Wer die Nachrichten aus unserem Nachbarland verfolgt oder sogar schon eine längere Zeit dort verbracht hat, kann sich eines gewissen Eindrucks nicht erwehren: Die Franzosen streiken und protestieren gerne. Immer wieder werden gesellschaftliche und politische Konflikte auf der Straße ausgetragen, wobei oft zu öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen wie Blockaden und Besetzungen gegriffen wird. Hierzulande wird dies oft mit Unverständnis und manchmal sogar mit einer gewissen Bewunderung zur Kenntnis genommen, zeugt diese 'revolutionäre Ader' der Franzosen doch scheinbar von aktiver demokratischer Beteiligung und einem gesunden Selbstverständnis als citoyen (Staatsbürger). Doch wie lässt sich dieses besondere Protestverhalten der Franzosen tatsächlich erklären?
Gewerkschaften in Frankreich: laut, aber schwach
Die französische Verfassung räumt jedem Bürger ein individuelles Streikrecht zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ein – unabhängig von der Mitgliedschaft in einer Organisation, etwa in einer Gewerkschaft. Anders als in Deutschland, wo Streiks nur dann legitim sind, wenn sie im Rahmen von Tarifverhandlungen stattfinden und gewerkschaftlich organisiert sind, gelten in Frankreich auch politische Streiks und Solidaritätsstreiks als rechtmäßig. Dies begünstigt wesentlich die Entwicklung von Massenbewegungen über einzelne Unternehmen und Sektoren hinweg, während hierzulande meist nur einzelne, spezifische Branchen von Streiks betroffen sind.
In Frankreich ist der Arbeitnehmer also rein rechtlich deutlich weniger als in Deutschland auf eine Gewerkschaft angewiesen, die seine eigenen Interessen vertritt. Das spiegelt sich deutlich in der Größe der Gewerkschaften wider: Frankreich ist in Westeuropa das Land mit dem geringsten Anteil an gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern. Hier ist nicht einmal jeder Zehnte Mitglied einer Gewerkschaft (In Deutschland ist es rund jeder Fünfte). So sind die größten französischen Gewerkschaften CGT (Confédération générale du travail), CFDT (Confédération française démocratique du travail) und FO (Force ouvrière) zwar innerhalb von Protesten sehr präsent. Jedoch können sie aufgrund der geringen Anzahl von Mitgliedern, die sie repräsentieren, kaum die Funktion als legitimer Vermittler zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer übernehmen. Ein echter Dialog zwischen beiden Parteien, der so manchen Arbeitskämpfen im Vorhinein den Wind aus den Segeln nimmt, kann unter diesen Umständen nur schwer gelingen.
Doch warum haben es vermittelnde Instanzen wie auch Parteien und Verbände in Frankreich traditionell so schwer? Ein Grund hierfür liegt sicherlich auch in den durch das Denken Jean-Jacques Rousseaus geprägten rechtlichen und philosophischen Grundlagen der französischen Republik: Demnach ist der Staat direkter Ausdruck und Repräsentant der Bürger; vermittelnde Instanzen kommen nicht vor und werden sogar als hinderlich für die Verwirklichung der volonté générale – des Gemeinwillens – gesehen. So waren Gewerkschaften und Verbände bis Ende des 19. Jahrhunderts gesetzlich verboten und entwickelten sich in der Folgezeit nur zögerlich.
Der Bürger im politischen System
In Frankreich richten sich Massenproteste, die oft mit Streiks einhergehen, häufig gegen Entscheidungen der Regierung: 2006 sorgten Studentenproteste gegen das CPE (contrat première embauche, Vertrag zur Ersteinstellung, der die Entlassung von Arbeitnehmern unter 26 Jahren ohne Vorankündigung ermöglicht hätte) monatelang für blockierte Hörsäle; die 2010 durchgeführte Rentenreform, die den jahrzehntelangen Grundsatz der 'Rente mit 60' abschaffte und das Renteneintrittsalter erhöhte, mobilisierte über mehrere Wochen Millionen von Franzosen. Scheinbar gelingt es nicht, gesellschaftlichen Widerspruch bereits vor dem Gesetzgebungsprozess in die Entscheidungsfindung aufzunehmen. Mehrere Faktoren, die sich aus der Struktur des politischen Systems ergeben, tragen dazu bei:
Frankreichs Verfassung sieht ein semi-präsidentielles Regierungssystem vor, das in seiner Funktionsweise ganz auf die Figur des Präsidenten und die Regierung zugeschnitten ist. Das Parlament, das traditionell die verschiedenen in der Bevölkerung vorhandenen Meinungen repräsentiert und in die Ergebnisse der Politik einbringen soll, hat in diesem System nur wenige Befugnisse. Somit kann es zwar die Rahmenbedingungen, nicht aber die konkrete Ausgestaltung der
Interner Link: Bildungs- und Sozialpolitik beeinflussen, wodurch es immer wieder gerade in diesen Bereichen zu oft polarisierenden Entscheidungen durch die Regierung kommt.Die Zuständigkeiten der einzelnen Institutionen sind in Frankreich klar definiert; Kompetenzüberschneidungen und damit ein System der gegenseitigen Kontrolle gibt es nur in geringem Maß. Auch werden nicht-politische Akteure wie Verbände, Nichtregierungsorganisationen oder Gewerkschaften nicht in den Entscheidungsprozess mit einbezogen, wodurch Gesetze selten das Ergebnis von Kompromissen sind. Durch die klare Kompetenzverteilung bieten sich den Bürgern und der Opposition jedoch auch klare Angriffspunkte für Protest: Während in Deutschland die Verantwortung oft durch die vielen Kontroll- und Kompromissmechanismen versickert, lässt sie sich im Nachbarland leicht auf die Regierung oder bestimmte Minister zurückführen.
Auch die Art des Wahlrechts stellt einen Faktor dar, der für den Grad der Vielfältigkeit der im Parlament vertretenen Interessen wichtig ist. Durch das in Frankreich angewandte Mehrheitswahlrecht ist es für kleine Parteien, die Partikularinteressen vertreten, schwierig bis unmöglich, im Parlament repräsentiert zu sein. Sie organisieren sich also stärker außerhalb der politischen Institutionen und nutzen Streik- und Protestbewegungen, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.
Frankreich ist das Paradebeispiel eines zentralistischen Staates, dessen Wirtschaft und Verwaltung trotz diverser
Interner Link: Dezentralisierungsmaßnahmen ganz klar auf Paris als Machtzentrum konzentriert bleiben. Dadurch fehlt nicht nur eine weitere Ebene, auf der Entscheidungen verhandelt und getroffen werden, sondern es entsteht auch bei vielen Bürgern das Gefühl, die Politik werde in der Hauptstadt weit entfernt von ihrer Lebenswirklichkeit gemacht.Entscheidend sind zudem verfassungsrechtlich ermöglichte Alternativen zu Protest, mit denen Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen ausgedrückt werden kann: In Deutschland bieten die Verfassungsbeschwerde und die Möglichkeit lokaler und regionaler Volksentscheide eine solche Alternative; in Frankreich hat der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) hingegen keine entsprechenden Befugnisse und ein nationales Referendum kann nur auf Initiative der Regierung, des Präsidenten oder des Parlaments durchgeführt, nicht aber durch die Bürger selbst initiiert werden.
Hohe Ideologisierung und große Erwartungen an die Politik
Neben der Rolle von Gewerkschaften und den Strukturen, die das politische System vorgibt, haben auch die Grundwerte einer Gesellschaft wesentlichen Einfluss auf ihr Protestverhalten. Wenn sie auch schwer messbar sind, so lassen sich doch einige wichtige Feststellungen treffen: Erstens lässt sich in Frankreich ein hoher Grad an politischer Polarisierung und Ideologisierung beobachten, der zu einer eher konfrontativen Protest- und Streikkultur führt. Die französische Linke ist stark ausdifferenziert zwischen der gemäßigten Parti socialiste (PS) und verschiedenen radikalen Parteien wie der Parti communiste française (PCF), der Lutte ouvrière und der Ligue communiste révolutionnaire (LCR, seit 2009 Nouveau parti anticapitaliste). Zwar haben letztere in der Regierungspolitik kaum Bedeutung, sie sind aber in zivilgesellschaftlichen Bereichen wie zum Beispiel in der Gewerkschaft CGT umso präsenter und beeinflussen den Verlauf von Protesten.
Zweitens haben Franzosen ein im europäischen Vergleich übermäßig hohes Vertrauen in das
Zuletzt haben globale Prozesse einen wesentlichen Einfluss auf das nationale Selbstverständnis und sind somit ein weiterer wichtiger Faktor, der Protest beeinflusst. In der Tat zeigen Ergebnisse der European Value Survey deutlich, dass Franzosen eine weit stärkere Angst vor einem Macht- und Identitätsverlust ihres Landes haben, als ihre europäischen Nachbarn. Die Befürchtung, durch Globalisierungs- und Europäisierungsprozesse sowohl wirtschaftlich als auch politisch an Souveränität zu verlieren, bestimmt den politischen Diskurs in Frankreich seit mehreren Jahrzehnten in besonderem Maße. Dies äußert sich in zahlreichen Streiks, einer starken Anti-Globalisierungsbewegung sowie der Erstarkung globalisierungskritischer Strömungen im rechten und linken Spektrum der politischen Meinungen.
Die Wirtschaftskrise: Antrieb oder Bremse für Proteste?
In Frankreich ist also die Alltäglichkeit von Protest eine Mischung aus Einstellungsmustern und der Reaktion auf ein politisches System, das sich gesellschaftlichem Input eher verschließt. Anders als in Deutschland finden die Interessen der Bürger nicht durch zahlreiche indirekte Kanäle ihren Weg in den politischen Entscheidungsprozess, sondern sie werden häufig direkt und öffentlich durch Proteste und Streiks artikuliert.
Die Tatsache, dass seit 2012 mit François Hollande zum zweiten Mal in der Geschichte der Fünften Republik ein sozialistischer Präsident an der Spitze des Landes steht, könnte zwar dazu beitragen, dass sich bestimmte Gruppierungen besser vertreten fühlen. Jedoch ist die aktuelle wirtschaftliche Lage von einer hohen