derer zu veröffentlichen, die die Kandidaten vorgeschlagen hatten. In den allgemeinen Gerichten kommt es auf Initiative des Justizministers zu personellen Veränderungen. Außerdem setzte der Minister weitere Möglichkeiten ein, Druck auf die Richter auszuüben, worüber in einigen Fällen in den unabhängigen Medien berichtet wurde, und auch Disziplinarverfahren werden als Druckmittel eingesetzt. Darüber hinaus wartet noch der Fall einer illegalen Internetkampagne auf seine Aufklärung. Hier war regierungskritischen richterlichen Kreisen mit Mobbing und Hasssprache in den sozialen Netzwerken zugesetzt worden; ehemalige Angestellte des Justizministeriums waren in die Kampagne verwickelt.

Reaktionen der EU und des richterlichen Milieus

Bereits im Januar 2016 nahm die Europäische Kommission, alarmiert von der Lage des Verfassungstribunals, den Dialog mit der polnischen Regierung auf, mit dem Ziel, die Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu bannen. Der Dialog zeitigte keine Ergebnisse, so dass die Europäische Kommission am 20. Dezember 2017 den Beginn eines Verfahrens im "EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips" gegen Polen bekanntgab. Dieses Verfahren wurde erst im Jahr 2014 geschaffen, um den Mechanismus des Artikel 7 des Europäischen Vertrags zu regeln. Dieser sieht die Möglichkeit der Sanktionen gegenüber einem EU-Mitgliedsland vor, das "schwerwiegend und anhaltend" grundlegende Werte der Europäischen Union verletzt, darunter die in Artikel 2 des EU-Vertrags genannten Werte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte, inklusiv der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Die härteste Strafe infolge der Verletzung dieser Werte ist, dass dem betreffenden Staat das Stimmrecht im Rat der Europäischen Union entzogen wird.

Außerdem leitete die Europäische Kommission am 2. Juli 2018 ein Verfahren bezüglich des Gesetzes über das Oberste Gericht ein und zwar im Zusammenhang mit den Vorschriften zum Eintritt der Richter in den Ruhestand und dem Einfluss dieser Vorschriften auf die Unabhängigkeit des Gerichts. Am 24. September 2018 beschloss die Europäische Kommission, die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) zu bringen. Dieser urteilte am 24. Juni 2019, dass die Senkung des Pensionseintrittsalters für die Richter des Obersten Gerichts unvereinbar mit dem EU-Recht ist. Ein analoges Verfahren aus Anlass der Senkung des Pensionseintrittsalters und seiner Differenzierung nach Männern und Frauen im Gesetz über die allgemeine Gerichtsbarkeit endete am 5. November 2019 mit dem Urteil des EuGH, dass diese Differenzierung ebenfalls nicht mit dem EU-Recht vereinbar sei. Am 25. Oktober 2019 erhob die Europäische Kommission wegen des neu eingerichteten Systems der Disziplinarmaßnahmen gegenüber Richtern in Polen Anklage vor dem EuGH.

Die Justizreform der PiS hat laut Meinungsumfragen die Unterstützung für die regierende Partei nicht verringert, sie führte allerdings zu einer verstärkten Aktivierung der Zivilgesellschaft und der Richterschaft. Seit Amtsantritt der PiS-Regierung werden Stimmen laut, die auf die Notwendigkeit einer größeren Aktivität der Richter hinweisen, wenn es um die unmittelbare Anwendung der Verfassung geht. Eine solche Möglichkeit besteht im polnischen Rechtssystem, sie wurde allerdings selten von den Gerichten, insbesondere denen auf den unteren Ebenen, angewendet. Vielmehr wurden diese häufig für ihre konservative Haltung und ihre geringe interpretatorische Aktivität kritisiert. Ebenfalls relativ selten nutzten die polnischen Gerichte eine Möglichkeit, die ihnen als Gerichten eines EU-Mitgliedsstaates zusteht, und zwar die Möglichkeit, sich direkt auf das europäische Recht als Urteilsgrundlage zu berufen und sich für die Auslegung des europäischen Rechts an den EuGH zu wenden.

Letztere Möglichkeit nutzte die Arbeits- und Sozialversicherungskammer des Obersten Gerichts, die in einer Angelegenheit zu urteilen hatte, deren Prüfung nach dem neuen Rechtsstand in den Zuständigkeitsbereich der Disziplinarkammer gehören würde. Der Spruchkörper des Gerichts richtete am 2. August 2019 eine präjudizielle Frage an den EuGH, um beurteilen zu lassen, ob die Disziplinarkammer die Bedingung der Unabhängigkeit erfüllt – in diesem Fall würde ihr die Angelegenheit zugewiesen – oder nicht – in diesem Fall könnte die Arbeits- und Sozialversicherungskammer die neue Vorschrift übergehen, dass die Angelegenheit an die Disziplinarkammer weiterzuleiten sei, da diese nicht EU-rechtskonform wäre, und selbst über den Fall urteilen.

Am 19. November 2019 wurde das lang erwartete Urteil gefällt. Der Europäische Gerichtshof äußerte sich nicht direkt zur Frage der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer, aber er stellte fest, dass die Entscheidung, ob die Kammer ein unabhängiges Organ sei, das dem EU-Recht entsprechend handelt, von einem polnischen Gericht getroffen werden muss. Der EuGH formulierte genaue Kriterien, die bei der Beurteilung der Unabhängigkeit in Ansehung des EU-Rechts zu berücksichtigen sind, und unterstrich, dass hier das Vorgehen bei der Berufung der Richter dieser neuen Kammer Bedeutung hat und folglich auch die Berufung und Zusammensetzung des Landesjustizrates, der auf die Besetzung der Kammer wesentlichen Einfluss hat. Der EuGH machte auch deutlich, dass die künftige Entscheidung des polnischen Gerichts sowohl rechtliche als auch tatsächliche Gesichtspunkte berücksichtigen sollte, dazu gehören auch die Unregelmäßigkeiten bei der Berufung des neuen Landesjustizrates als ein Organ, das eine entscheidende Rolle bei der Berufung von Richtern spielt. Das Urteil des EuGH ist eine Auslegung des EU-Rechts; nach dessen Erhalt liegt es an dem polnischen Gericht, die Angelegenheit entsprechend dem Urteil des EuGH zu behandeln. Elf weitere präjudizielle Fragen mit Bezug zur Justizreform der PiS warten noch auf die Prüfung des EuGH. Die Urteilssprüche, die als Antworten auf die Fragen gegeben werden, sind für polnische Gerichte bindend, wenn sie mit ähnlichen Fällen zu tun haben. Sooft also ein Gericht in Polen vor dem Problem der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts steht, hat es das Recht, selbständig entsprechend der Kriterien des EuGH-Urteils vom 19. November 2019 zu urteilen.

In einer gemeinsamen Stellungnahme von 13 Organisationen, die sich für die Rechtsstaatlichkeit in Polen einsetzen, wurde das Urteil so interpretiert, dass jedes Gericht in Polen die Anwendung der polnischen Rechtsvorschriften ablehnen sollte, deren Folge die Möglichkeit wäre, dass vom neu berufenen Landesjustizrat nominierte Richter Rechtsangelegenheiten verhandeln. Diese Auslegung wandte bereits einen Tag nach der Urteilsverkündung des EuGH ein Richter eines Gerichts in Allenstein (Olsztyn) an. Er forderte, die Liste der Personen, die Kandidaten für den Landesjustizrat vorgeschlagen haben, offenzulegen, um eine Entscheidung darüber treffen zu können, ob die Berufung eines Richters rechtskonform gewesen sei. Dieser hatte in erster Instanz ein Urteil gefällt, das in die Berufung ging und nun von jenem Richter geprüft werden soll. Der Richter bekam sofort negative Folgen zu spüren: Seine Delegierung an das Kreisgericht wurde vom Justizminister ohne Begründung zurückgezogen, und der vom Justizminister nominierte Gerichtspräsident verhängte eine einmonatige Urteilssperre über ihn. Der mit dem Justizminister eng zusammenarbeitende Disziplinarbeauftragte leitete ein Verfahren gegen ihn ein. Der Spruchkörper der Arbeits- und Sozialversicherungskammer des Obersten Gerichts, der die Frage an den EuGH gerichtete hatte, kam unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 zu dem Schluss, dass die neu berufene Disziplinarkammer kein Gericht im Sinne des europäischen Rechts sei, weil sie unter Beteiligung des neuen Landesjustizrates berufen wurde und dieses Organ in einem Grade politisch instrumentalisiert sei, der die Unabhängigkeit der Richter gefährde, die mit der Beteiligung des Landesjustizrates eingesetzt wurden. Im Obersten Gericht laufen weitere Verfahren mit dem Ziel, festzustellen, welche Folgen sich aus dem Urteil des EuGH für die Justiz ergeben.

Das Gespenst des Chaos

Das Urteil des EuGH bestätigt die Position aller Gerichte als selbständige Organe der Justiz der Europäischen Union und stärkt das Gerichtswesen im Konflikt mit der Exekutive, die einer immer schwächeren Kontrolle unterliegt. Nicht nur die rechtliche, sondern auch die politische Dimension des Konfliktes reicht weit über das bloße Funktionieren der Justiz hinaus. Die Folgen der Justizreform der PiS betreffen nämlich auch den Schutz der grundlegenden Bürgerrechte und -freiheiten (insbesondere für die Minderheiten), den Einfluss der PiS auf die Bewertung der Gültigkeit von Wahlen und Referenden, auf die Bewertung der Gültigkeit von zurückgenommenen Entscheidungen zum Wettbewerbsschutz, zum Schutz der Freiheit der Medien u. a. Die vollziehende Gewalt erhielt infolge der von der PiS umgesetzten Reformen enormen Einfluss auf das Funktionieren der Justiz; gleichzeitig aber wurden die Zivilgesellschaft und die juristischen Milieus mobilisiert und wurde das Thema Rechtsstaatlichkeit in den Blick der öffentlichen Meinung in Polen gerückt. Nach Meinungsumfragen, die im Auftrag des regierungskritischen Internetportals OKO.press von IPSOS durchgeführt wurden, sind 58 Prozent der Befragten der Meinung, dass der EuGH das Recht hat, die Justizreform der PiS zu stoppen, wenn sie nicht mit dem EU-Recht konform ist. Gegenteiliger Meinung waren 35 Prozent der Befragten. Wesentlich ist dabei, dass derselben Umfrage zufolge auch 25 Prozent der PiS-Anhänger dem EuGH das Recht zugestehen, der Reform der PiS Einhalt zu gebieten. Es wäre verfrüht, aus diesen Daten den Schluss zu ziehen, dass die Legitimation für die Handlungen der PiS schwächer wird, oder dass die Position der EU-Organe im gesellschaftlichen Verständnis stärker wird. Sicher ist allerdings, dass die Rechtsstaatlichkeit in Polen infolge der andauernden Krise zu einem Problem geworden ist, das unmittelbar und ständig im öffentlichen Diskurs präsent ist – was offenkundig sachlich begründet ist. Eine der vorhersehbaren möglichen Folgen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes ist beispielsweise die Möglichkeit, Urteile in Frage zu stellen, die von Richtern gesprochen wurden, welche vom neu berufenen Landesjustizrat nominiert wurden. Hier handelt es sich mittlerweile um mehr als 300 Richter und einige Tausend Urteilssprüche. Die Appelle, die manche Vertreter der Justiz an die vom neuen Landesjustizrat berufenen Richter adressieren, dass diese solange nicht urteilen sollen, bis das Oberste Gericht die Rechtslage geklärt hat, bleiben im Allgemeinen wirkungslos. Das Ausmaß des Chaos, in dem die Gerichte versinken könnten, ist daher schwer vorstellbar.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

Prof. Dr. Marta Bucholc, Universität Warschau (Uniwersytet Warszawski), ist zurzeit Forschungsprofessorin am Käte Hamburger Kolleg "Recht als Kultur", Internationales Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung, Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Rechtssoziologie und historische Soziologie. Zuletzt erschien von ihr: "Commemorative Lawmaking: Memory Frames of the Democratic Backsliding in Poland After 2015", Hague Journal on the Rule of Law (2019) 11: pp. 85–110.

Maciej Komornik ist Jurist und als Patentanwalt tätig und promoviert zurzeit am Institut für deutsche und rheinische Rechtsgeschichte der Universität Bonn. Zuletzt erschien von ihm: "Gewaltenteilung ausgehebelt. Der Umbau der polnischen Justiz 2017", Osteuropa 3-5/2018.