Im Gegensatz zur Bundesrepublik hat Frankreich einer zentralen, staatlich gesteuerten Elitebildung nie misstraut. Im Zuge der Französischen Revolution wurden die Grundsteine dafür gelegt. 1794 entstand die "Ecole Normale Supérieure", die hochqualifizierte und ideologiefeste Lehrkräfte hervorbringen sollte. Napoleon I. erkannte rasch die Nützlichkeit einer gut ausgebildeten, selbstbewussten Staatselite und verstärkte das neue System. Die "Ecole Polytechnique" wurde dem Kriegsministerium zugeteilt, für den Bergbau entstand die "Ecole de Mines". Nach diesem Prinzip gründete sich jedes Ministerium seine eigene Elitehochschule. Insgesamt 221 Grandes Ecoles zählt heute der Verband der französischen Elitehochschulen. Von der Universität nach dem Humboldtschen Vorbild hingegen wandte Frankreich sich lange ab. Die Sorbonne in Paris etwa wurde nach der Revolution für Jahrzehnte stillgelegt. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlangte die "université" ihre Geltung zurück. Bis heute bekommen die französischen Universitäten – allen Reformen zum Trotz – zu spüren, dass sie für die talentiertesten Abiturienten nur zweite Wahl sind.
Eine der jüngsten, aber dennoch bekanntesten Kaderschmieden der Nation ist die Ecole Nationale d’Administration (Ena). Sie hat aller Kritik getrotzt und erlebt an ihrem neuen Standort in der Europastadt Straßburg gerade so etwas wie eine Renaissance. In der Wirtschaftskrise streben mehr junge Franzosen denn je in den Staatsdienst. Die Ena bildet das Herzstück der französischen Form der Elitebildung, die in Europa ihresgleichen sucht. Ihr prominentester Repräsentant ist kein anderer als Präsident François Hollande. Auch seine Vorgänger im Elysée-Palast, Jacques Chirac und Valéry Giscard d’Estaing, waren an der Ena ausgebildet worden.
Der Königsweg der "Enarchie"
Den Anstoß zur Ena-Gründung hatte Charles de Gaulle gegeben, der aus dem Versagen der politischen Elite vor und im Zweiten Weltkrieg die Konsequenzen ziehen wollte. Mit Michel Debré, seinem späteren Premierminister, entwickelte er das Konzept einer zentralen Ausbildungsstätte für hochbegabte Männer und Frauen, denen der Wiederaufbau des Landes an den Schlüsselstellen des Staatsdienstes übertragen werden sollte. Im Herbst 1945 setzte de Gaulle die Gründung der Ena gegen den Widerstand der vom Korpsgeist durchdrungenen hohen Beamtenschaft durch. Im ersten Jahrgang, der sich "France combattante" ("Das kämpfende Frankreich") nannte, ahnten die Absolventen nicht, welch glorreiche Zukunft der Ena bevorstand. "Niemand wusste, was aus der Ena werden würde. Das war ein komplettes Geheimnis", erinnert sich Yves Guéna, der dem ersten Jahrgang angehörte und später den französischen Verfassungsrat leitete.
Heute liest sich das Verzeichnis der Ena-Absolventen wie das Who’s who in anderen Ländern. Kritiker sprechen gar von einem Ena-Machtkartell. Aus der politischen Führungselite und auch in der Privatwirtschaft sind die "Enarchen" nicht mehr wegzudenken. "Pantouflage" nennen die Franzosen den gemütlichen Einstieg "in Pantoffeln" von Ena-Absolventen in den Führungsetagen börsennotierter Unternehmen. Eine Studie belegt, dass 52 Prozent der Ena-Absolventen mehr als die Hälfte ihres Berufslebens außerhalb ihrer ursprünglichen Behörde verbringen. Und von jenen, die sich von den hochdotierten Jobs in der Privatwirtschaft anlocken lassen, kehren nur 17 Prozent in den Staatsdienst zurück.
Die Ena verkörpert zugleich ein fundamentales französisches Manko: Während es in anderen Ländern mehrere Eliten gibt, hat Frankreich eigentlich nur eine. Über die "Enarchie", die wortspielerische Bezeichnung für die Allgegenwart und die Herrschaft der Ena, wird seit Ende der Sechziger Jahre heftig debattiert. Das liegt auch daran, dass die Ena sich immer mehr als wichtigste Vermittlungsinstanz für politische Karrieren profiliert hat. Ein Besuch der Kaderschmiede führt nicht nur an die Spitze der Ministerialbürokratie und in die angesehenen Verwaltungskorps (grands corps) der Finanzinspektion, des Rechnungshofes und des Staatsrates, sondern immer häufiger in politische Machtpositionen.
Eine homogene Führungsschicht
Einer der ersten, der gegen das "System Ena" aufbegehrte, war der spätere Minister Jean-Pierre Chevènement. In seinem Buch "Die Enarchie oder die Mandarine der bürgerlichen Gesellschaft" kritisierte er, dass an der französischen Elitebildung etwas faul sei. Chevènement führt die mangelnde soziale Durchmischung an, ein Phänomen, das sich seither eher noch verstärkt hat. Nur neun Prozent der Ena-Absolventen entstammen der Arbeiterklasse, 1950 waren es noch 29 Prozent. Daran hat auch die Einführung von Eingangstests für verdiente Staatsbedienstete oder begabte Außenseiter wenig geändert. Chevènements Kritik am Kastendenken einer selbstzufriedenen Führungsschicht und an der fehlenden Öffnung für andere Horizonte bleibt aktuell.
Dass die politische Elite in Frankreich eine überraschende Homogenität im Führungsstil, in der Art der Verhandlungsführung, bei der Aktenbearbeitung oder der Repräsentation Frankreichs aufweist, ist dabei nicht allein auf die Ena zurückzuführen. Vielmehr erklärt sich die Prägekraft der seit 1991 nach Straßburg verlegten Verwaltungshochschule dadurch, dass deren Absolventen schon vorher ähnliche Ausbildungswege zurückgelegt haben. Das nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 gegründete Institut d’Etudes Politiques de Paris ("Sciences Po") hat sich als Quasi-Pflichtstation zur Vorbereitung auf die Ena-Aufnahmeprüfung etabliert. Den harten Selektionsmechanismus bestehen Bewerber besser, deren Ausdrucks- und Arbeitsweise schon zuvor an "Sciences Po" genormt wurde.
Vor einigen Jahren hat "Sciences Po" begonnen, sich verstärkt Bewerbern aus sozial benachteiligten Wohnvierteln zu öffnen. Doch trotz dieser Offensive hin zu einer stärkeren sozialen Durchmischung bleibt auch diese Elite-Universität ein Bollwerk der Bourgeoisie. Laut der jüngsten Statistik aus dem Jahr 2010/11 stammen 63,5 Prozent der Studenten aus der bürgerlich-intellektuellen Oberschicht. Vier Jahre zuvor belief sich der Anteil der aus dem gehobenen Bildungsbürgertum stammenden Studenten auf 57,6 Prozent. Der Anteil von Arbeiterkindern hingegen stagniert. Das zeigt, wie weit sich die Realität der französischen Eliteselektion vom Grundgedanken einer allein auf Leistung und Verdienst beruhenden Auswahl entfernt hat.
Anachronismus in einer globalisierten Welt
Die Schlüssel zum Erfolg haben sich nicht geändert. Auch die Art der Ausbildung ist nicht grundlegend revidiert worden. In ihrem Buch "Die Unberührbaren" spricht die Journalistin Ghislaine Ottenheimer von "unglaublich sterilen Lehrmethoden, die alle Kreativität und Innovationskraft abtöten". Das klassische Verfahren sei, dass den Ena-Absolventen ein Berg von Dokumenten ausgehändigt werde und sie danach bewertet würden, wie sie diese Informationen möglichst kurz und elegant zusammenfassen, bemängelt Ottenheimer. Auch an der entscheidenden Bedeutung des "classement", der in einer Abschlussprüfung ermittelten Rangordnung hat sich nichts geändert. Hollandes Vorgänger Nicolas Sarkozy wollte die Rangordnung abschaffen, doch in einer seiner letzten Amtshandlungen im Mai 2012 vereitelte dies sein Regierungschef. Zwar sind auch die Bestplatzierten künftig verpflichtet, sich einem "Bewerbungsgespräch" zu stellen, aber sie müssen weiterhin vorrangig behandelt werden.
So ändert sich nichts daran, dass die Abschlussprüfung über den weiteren Karriereverlauf bis ins Pensionsalter entscheidet. Wer es unter die ersten 15 schafft, dem sind hohe Posten sicher. Kritiker sehen darin einen Grund für die Verkrustung der politischen Elite. Wer einmal in seiner Jugend gute Noten hatte, glaubt lebenslang Anspruch auf eine Sonderbehandlung zu haben. Aus Sicht des früheren Europaministers Pierre Lellouche ist die französische Form der Elitebildung den Herausforderungen einer globalisierten Marktwirtschaft nur bedingt gewachsen. In den Boomjahren zwischen Kriegsende und Ölkrise sei die Heranbildung einer nationalen Führungskaste noch sinnvoll gewesen. Aber im Kontext der Globalisierung stelle die Ena einen Anachronismus dar und bilde ein Hindernis für die Modernisierung Frankreichs. Dabei hat die Kaderschmiede sich zusehends europäisiert und entsendet ihre Absolventen zum Praktikum gern auch ins außereuropäische Ausland.
Was bleibt vom meritokratischen Traum?
Aber das ändert nichts an der einzigartigen Konzentration der politischen Elite Frankreichs auf Paris. In wohl keinem anderen europäischen Land sind fast die gesamten Mitglieder der politischen Elite auf engstem Raum anzutreffen wie dies bei Empfängen in Paris nicht selten der Fall ist. Die räumliche Nähe stiftet dabei auch eine kulturelle Affinität, die durch die ständige Beobachtung und den Austausch mit den Medien noch verstärkt wird. Diese Besonderheiten der politischen Elite in Frankreich gehen einher mit einem wachsenden Misstrauen, das ihr von der Bevölkerung entgegengebracht wird. François Hollande profilierte sich nicht ohne Grund als "normaler" Präsident. Der Unmut über die traditionelle Führungskaste sitzt tief, so tief, dass Hollande am liebsten vergessen machen würde, wie sehr er sich seinem Ena-Jahrgang verpflichtet fühlt. Wichtige Schlüsselposten vertraute er Jahrgangskameraden an: Jean-Pierre Jouyet etwa die Leitung der staatlichen Caisse de Dépôts et Consignations (das französische Pendant zur Kreditanstalt für Wiederaufbau) und Sylvie Hubac sein persönliches Sekretariat. Einen anderen Jahrgangskameraden, Pierre-René Lemas, beförderte er zum Generalsekretär des Elysée-Palastes. Der nach dem Dichter Voltaire benannte Ena-Jahrgang hatte Frankreich zuvor schon die Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal und den Premierminister Dominique de Villepin beschert.
Hollande spricht, auch darin ein typischer Repräsentant der politischen Elite, gerne vom republikanischen Traum, allein durch schulische Verdienste aufzusteigen, ohne Rücksicht auf Herkunft und Geld. Doch vom meritokratischen Ideal hat sich Frankreichs politische Elite entfernt – auch wenn es sich in Sonntagsreden anders anhört.