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Chinesische Literatur in Moderne und Gegenwart | China | bpb.de

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Chinesische Literatur in Moderne und Gegenwart

Prof. Dr. Wolfgang Kubin Wolfgang Kubin

/ 8 Minuten zu lesen

Schon immer wurde chinesische Literatur auch zu ideologischen Zwecken eingesetzt. Vor allem in der Gründerzeit der Volksrepublik. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis sich die Schriftsteller-Szene von dieser Bürde befreien konnte. Heute dominieren Bestseller-Autoren den Markt.

Buchhandlung in Peking. (© AP)

Im Gegensatz zur Tradition, die mit dem Sturz des Kaiserreichs 1911 endet, ist die Literatur der Moderne (1912 bis 1949) und der Gegenwart (seit 1949) in China gut erforscht und vielfältig übersetzt. Über ihren Wert ist schematisch wie folgt befunden worden: So wie die klassische Literatur gehört auch diejenige der Moderne zu großen Teilen zur Weltliteratur. Dagegen hat es nach 1949 Einbrüche aus ideologischen Gründen gegeben, von denen sich die chinesische Literatur der Gegenwart auf dem Festland erst mit Beginn der Reformperiode (1979) langsam hat erholen können. Ihre Kommerzialisierung im Rahmen einer auf bloßen Gewinn ausgerichteten wirtschaftlichen Entwicklung (seit 1992) stellt diesen Erfolg inzwischen allerdings wieder in Frage.

Eine gerechte Einschätzung der chinesischen Literatur nach 1912 ist deswegen so schwierig, weil streng gesehen zu unterscheiden wäre zwischen einer chinesischsprachigen Literatur, die weltweit verfasst, und einer Literatur, die einem politischen Staatsgebilde zugeordnet wird. Chinesische Literatur wird nämlich nicht nur in der Volksrepublik China geschrieben, sondern auch auf Taiwan, in den "administrativen Sonderzonen" Hongkong und Macau sowie in Übersee (Malaysia, USA usw.). Die vielfältigen heutigen Publikationsmöglichkeiten erschweren oft die eindeutige Zuordnung der Autoren zu einem Land oder Gebiet. Der aus Peking stammende Dichter Bei Dao (Jahrgang 1949) zum Beispiel lebt inzwischen mit amerikanischem Pass in Hongkong und publiziert seine (politischen) Gedichte zuerst auf chinesisch in den USA oder auf Taiwan, bevor sie später gegebenenfalls auch auf dem Festland erscheinen können, wo er Einreiseverbot hat. Von Schriftstellern wie diesen redet man inzwischen in der Volksrepublik China gelegentlich als Nicht-Chinesen!

Vier Daten können für die Entwicklung der chinesischen Literatur nach Ausrufung der Republik (1912) als wichtig veranschlagt werden: 1919, 1942, 1979 und 1992.

Chinesische Renaissance

Die Studentenbewegung vom 4. Mai 1919 wird oftmals als der Beginn einer chinesischen Renaissance dargestellt. Dies ist insofern möglich, als mit der Rezeption der westlichen Moderne ein geistiger Umgestaltungsprozess einsetzte, der bis heute nicht beendet ist und sich unter die damaligen Schlagworte "Mr. Science" und "Mr. Democracy" zusammenfassen lässt. Ahnherr des neuen Denkens ist der Vater der modernen chinesischen Literatur, Lu Xun (1881 bis 1936). Er ist der Schöpfer der modernen Erzählung, des modernen Essays, des modernen Prosagedichts und vor allem einer modernen Sprache und Weltanschauung. Beispielhaft ist seine "Wahre Geschichte des Herrn Jedermann" (1921/22), in welcher er den Charakter "seines" typischen Chinesen entwirft, der nach oben buckelt, aber nach unten tritt. Was Sprachkraft und scharfes Denken angeht, ist Lu Xun bis heute im chinesischen Sprachraum unübertroffen. Gleichwohl beginnt sein Einfluss seit 1992 zu sinken, weil das erstarkende China sich nicht mehr einen Sklavencharakter als seinen Wesenszug nachsagen lassen möchte.

Wenn wir in einem Atemzug mit Lu Xun von einer Mutter der modernen chinesischen Literatur sprechen wollen, so wäre die Autorin Bing Xin (1900 bis 1999) zu nennen, mit der die Frauenliteratur in China einsetzt. Sie war die erste Schriftsteller-Persönlichkeit, die in jungen Jahren befähigt war, mit Hilfe der sogenannten Umgangssprache moderne Gedichte zu verfassen und die bislang gültige Schriftsprache aus der Lyrik zu verweisen. Ihre in ihren Erzählungen veranschaulichte Philosophie der Liebe ist heute noch von großer Aktualität. Während Bing Xin einen versöhnlichen Feminismus vertritt, ist in Ding Ling (1904 bis 1986) eine radikale Feministin zu sehen, jedenfalls bis zu ihrer vollkommenen Hinwendung zur kommunistischen Sache im Jahr 1942. Berühmt gemacht hat sie ihr "Tagebuch der Sophia" (1928), das auch heute noch vor allem im Westen eine wichtige Rolle unter ihren Leserinnen spielt. Der Tenor ist eindeutig: Nur Frauen verstehen Frauen und bedürfen daher ihrer eigenen Welt. In ihrer Nachfolge haben die großen Erzählerinnen Xiao Hong (1911 bis 1942) und Zhang Ailing (1920 bis 1995) eindringliche Bilder vom bitteren Los der Frauen auf dem Land bzw. in der Stadt entworfen.

Wendung hin zur modernen Erzählkunst

Wie jede Moderne hat auch die chinesische Moderne die Wendung vom klassischen Gedicht zur modernen Erzählkunst vollzogen und damit die Ambivalenz als Stilmittel in die Literatur eingeführt. Die neuen Literaten, die alle Genres und Stilrichtungen des Westens erprobten, sahen sich aber bald in einem Dilemma gefangen: Die erhoffte Befreiung des Individuums blieb aus, der Einzelne war in den Kriegen und Nöten zum Untergang verdammt. Längst vor 1942, also vor Mao Zedongs Aussprache über Kunst und Literatur in Yan'an, hatten daher Schriftsteller eine Aufgabe des modernen Ich, zum Beispiel eine Aufgabe von Subjektivismus oder Modernismus, und einen Übergang zu Realismus und Kollektivismus gefordert. Die Kommunistische Partei Chinas hat die geistigen Tendenzen der Zeit damals lediglich zusammengefasst und um den Aspekt der (blinden) Parteinahme erweitert.

Nach der Beendigung des Bürgerkriegs (1946 bis 1949) beginnt sich China in zwei verschiedene Machtblöcke aufzuspalten, in die Volksrepublik China auf dem Festland und in die Republik China auf Taiwan. Auf beiden Seiten wird die Literatur vom Staat zunächst verwaltet und verfolgt, sodass nur wenige Werke den Geist der Zeit haben überdauern können. Dazu gehört das Stück "Das Teehaus" (1958) von Lao She (1899 bis 1966), ein dramatischer Abgesang auf das China der Moderne, und die Erzählung "Der Neuling in der Organisationsabteilung" (1956) von Wang Meng (Jahrgang 1934), eine systemimmanente Kritik am sozialistischen China. Lao She beging wie viele weitere Schriftsteller Selbstmord, Wang Meng wurde für gut zwanzig Jahre in die Verbannung geschickt. Auch auf Taiwan wurde eine moderne Literatur bekämpft, wenn sie kein Lob, sondern analytische Kritik bot. Die Literatur des vierten Mai war verboten, eine Reihe von Autoren verbüßte eine Haftstrafe.

Die Dinge änderten sich auf beiden Seiten der Taiwanstraße erst mit den Jahren 1979 und 1987. 1979 begann Peking, den Reformkurs in die Praxis umzusetzen, deren treibende Kräfte und Nutznießer auch die Autoren waren. Taipeh hob 1987 das Kriegsrecht auf, sodass die dortigen Schriftsteller heute so frei sind wie im Westen. Das Festland hat jedoch von der neuen Politik mehr profitiert als die Insel, was die Wahrnehmung von chinesischer Literatur in der ganzen Welt angeht. Die kritische Literatur der 1980er-Jahre, die hauptsächlich in Peking und Schanghai verfasst wurde, führte geradezu zu einem Boom der Sinologie in der Bundesrepublik Deutschland. Man schätzte die politische Diskussion von Chinas Weg seit 1949, die hauptsächlich in der Erzählkunst von den rehabilitierten Autoren geführt wurde, man pries die neue Frauenliteratur, die das weiterhin bestehende Patriarchat beklagte, vor allem aber begeisterte man sich für die neue hermetische Lyrik, die von der nach 1949 geborenen Generation verfasst und an die nachfolgende Generation gerichtet wurde. Zu den inzwischen weltberühmten Namen gehören neben dem erwähnten Bei Dao Gu Cheng (1956 bis 1993), Yang Lian (Jahrgang 1955) oder Duo Duo (Jahrgang 1951). Sie stehen für eine kritische Hinterfragung der chinesischen Geschichte, für eine Suche nach neuen praktikablen Werten und vor allem für die Kreation einer eigenen Sprache.

"Kampagne wider geistige Verschmutzung"

Die "Kampagne wider geistige Verschmutzung" (1983) und die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 haben nach und nach einen Exodus der bekanntesten Autoren bewirkt. Sie sind jedoch inzwischen mehrheitlich mit neuer Staatsbürgerschaft zurückgekehrt, um an chinesischen Universitäten einer Lehrtätigkeit nachzugehen. Für diese Entscheidung, die auch eine gewisse Toleranz auf Seiten des chinesischen Staates voraussetzte, war das Jahr 1992 ausschlaggebend. Damals hatte Deng Xiaoping (1904 bis 1997), Vater der chinesischen Reform, als erster Staatsmann in der chinesischen Geschichte seinem Volk Reichtum empfohlen: Armut sei kein Ruhmesblatt mehr wie noch unter Mao Zedong, sondern eine Schande, und Reichtum sei nicht weiter zu verachten, sondern eine Ehre.

Weniger Lyrik, mehr Romane

Diese neue Politik wirkte sich zweifach auf die Literaturszene aus: 1. Viele, auch sehr bekannte Schriftsteller gaben das Schreiben auf, um in den Hafenstädten oder Sonderzonen dem Gelderwerb nachzugehen. 2. Die Literatur wurde allmählich Teil des Marktes und damit in gewisser Hinsicht der Politik entzogen. Unter denjenigen, die weiter der Profession des Schriftstellers verpflichtet blieben, setzte ein Schwenk ein: Während die Erzähler mit Rücksicht auf eine weniger anspruchsvolle Leserschaft immer mehr marktorientiert schrieben, schufen die Dichter eine sprachlich und gedanklich höchst komplizierte Gegenwelt. Die Folge liegt auf der Hand: Die Lyrik – von Essay und Drama gar nicht zu sprechen –, wanderte an den gesellschaftlichen Rand, und die Erzähler begannen die Verlage und Buchhandlungen zu dominieren. Dieses Phänomen lässt sich nicht nur in China feststellen, es gilt inzwischen auch verallgemeinert für den Weltmarkt.

Belletristik-Autoren wie Mo Yan (Jahrgang 1956) oder Yu Hua (Jahrgang 1960) haben inzwischen ihre eigenen Agenten und verkaufen die Rechte an ihren Werken über amerikanische Agenturen in die ganze Welt. Beide lieben das Deftige und bevorzugen eine schnelle Schreibe. Allerdings muss man Autoren wie ihnen bescheinigen, dass sie sich immer noch ernsthaft mit gesellschaftlichen Belangen der chinesischen Gegenwart auseinandersetzen. Dies gilt weniger für die neue Pop-Literatur, die von den Medien herkommt und im Internet erprobt wird, bevor sie in den Druck geht. Hier sind Sex and Crime, Spaß und Konsum bevorzugte Themen. Vor allem junge Frauen sind ihre Verfasser, denen – so will es die Presse – inzwischen Kultstatus unter der Jugend nachgesagt wird. Trotz literarischer Dürftigkeit finden auch diese ihre Übersetzer und namhafte Verlage zum Beispiel in Deutschland. Ob China oder hierzulande: Die Auflagen sind in allen genannten Fällen sehr hoch, und zwar so sehr, dass Trittbrettfahrer gern beliebig viele Fortsetzungen schreiben.

Dass der chinesische Büchermarkt noch nicht ganz zum Spielball rein materieller und medialer Interessen geworden ist, ist den Dichtern zu verdanken, die eher im Ausland als im Reich der Mitte rezipiert werden. Im Gegensatz zu den Erzählern, die sich entweder der Tradition oder dem Mediengesetz verpflichtet haben, ist ihre Ästhetik überwiegend von der westlichen (Post-)Moderne geprägt. Ihre Werke erscheinen daheim nur in kleinen Auflagen bei kleinen Verlagen und sind oft von den Produzenten selber (mit-)finanziert. Die internationale Literaturszene dagegen hofiert sie in gewisser Hinsicht. Einladungen zu bedeutenden Literaturfesten, Publikationen in angesehenen Literaturzeitschriften oder gar großen Verlagen sind keine Seltenheit mehr. Namen wie die der Dichterin Zhai Yongming (Jahrgang 1955), 2007 zu Chinas bestem "Dichter" gekrönt, wie die von Ouyang Jianghe (Jahrgang 1956), Wang Jiaxin (Jahrgang 1957) oder Xi Chuan (Jahrgang 1963), die alle der sogenannten posthermetischen Schule zugeschlagen werden, sind mittlerweile im Ausland bekannter als in ihrer Heimat.

Während auf dem Festland durch die Verlage und Verleger noch eine gewisse Zensur ausgeübt wird – bestimmte Themen sind tabu –, haben die Autoren auf Taiwan und in Hongkong sowie Macau ihre schriftstellerische Freiheit noch nicht hinreichend für die Sache der chinesischen Literatur zu nutzen gewusst. Was auf dem Festland nicht geschrieben werden kann, hier könnte es zu Papier gebracht und auch verlegt werden. Gleichwohl lässt sich die eine oder andere bedeutende Persönlichkeit unter den Schriftstellern ausmachen, so zum Beispiel der (post-)moderne Leung Ping-kwan (Liang Bingjun, Jahrgang 1949) aus Hongkong oder die feministische Hsia Yü (Xia Yu, geb. 1956) in Taipeh. Beide vertreten eine kosmopolitische Haltung, die einmal Schule machen könnte.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Wolfgang Kubin, geb. 1945, Professor für Sinologie an der Universität Bonn, arbeitet auch als Übersetzer und Schriftsteller. Promotion über den chinesischen Dichter Du Mu. Seine Arbeitsschwerpunkte sind chinesische Literatur und Geistesgeschichte (Tradition, Moderne). Aktuelle Publikationen: Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert, Bd. 7, München 2005; Brüder, ungewiß oder Was zu erzählen bleibt – Eine Erzählung, Wien 2009.