"Es wird hitzig diskutiert, ob man die Wahlen boykottieren soll"
Adnan Tabatabai
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In Iran wurde am 21. Februar 2020 ein neues Parlament gewählt. Die Wahlbeteiligung war so niedrig wie noch nie. Teile der Bevölkerung hatten schon im Vorfeld angekündigt, die Wahl boykottieren zu wollen. Warum die Wahlbeteiligung wichtig war und um welche Themen es ging, erklärte der Politikwissenschaftler und Iran-Experte Adnan Tabatabai vor der Wahl im Interview.
bpb.de: Am 21. Februar wählen die Iraner und Iranerinnen ein neues Parlament. Was ist das entscheidende Wahlthema?
Adnan Tabatabai: Bei Parlamentswahlen in Iran ist immer zu unterscheiden zwischen der Provinz Teheran, dazu zählt die Hauptstadt plus angrenzende kleinere Orte, und den anderen Provinzen. In Teheran sind die großen nationalen und internationalen Themen mit auf der Tagesordnung: Dazu gehört zum Beispiel die Diskussion um das Interner Link: Atomabkommen. Besonders die wirtschaftliche Situation des Landes ist ein Thema, das in Teheran und in den Provinzen intensiv diskutiert wird. Außerhalb Teherans geht es stärker um regionale und alltägliche Themen, etwa Fragen der lokalen Infrastruktur, des Arbeitsmarktes oder der medizinischen Versorgung.
Iran hat gewählt
Bei der Parlamentswahl in Iran zeichnet sich ein deutlicher Sieg der Konservativen und Hardliner ab. Mindestens 219 der 290 Parlamentssitze gingen laut ersten Ergebnissen an Kandidaten des konservativen Lagers, darunter alle Sitze in der Hauptstadt Teheran. Die Reformer um Präsident Hassan Rouhani konnten nur rund 20 Sitze gewinnen. Bislang stellte das moderate und reformorientierte Lager die Mehrheit im Parlament. Bereits im Vorfeld der Wahlen wurden Tausende Bewerberinnen und Bewerber von der Wahl ausgeschlossen, darunter auch einige Abgeordnete der reformorientierten Parteien.
Die Wahlbeteiligung lag landesweit bei 42,6 Prozent (2016: 61,6 Prozent) und damit so niedrig wie noch nie seit der Islamischen Revolution von 1979. In der Hauptstadt Teheran gab nur etwa ein Viertel der Wahlberechtigten seine Stimme ab. In mindestens elf Wahlkreisen findet im April ein zweiter Wahlgang statt.
Das ist eine Palette an Themen. Aber überwiegen nicht die sozialen Aspekte – auch in Teheran? Die Arbeitslosigkeit in Iran ist sehr hoch, vor allem unter jüngeren Leuten. Die Lebensstandards verschlechtern sich. Im November 2019 gab es landesweit soziale Proteste. Wie wichtig sind soziale Fragen?
Sie sind natürlich von großer Bedeutung und immer Thema bei Wahlen. Aber vor allem außerhalb Teherans. Dort ziehen die großen politischen Themen von globaler Bedeutung weniger stark: Es geht den Menschen darum, wer der Kandidat oder die Kandidatin ist, der ihre lokalen Anliegen in das nationale Parlament tragen kann. Dieses Mal ist die Stimmung relativ aufgeheizt. Auch wegen der Proteste vom November 2019. Diese wurden von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen; Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 300 Toten. Die große Frage bei der Parlamentswahl wird sein, wie hoch nach diesen Vorfällen überhaupt die Wahlbeteiligung sein wird. Das ist die wichtigste Frage, die sich alle stellen.
Erwarten Sie auch, dass die Wahlbeteiligung relativ gering sein wird?
Ich vermute, dass sie geringer ausfallen wird als in den letzten Jahren. Die Wahlbeteiligung lag landesweit immer bei weit über 50 Prozent. In der Provinz Teheran war sie stets niedriger – häufig bei unter 30 Prozent. Wenn man also zurzeit für Teheran 28 Prozent voraussagt, ist das nichts Neues. Aber landesweit will die Islamische Republik eine Wahlbeteiligung von über 50 Prozent vorweisen können – und das ist das große Fragezeichen.
In Iran starten die Kampagnen bei den Parlaments- und auch bei den Präsidentschaftswahlen sehr kurzfristig: Das geht erst in der letzten Woche richtig los. Wähler und Wählerinnen können also noch mobilisiert werden und plötzlich ist die Wahlbeteiligung doch höher als vermutet. Das müssen wir abwarten.
Wie funktioniert der Wahlkampf in Iran? Ist das vergleichbar mit Deutschland – mit TV-Debatten oder Kandidaten, die sich in ihrem Wahlkreis den Fragen der Wählerinnen und Wähler stellen?
Es gibt manche Parlamentsabgeordnete, die bekannter sind, und auch schon einmal in TV-Sendungen auftauchen. Aber das sind keine Wahldebatten wie vor Präsidentschaftswahlen. Manche Kandidaten produzieren Videoclips, die sie über die Kanäle ihrer sozialen Medien verbreiten. Es gibt Wahlveranstaltungen, die häufig in Moscheen, in Schulen und an Universitäten stattfinden. Die sind durchaus vergleichbar mit Deutschland, wo Lokalverbände der Parteien Wahlveranstaltungen vor Ort anbieten.
Außerdem wird massiv auf den Straßen plakatiert. Man sieht überall die vielen möglichen Wahllisten mit Namen, häufig auch mit Fotos der Kandidaten. Diejenigen, die mehr Budget haben, machen größere Banner. Bei den Präsidentschaftswahlen ist der Wahlkampf aber wesentlich größer.
Am 21. Februar stehen rund 10.000 Kandidaten zur Wahl, aber noch mehr wollten sich zur Wahl aufstellen. Doch in Iran entscheidet der Wächterrat darüber, wer antreten darf. Fast 5.000 dürfen nicht. Warum?
Offiziell heißt es, die Kandidaten hätten sich durch Vetternwirtschaft und korrupte Machenschaften selber disqualifiziert. Das wird bei einigen Kandidaten stimmen, Korruption ist ein großes Problem in Iran. Aber bei vielen Kandidaten und Kandidatinnen aus dem Reformlager ist das vorgeschoben: Es geht darum, dass ihre politische Haltung dem Wächterrat schlichtweg nicht passt.
Die Disqualifizierung von Kandidaten stößt bei jeder Wahl auf massive Kritik – auf gesellschaftlicher und auf politischer Ebene. In der Politik vor allem bei jenen, die betroffen sind. Anfang Februar 2020 wurde verkündet, dass die Regierung unter Präsident Hassan Rouhani dem Parlament einen Gesetzesentwurf vorlegen will, mit dem die Kompetenzen des Wächterrats bei Wahlen eingeschränkt werden sollen. Das ist gut, aber der Wächterrat muss jedes Gesetz bestätigen, und er wird vermutlich kaum einem Gesetz zustimmen, das seine eigenen Kompetenzen einschränkt.
Es wurden 90 Kandidaten vom Wächterrat disqualifiziert, die zurzeit im Parlament sitzen. Sind das diese kritischen Stimmen, die man lieber nicht wieder im neuen Parlament haben will?
Zum Teil ganz sicher, daran gibt es nichts zu deuten. Aber es gibt tatsächlich auch Kandidaten, die sich im Zuge ihrer Tätigkeit als Parlamentarier bereichert haben. Ich kann nicht sagen, in welchem Verhältnis diese beiden Gründe der Disqualifizierung zueinander stehen. Aber es besteht kein Zweifel, dass die Disqualifizierung von Kandidaten durch den Wächterrat auch eine Art des politischen Zurechtrückens des Parlaments ist. Das betrifft kritische Stimmen der reformorientierten und moderaten Kräfte. Aber in der Vergangenheit wurden auch weit rechtsaußen stehende Hardliner nicht zugelassen aufgrund ihrer zu konfrontativen Art und Weise. Das sind eben diese politischen Geschmäcker, die der Wächterrat einsetzt, um Kandidaten zu disqualifizieren.
Das iranische Parlament
Das politische System des Iran Interner Link: kombiniert republikanische und theokratische Institutionen. An der Spitze der Islamischen Republik steht seit 1989 der Revolutionsführer Ali Chamenei, dessen Amtszeit nicht begrenzt ist. Von den iranischen Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt werden auf nationaler Ebene der Präsident, das Parlament und der Expertenrat.
Das iranische Parlament, das Madschlis, verfügt derzeit über 290 Sitze. Die Sitze werden alle vier Jahre nach einem Mehrheitswahlrecht vergeben. Gewählt ist, wer in einem der über 200 Wahlbezirke die im ersten Wahlgang erforderliche Mehrheit von einem Fünftel der abgegebenen Stimmen erhält. Bei Bedarf findet im Frühjahr ein zweiter Wahlgang statt. Fünf Sitze im Madschlis sind den religiösen Minderheiten vorbehalten (Zoroastrier, Juden, assyrisch-chaldäische sowie armenische Christen).
Interner Link: Wahlberechtigt für das Parlament sind alle iranischen Bürgerinnen und Bürger, die mindestens 18 Jahre alt sind. Bei der anstehenden Parlamentswahl am 21. Februar sind knapp 58 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen. Kandidieren dürfen Iranerinnen und Iraner zwischen 30 und 75 Jahren islamischen Glaubens. Alle Kandidaturen sind vom Wächterrat im Vorfeld der Wahl überprüft worden: Berichten zufolge hat das Gremium mehr als 90 der 290 Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht zur Wiederwahl zugelassen. Von 16.000 Bewerberinnen und Bewerbern wurden etwa 9.000 abgelehnt. Internationale Wahlbeobachtungsmissionen werden bei Wahlen in Iran nicht zugelassen.
Das Parlament stimmt über den Haushalt ab und beschließt Gesetze. Aber auch hier besitzt der Wächterrat ein Vetorecht: Das Gremium entscheidet, ob die Gesetze gegen die Verfassung oder die Leitlinien des Islam verstoßen und kann somit Entscheidungen blockieren.
Sie haben gesagt, der Wahlkampf geht erst in den Tagen vor der Wahl richtig los. Wie groß ist das öffentliche Interesse? Überwiegt der Frust und damit das Desinteresse?
Die Menschen sind frustriert und desillusioniert von dem, was ihr Staat für sie leistet. Aber diese Stimmung ist auch sehr politisiert. Die Parlamentswahl ist absolut Thema, aber eben nicht in dem Sinne, dass die Bürger und Bürgerinnen mit voller Begeisterung an ihr teilnehmen wollen. Es wird hitzig diskutiert, ob man an den Wahlen teilnehmen oder sie boykottieren soll.
Diese Frage stellen sich Wählerinnen und Wähler allerdings seit mehr als 20 Jahren. Und ich kann Ihnen sagen, dass häufig noch am Wahltag selbst ein großer Stimmungsumschwung entstehen kann – in die eine oder andere Richtung. Ich war bei einigen Wahlen am Wahltag in Iran dabei: Man sieht förmlich, dass Leute noch in letzter Sekunde entscheiden, vielleicht doch wählen zu gehen. Es kann noch in den letzten Tagen einen Umschwung geben.
Wer oder was könnte solch einen Umschwung bringen?
Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube, Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Fragen der Teilhabe am Arbeitsmarkt sowie an der politischen Realität des Landes. Es gelingt im Moment keiner politischen Strömung des Landes, der Wählerschaft das Gefühl zu geben, dass man sie bei diesen Fragen abholt. Es gibt in Iran eine solide, starke Basis, die an das System der Islamischen Republik glaubt – und die wird am Wahltag präsent sein und den Ausgang maßgeblich beeinflussen, falls ein Großteil der Bevölkerung der Wahl fern bleibt.
Der Frust in der Bevölkerung über die politische Führung sitzt tief. Präsident Rouhani hat Wahlversprechen aus verschiedensten Gründen – für vieles kann er selber nichts – nicht einhalten können. Das ist natürlich Nährboden für seine Kritiker, die versuchen, damit zu punkten. Wir brauchen uns nicht auf die Überraschung einstellen, dass bei der Wahl ein reformorientiertes Parlament herauskommt.
Bleibt die Zusammensetzung des Parlaments nach der Wahl in etwa gleich – wenn man auf die politischen Lager schaut?
Es wird eine Verschiebung nach rechts geben: Wir haben im Moment eine leichte Mehrheit von Parlamentariern, die eher der Regierung Hassan Rouhani und seiner vergleichsweise moderaten Amtsführung nahestehen. Diese parlamentarische Strömung der Moderaten wird sicherlich ihre Mehrheit im Parlament verlieren. Aber das Parlament selbst wird sich in seiner Bedeutung nicht verändern. Es bleibt ein – vor allem – diskursiver Raum, ein Raum für Debatten in der Öffentlichkeit. Die Parlamentsdebatten im Plenum werden im Staatsfernsehen live übertragen.
Die außenpolitischen oder wichtige nationalen Entscheidungen werden nicht im Parlament getroffen. Das Parlament in Iran bekommt seine Bedeutung erst im Zusammenspiel mit der Regierung: Hat die Regierung die parlamentarische Mehrheit hinter sich, kann sie Programme nach vorne bringen. Hat die Regierung diese Mehrheit nicht, kann das Parlament mit seiner Debatten- und auch Kontrollfunktion der Regierung das Leben schwer machen. Deshalb wird es für Hassan Rouhani in seinem letzten Jahr als Präsident vermutlich noch schwieriger, seine Politik durchzusetzen.
Das Interview führte Sonja Ernst im Auftrag von bpb.de.
Adnan Tabatabai ist Geschäftsführer des Forschungszentrums CARPO mit Schwerpunkt Nah- und Mitteloststudien. Als Iran-Experte berät er europäische Politik und Wirtschaft zu Fragen rund um Irans Innen- und Außenpolitik. Tabatabai ist regelmäßig mit Kommentaren und Analysen zu Entwicklungen in und um Iran in den internationalen Medien vertreten. Er ist Autor des Buches "Morgen in Iran: Die Islamische Republik im Aufbruch" (2016, Edition Körber).
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