Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Freimaurer: Der Mythos eines einflussreichen Netzwerkes | Frankreich | bpb.de

Frankreich Wahlen in Frankreich 2022 Knapp davongekommen? Macrons Präsidentschaft Ein Klimapräsident? Der französische Präsident Parteiensystem im Umbruch Wahlkampfthemen Immigration und Identität Kaufkraft und soziale Gerechtigkeit Innere Sicherheit Die Europäische Union Keine Diskussion der Klimafrage Wer stand zur Wahl? Emmanuel Macron Marine Le Pen Jean-Luc Mélenchon Éric Zemmour Valérie Pécresse Yannick Jadot Anne Hidalgo Deutsch-französische Beziehungen Außen- und Sicherheitspolitik Symmetrie Wirtschaftsbeziehungen Zivilgesellschaft Deutschlandbild Interview mit Jörn Bousselmi Porträt Julien Chiappone Porträt Flavie Labendzki Macht und Einfluss Der französische Präsident Parteiensystem im Umbruch Die Intellektuellen in Frankreich Medien Bildung und Struktur der politischen Elite in Frankreich Interview mit Pierre-Yves Le Borgn’ Porträt Lenaig Bredoux Land und Gesellschaft Terrorismus und innere Sicherheit Paris Dezentralisierung "Ehe für alle" Freimaurer Problemgebiet Banlieue Demografie Französisches Bildungssystem Laizität Im Interview mit Pascale Hugues Porträt Hawa Coulibaly Porträt Lionel Petit Geschichte und Erinnerung Königtum und Revolutionsmythos Die Wunden des Weltkrieges Interpretationen des Ersten Weltkriegs Der Erste Weltkrieg und die deutsch-französische Aussöhnung Kollaboration und Widerstand Das Erbe de Gaulles Der Algerienkrieg Der französische Mai '68 Interview mit Alfred Grosser Porträt Karfa Diallo Porträt Jean-Pierre Laparra Wirtschaft und Soziales Wirtschaftsmodell Standort Frankreich Luxusindustrie Sozialsystem Streiken Haushaltspolitik Interview mit Ulrike Steinhorst Porträt Olivier Issaly Porträt Sophie Pinon-Mestelan Frankreich in einer globalisierten Welt Ambitionen auf der Weltbühne Globalisierung Nachbarschaftspolitik Abschied von der "Françafrique" Frankreichs Europapolitik Im Interview mit Sylvie Goulard Porträt Fawzia Baba-Aissa Porträt Pierre Bourgeois Kultur und Identität Theater Sprache Fußball Literaturpreise Kino Interview mit Ulrich Fuchs Porträt Jean-Paul Jeunet Porträt Céline Lebovitch Wahlen in Frankreich 2017 Kein Selbstläufer François Fillon Jean-Luc Mélenchon Marine Le Pen Emmanuel Macron Benoît Hamon Die Präsidentschaftswahl und die Eurozone Die Angst vor Verarmung lastet auf den französischen Wahlen Bildungspolitik Erste, Zweite, Dritte, … Sechste Republik? Ein Wahlkampf ohne Jugendarbeitslosigkeit Frankreichs Grüne: Zwischen Aktivismus und Politik Wie sich die Rolle des französischen Präsidenten entwickelt hat Landkarten Physische Übersicht Verwaltungsgliederung Außengebiete Bevölkerungsdichte Kolonien Zahlen und Fakten BIP-Entwicklung und Arbeitslosenquote Wertschöpfung Staatsverschuldung Energiemix Entwicklungszusammenarbeit Auslandseinsätze Handelspartner Hochschulkooperation Bevölkerungsstruktur Frankreich und Deutschland in der EU Freizeit- und Kulturausgaben Die größten Luxusunternehmen nach Umsatz Die wertvollsten Luxusmarken weltweit 2012 Öffentlicher Schuldenstand in Frankreich 1995-2014 Staatsdefizit in Frankreich und der Eurozone 1995-2011 Quiz Redaktion

Freimaurer: Der Mythos eines einflussreichen Netzwerkes

Jean Moreau

/ 12 Minuten zu lesen

Die Freimaurerei wird in Frankreich oft als ein mächtiges Netzwerk wahrgenommen, dessen Einfluss bis an die Spitze des französischen Staats reicht. Dadurch ruft sie Beunruhigung hervor. Dabei wird sie oft verkannt: Ihre Besonderheit sieht sie selbst nicht nur in Bezug auf die republikanischen Werte der Freiheit und Laizität, sondern auch in ihrer Verbindung von Spiritualität und gesellschaftlichem Engagement.

Fassade des Freimaurerei-Museums in Paris und Sitz der Loge Grand Orient de France. (© Guilhem Vellut)

Die Freimaurerei ist ein soziales Phänomen mit universalistischer und humanistischer Ausrichtung, das auf den Idealen der Brüderlichkeit und Solidarität beruht. In Großbritannien, wo der Bund im 18. Jahrhundert entstand, wie auch in den USA, ist sie Teil des Establishments. In Frankreich, wo sich Großlogen (Vereinigungen von Logen, d.h. von lokal verankerten Freimaurer-Vereinen, die dieselben Prinzipien teilen) nach dem Prinzip des Vereinsgesetzes von 1901 organisieren, ist dies nicht der Fall. Zwar wird die Freimaurerei oft als eine besonders in der politischen Sphäre einflussreiche Bewegung wahrgenommen. (Regelmäßig veröffentlichen die großen französischen Zeitschriften Berichte über die scheinbar undurchsichtige Freimaurerei, die Gegenstand vielfältiger Fantasien ist.) Tatsächlich ist sie aber weit entfernt von der Einheit und dem Einfluss, den ihr der ihr anhaftende Mythos eines mächtigen Netzwerkes unterstellt. Ganz im Gegenteil: Gerade ihre Komplexität ist charakteristisch für die Freimaurerei.

Viele bekannte Persönlichkeiten der französischen Geschichte waren Freimaurer: So der General Marie-Joseph La Fayette (1757-1834), liberaler Aristokrat, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und in der Französischen Revolution eine Schlüsselrolle spielte (1789 reichte er im französischen Parlament einen Entwurf der Menschenrechtserklärung ein); der Revolutionär Camille Desmoulins (1760-1794), der bei den Aufständen in Paris im Sommer 1789 und bei der Niederwerfung der Monarchie am 10.8.1792 eine entscheidende Rolle innehatte; der Politiker Victor Schœlcher (1804-1893), einer der wichtigsten Gegner des Sklavenhandels in den Kolonien, den er als Marineminister 1848 abschaffte; Léon Gambetta (1838-1882), Führungsfigur des republikanischen Ideals, der sich als Präsident der Kammer (1879-81) und als Premierminister (1881-82), wenn auch erfolglos, für die Einführung einer Einkommensteuer und, die Anerkennung des Gewerkschaftsrechts stark machte; Jules Ferry (1832-1893), der als Bildungsminister das kostenlose, verpflichtende und laizistische Schulwesen begründete; sowie der Grundschullehrer Georges Lapierre (1886-1945), Gewerkschafter und Widerstandskämpfer während des Zweiten Weltkriegs, der sich für die Streichung kriegstreiberischer Passagen in Schulbüchern einsetzte.

Auch heute besetzen einige Freimaurer verantwortungsvolle Posten in Politik und Wirtschaft, wie zum Beispiel der

Verteidigungsminister Jean-Yves le Drian zusammen mit François Hollande vor dem Elysée-Palast. (© picture-alliance)

sozialistische Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian (seit 2012) und der konservative Arbeitsminister Xavier Bertrand (2010-2012), aber auch im Kulturbereich und in der Wissenschaft. Da die meisten Freimaurer ihre Mitgliedschaft nicht öffentlich machen oder sie sogar dementieren, ist es jedoch schwer, konkrete Namen zu nennen. Unter den ungefähr 150.400 französischen Freimaurern (die offiziellen Zahlen variieren je nach Zählweise) finden sich aber auch zahlreiche anonyme Mitglieder, die sich bemühen, ihre Ideale außerhalb des Tempels durch individuelle oder kollektive Tätigkeiten zu verbreiten. Freimaurer gehören vor allem der Mittelschicht und der oberen Mittelschicht an, nicht zuletzt wegen der zu entrichtenden Mitgliedsbeiträge. Mit der Mitgliedschaft einher geht die Verpflichtung zur Teilnahme an einer gewissen Anzahl an Treffen.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

In der Ideenwelt der Freimaurer finden sich verschiedene Mythen wieder, die sich auf das alte Ägypten, die Erbauung des Tempels Salomos und die Kreuzzüge beziehen. Besser nachvollziehbar ist die Abstammung von operativen, also handwerklich tätigen Freimaurern (die früheren Baumeister der Kathedralen) und spekulativen, nicht-handwerklichen Freimaurern (die heutigen Freimaurer). Seit einiger Zeit wird auch die Rolle betont, die im 17. Jahrhundert vermutlich die Londoner Royal Society in der Geschichte der Freimaurerei spielte, die nationale Akademie der Wissenschaften des Vereinigten Königreichs. Erstmals schriftlich definiert wurden die Regeln der Freimaurer in den von den Pastoren James Anderson (1684-1739) und Jean-Théophile Désaguliers (1683-1739) verfassten Constitutions, die die erste Charta der spekulativen Freimaurer bilden. Die 1723 in London erschienene Schrift kündigt die humanistische Absicht an, die von den Freimaurern vertreten wird: "So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und zu einem Mittel, wahre Freundschaft zwischen Menschen zu stiften, die einander sonst ständig fremd geblieben wären". Alle Logen Frankreichs und weltweit berufen sich auf diese zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Anderson und Désaguliers verkündeten Prinzipien. Der Grundsatz der Toleranz wurde vom Dichter und Freimaurer Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) zur Zeit der Aufklärung in seiner berühmten Ringparabel szenisch umgesetzt: In seinem Stück Nathan der Weise beschreibt er, wie ein Christ, ein Jude und ein Muslim – da sie alle rechtschaffene Ehrenmänner sind – eigentlich derselben Religion zugehörig sind: nämlich der, "über die sich alle Menschen einig sind". Es ist kein Zufall, dass der Aufschwung der Freimaurerei in Frankreich in die Zeit fällt, in der sich die Revolution anbahnt, die dem Ancien régime ein Ende setzen und der Republik den Weg ebnen sollte. Mit den Grundsätzen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind es dieselben Prinzipien, die zum einen das Wirken der Freimaurer innerhalb der Logen prägen, und die zum anderen die Grundlage republikanischer Gesellschaften bilden. In seinem Buch Pénitents et Franc-maçons (1984) zeigt der Historiker Maurice Agulhon, inwiefern die Freimaurer im 18. Jahrhundert eine neue Art des sozialen Verhaltens förderten, also die Art und Weise veränderten, wie die Bewohner eines Landes ihre zwischenmenschlichen Beziehungen leben. Durch die Freimaurerei lebten Adelige, Geistliche und Bürgerliche innerhalb der Logen zusammen, auch wenn letztere als einfache Leute nur das Amt des "dienenden Bruders" erreichen konnten. Hinzu kommt, dass die spezifische Sprache der Freimaurer mit ihrem Appell an Freiheit, Gleichheit, Fortschritt und Bildung oft mit dem republikanischen Diskurs im 19. Jahrhundert übereinstimmte – und dies so stark, dass die Ausdrucksweise bis heute in der bürgerlichen Welt fortbesteht. In diesem Sinn hat die Freimaurerei die soziale Moderne vorbereitet, ohne dabei jedoch mit der Tradition zu brechen.

Obwohl sich Freimaurer über die wesentlichen Prinzipien einig sind und sich in den von Anderson aufgestellten Grundsätzen wiederfinden, bestehen zwischen den einzelnen Logen große Unterschiede. Dem entspricht eine Losung der Freimaurer, wonach "die Einheit in der Diversität der Einheit in der Konformität" vorzuziehen sei. Die Logen unterscheiden sich in ihrer Größe – die größten sind der Grand Orient de France und die Grande Loge de France – aber auch in ihrer Organisationsform: Bei einigen sind ausschließlich Männer zugelassen (Grande Loge de France, Grand Loge Nationale Française), andere sind gemischt (Droit Humain, Grande Loge Mixte Universelle), und wieder andere sind nur Frauen zugänglich (Grande Loge Féminine de France). Gemäß dem Prinzip der Diversität unterscheiden sich die Rituale (die vorgeschriebene Reihenfolge der Zeremonien während der Tempelarbeit, d.h. der geschlossenen rituellen Versammlungen innerhalb der Loge). Auch Gradsysteme und verwendete Symbole können vielfältig sein. Was die Religionszugehörigkeit angeht, so schreibt zum Beispiel die Grande Loge Unie d’Angleterre den Glauben an Gott vor, wie er aus der Bibel hervorgeht, und erkennt nur die Logen an, die diesem Prinzip folgen. Sie hat jedoch nur einen sehr begrenzten Einfluss in Frankreich. Lediglich die Grande Loge Nationale Française, die gerade wegen großen, durch Misswirtschaft verursachten Geldverlusten vor der Spaltung steht, beruft sich auf diese "Vorschriftsmäßigkeit". Die anderen Logen sind adogmatisch, auch wenn sich einige symbolisch auf den "Allmächtigen Baumeister aller Welten" berufen.

Auf dem Weg zum Freimaurer

Ihrer universalistischen Philosophie folgend verweist die Freimaurerei auf die Suche nach einer persönlichen Spiritualität. Symbolisch gesprochen bemüht sich der vom Glauben an gegenseitige Toleranz und die Fähigkeit zur Vervollkommnung des Menschen getriebene Freimaurer, ein "Bauwerk" zu konstruieren: den inneren Tempel, aber auch den äußeren Tempel. Anders ausgedrückt: Er versucht, zugleich sich selbst und die Gesellschaft zu verbessern. Dafür stützt er sich auf eine Methode, die der Vorstellung und der Vernunft gleichermaßen viel Bedeutung zumisst, ohne beides jemals miteinander zu vermischen.

Auf der einen Seite bezieht sich die Freimaurerei auf das Prinzip der Überprüfung, das jede wissenschaftliche Aktivität kennzeichnet. Dieses Festhalten an der Vernunft bezieht sich auf das Vorgehen Isaac Newtons (1642-1729) und seine Entdeckung der universellen Gravitation: Ein Gebäude stürzt zusammen, wenn die Gesetze der Geometrie und der Schwerkraft nicht berücksichtigt werden. In einem weiteren Sinne bedeutet die Bezugnahme auf die Vernunft eine Distanzierung von der religiösen, insbesondere der päpstlichen Autorität. Im 19. Jahrhundert war die Freimaurerei Synonym für Antiklerikalismus. Und doch ist die Freimaurerei, entgegen einer überkommenen Vorstellung, nicht antireligiös: Vor allem im 18. Jahrhundert zählten die Logen viele Priester unter ihren Mitgliedern. Von Beginn an berief sich die Freimaurerei auf den Deismus - also die wissenschaftlich begründete Annahme, es müsse einen Gott geben, da der Ursprung des Universums anders nicht zu erklären sei - und nahm Bezug auf den "Allmächtigen Baumeister aller Welten". 1877 wandte sich der Grand Orient de France vom Allmächtigen Baumeister aller Welten, der mit dem biblischen Gott verglichen wurde, ab und verkündet das Prinzip der Gewissensfreiheit (das Recht, gläubig zu sein oder nicht). Unter den Freimaurern ist diese Orientierung weltweit noch immer in der Minderheit. In der Praxis treffen gläubige und nicht-gläubige Freimaurer in allen Logen in unterschiedlicher Zahl aufeinander. Freimaurer müssen einen Prozess der Einführung in den Orden durchlaufen, der sich in drei Etappen gliedert: Die Trennung von der profanen Welt (ein symbolischer Tod), das Bestehen von Prüfungen, die eine Wiedergeburt ermöglichen, und schließlich die Offenbarung (der Zugang zur Erkenntnis). Die Initiation greift weitgehend auf Symbole zurück und misst der Gefühlswelt, Bildern und Befragungen eine große Bedeutung zu. Eines der Symbole ist das Winkelmaß: Dieses Werkzeug, das von den Baumeistern der Kathedralen verwendet wurde, soll an die Geradlinigkeit und Gewissenhaftigkeit erinnern, die Männer und Frauen unterschiedlicher Meinung in ihrem Verhalten besitzen müssen. Vermutlich hat der Freimaurer und Staatstheoretiker Montesquieu den Grundgedanken der Initiationsmethode in seinen Persischen Briefen (1721) am treffendsten illustriert. Der fiktive Roman, in dem zwei Perser von Frankreich aus einen Briefwechsel mit Daheimgebliebenen führen, um die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Frankreich zu beschreiben, beruht auf einer Verfremdung (einer Fiktion): Indem man die Dinge von weitem sieht, begreift man sie besser. Montesquieu stützt sich auf einen offenen Symbolismus, der die einzelnen Elemente über die äußere Erscheinung und Zugehörigkeit hinweg zusammenbringt und dazu anregt, die Analyse noch weiter zu treiben.

In der Gesellschaft handeln

Den Freimaurern wird empfohlen, sich aktiv in der Gesellschaft zu betätigen, jedoch soll dieses bürgerliche Engagement (Wohltätigkeit, Solidarität, Vereinswesen, Gewerkschaften, Politik etc.) individuell und weniger kollektiv sein. Der individuelle Charakter öffentlicher Tätigkeit ist angesichts der Vielfalt philosophischer, religiöser und politischer Meinungen, die in der Freimaurerei vertreten werden, umso mehr gerechtfertigt. So ist in den meisten Logen die Gesamtheit des politischen Spektrums abgebildet – mit Ausnahme der extremen Rechten (u.a. der Front National).

In der Vielfalt der Meinungen und Ideologien liegt auch die Tatsache begründet, dass sich die französischen Freimaurer im Laufe der Geschichte über große politische Themen uneinig waren. So hat sich der Orden zum Zeitpunkt der französischen Revolution gespalten und verschwand vorübergehend. Während des ersten und zweiten französischen Kaiserreichs war die Freimaurerei napoleonisch. Eine Minderheit von Freimaurern unterstützte die Pariser Kommune 1871, den revolutionären, sozialistischen Pariser Stadtrat; die Mehrheit von ihnen distanzierte sich von diesem Volksaufstand gegen die Regierung. Uneinigkeit unter den Freimaurern bestand auch im 20. Jahrhundert in der Frage der Entkolonialisierung. Während der Dritten Republik (1870-1940) waren es die republikanischen Prinzipien, die den Bund zusammenhielten. Die republikanische Politik und die Meinung der Mehrheit der Logen haben tatsächlich oft übereingestimmt – zweifellos eine französische Besonderheit.

Einzelne Freimaurer und manchmal selbst ganze Logen haben die Verabschiedung von Gesetzen öffentlich unterstützt. Die erste Regierung der 1870 ausgerufenen Dritten Republik setzte sich mehrheitlich aus Freimaurern zusammen. Zu dieser Zeit spielte der Grand Orient eine wichtige Rolle für die Ausweitung der laizistischen Bewegung innerhalb von Gewerkschaften, Versicherungsvereinen und der "Ligue de l’enseignement", ein Zusammenschluss von Vereinen, die sich für eine alle soziale Schichten umfassende Schulbildung einsetzen. Dieses Engagement führt schließlich zur Verabschiedung eines Gesetzes zur Schulbildung (darin werden der kostenlose Schulbesuch, die Schulpflicht und das Prinzip des Laizismus in der Schule festgelegt) unter dem Bildungsminister Jules Ferry (1881-1882), selbst Mitglied des Grand Orient. Auch hat sich die Großloge für das Prinzip der "école unique", der Einheitsschule, ausgesprochen, wodurch die Schulbildung nicht mehr nach sozialen Klassen, sondern nach den Leistungen jedes einzelnen Schülers ausgerichtet werden sollte. Mit dieser Position hat er zur schrittweisen Vereinheitlichung des französischen Schulsystems im 20. Jahrhundert beigetragen. Zur selben Zeit haben sich die Freimaurer auch für die Verbesserung der Lage der Arbeiter eingesetzt. Dies ist zum Beispiel der Fall des Gewerkschafters Arthur Groussier (1863-1957), dem geistigen Vater des Code du Travail (1910), der dir Grundlage des französischen Arbeitsrechts bildet und Arbeitern gesetzlichen Schutz und das Recht auf Vereinigungsfreiheit garantiert. Die enge Verbindung mit republikanischen Grundsätzen führte schließlich zum Verbot der französischen Freimaurerei durch das Vichy-Regime. Zahlreiche Freimaurer wurden zwischen 1940 und 1944 verfolgt, deportiert und ermordet. Da zahlreiche Archive in dieser Zeit zerstört wurden, ist es nicht möglich, genau Zahlen zu erheben. Der Grand Orient de France hat eine Liste von 500 Freimaurern seiner Loge erstellt, die deportiert, erschossen oder gefangen genommen wurden, die im Kampf getötet oder im Widerstand umgekommen sind. Diese Liste beinhaltet nicht diejenigen, die in Gefangenenlagern gestorben sind; ihre Zahl wird sicherlich mit fortschreitenden Recherchen weiter anwachsen. Als Einzelpersonen haben Freimaurer für die Forces Françaises Libres an der Seite der Alliierten gekämpft. Nur eine kleine Minderheit stellte sich in den Dienst des Regimes von Marschall Philippe Pétain, darunter Bernard Faÿ, seinerzeit Direktor der französischen Staatsbibliothek.

Geschwächt durch den Zweiten Weltkrieg erfuhr die französische Freimaurerei nach der Befreiung von der deutschen Besatzung einen Neubeginn, insbesondere mit der Entstehung und dem Aufschwung der Grande Loge Féminine de France. Die Freimaurer haben auch immer wieder wichtige gesellschaftspolitische Debatten angestoßen und geprägt. So war es beispielsweise ein Freimaurer, der Arzt Pierre Simon (1925 bis 2008), der den Anstoß für eine gesetzliche Regelung der Empfängnisverhütung gab. Simon, symbolträchtige Figur und mehrfacher Großmeister der Grande Loge de France, führte in Frankreich neue Formen der Verhütung ein (insbesondere die Spirale, deren Erfinder er war). Er war Mitbegründer der 1956 entstandenen französischen Bewegung zur Familienplanung und verfasste 1971 einen Bericht über das Sexualleben der Französischen Bevölkerung, den Rapport sur le comportement sexuel des Français. Er initiierte jedoch auch den Dialog mit der katholischen Kirche. Ein weiteres Beispiel ist der Abgeordnete und spätere Senator Henri Caillavet (1914-2013), der schon 1947 und 1949 entgegen der öffentlichen Meinung ein Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung, und 1982/1982 ein Gesetz zur Kontrolle der Forschung über künstliche Befruchtung beim Menschen und zum Verbot von Genmanipulation vorgeschlagen hat.

Freimaurerinnen demonstrieren im Januar 2013 in Paris für die Einführung der Interner Link: "Ehe für alle". (© picture-alliance)

Auch ist er der Verfasser des Gesetzes zur Organspende und –transplantation und setzte sich für das Sterben in Würde ein. In den vergangenen Jahren hat eine Großloge wie der Grand Orient das Verbot der Ganzkörperverschleierung unterstützt (Gesetz vom Oktober 2010), für die Aufnahme des Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat von 1905 in die Verfassung sowie für die Homo-Ehe plädiert, und setzt sich dafür ein, die Gesetzgebung über Sterbehilfe zu reformieren.

Eine lebhafte mediale Debatte erfahren die in der französischen Freimaurerei verbreiteten fraternelles, oftmals nach Berufsgruppen organisierte Vereinigungen von Freimaurern, die ihre innerhalb des Tempels erlangten Wahrheiten auch in einer weltlichen Sphäre verbreiten möchten. Häufig wird ihnen Geschäftemacherei vorgeworfen. Und in der Tat kommt es gelegentlich zu schlagzeilenträchtigen Skandalen: Ein Beispiel ist der Fall des ehemaligen Haushaltsministers Jérôme Cahuzac, der im Frühjahr 2013 nach dem Verdacht der Steuerhinterziehung von seinem Amt zurücktreten musste, und der im Zuge der Affäre unverzüglich vom Grand Orient de France ausgeschlossen wurde. In den Medien wird die Berufung einer als Freimaurer bekannten Persönlichkeit auf einen hohen öffentlichen Posten oft als das Ergebnis einer Verschwörung oder einer Intrige dargestellt. So wird die 1895 gegründete Fraternelle für Bildung immer wieder als eine mächtige Organisation präsentiert, die die Bildungsminister Frankreichs bestimmt, obwohl dies von den Verantwortlichen stets dementiert wird. Nach eigenen Aussagen hat sie das Ziel, eine Schule zu begründen, die offen für alle Jugendlichen ist, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Was die Fraternelle der Parlamentarier angeht, so finden sich in ihr Männer und Frauen mit unterschiedlichsten Meinungen und aus allen im Parlament vertretenen Parteien – mit Ausnahme des Front national. Ihre auf etwa 150 geschätzten Mitglieder, von denen es keine offizielle Auflistung gibt, sind Mandatsträger oder Beamte aus beiden Kammern des Parlaments, dem Wirtschafts- und Sozialrat und dem Europäischen Parlament. Bei den Versammlungen, die zwei bis drei Mal im Jahr stattfinden, geht in erster Linie um offene und unverbindlich geführte Debatten, die je nach Thema zu Dissens oder Konsens führen. Somit sind die Mitglieder der fraternelle an keine Entscheidungen gebunden. Falls sie Einfluss auf den (insbesondere legislativen) Entscheidungsprozess haben, so kann dieser maximal indirekt sein. Nur selten beziehen sie als Gruppe öffentlich Stellung für oder gegen eine bestimmte Gesetzgebung.

Übersetzung: Julie Hamann

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jean Moreau, geboren 1938 in Paris, ist Professor für Philologie, Schriftsteller und gesellschaftlich engagiert. Er ist Mitglied des Grand Orient de France, wo er Logenmeister und Kapitelvorstand ist. Er ist außerdem Redaktionsmitglied bei den freimaurerischen Zeitschriften Humanisme und Le Maillon.