USA beginnt, etwa in New York, Los Angeles, Miami oder Las Vegas, scheint Religion auf den ersten Blick keine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen. Kein Petersdom überragt die Skyline, kein Notre Dame das Stadtzentrum. Banken und Boutiquen dominieren New York, die Casinos Las Vegas, kleine Malls und große Filmstudios Los Angeles. In den Fernsehsendern läuft vor allem Werbung und über allem flattert der "Star Spangled Banner". In diesem Land scheinen Patriotismus, Konsum und Geld die Prioritäten zu sein, Religion dagegen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Doch wenn man den ersten Kaffee bezahlt und sich dabei die Dollarscheine genauer anschaut, entdeckt man auf der Rückseite das Motto "In God We Trust" ("Wir vertrauen auf Gott").
Seit den Zeiten des amerikanischen Bürgerkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts wurde begonnen, Geldstücke mit diesem Slogan zu prägen. 1957 beschloss der US-Kongress den Satz nicht nur auf jeden Geldschein zu drucken, sondern zum offiziellen nationalen Motto zu machen. Die Sowjets sollten wissen, dass höhere Mächte für die Amerikaner im Kalten Krieg wirkten. Der Satz ist jedoch keine hohle Phrase: Die Menschen in den USA vertrauen in der Tat mehrheitlich auf Gott. 2008 glaubten laut einer Gallup-Umfrage 78 Prozent der US-Amerikaner an Gott, weitere 15 Prozent an einen "universalen Geist". Und jeder Zweite besucht zudem mindestens einmal die Woche ein Gebetshaus – davon können die Kirchen in Deutschland nur träumen.
Religion als Bestandteil der US-Identität
Ein fester Glaube prägt das Leben der US-Amerikaner seit der Gründung der Vereinigten Staaten im 18. Jahrhundert. Viele der ersten Siedler waren aus ihren europäischen Heimatländern geflohen, weil sie dort wegen ihrer Religion verfolgt worden waren. Das sollte sich nicht wiederholen. Die eigene Religion, so wurde es in der Bill Of Rights 1789 festgelegt, muss in den USA unter jeden Umständen ohne Einmischung des Staates ausgeübt werden können. Der Staat hat sich aus der Religion herauszuhalten; staatlich gesteuerte Kirchen darf es nicht geben. Doch der Glaube blieb keine reine Privatsache: Er prägte die Identität der amerikanischen Gesellschaft und hielt die dynamisch wachsende Nation mit ihren Einwanderern aus der ganzen Welt zusammen.
Auf einer langen Bahnreise durch Amerika traf beispielsweise der Soziologe Max Weber 1904 einen Bestattungsunternehmer und fragte ihn, warum der Glaube für die Amerikaner so wichtig sei. Der Geschäftsmann antwortete: "Sir, wenn es nach mir ginge, könnte jeder glauben oder nicht glauben, ganz wie er will. Aber wenn ich auf einen Bauern oder Geschäftsmann träfe, der zu gar keiner Kirche gehörte, würde ich ihm nicht einmal trauen, wenn es um 50 Cents ginge. Warum sollte er mich bezahlen, wenn er an nichts glaubt?"
Der Glaube zählt, nicht die Richtung
Hauptsache man glaubt, egal zu welcher Kirche man gehört: Auch wegen dieses Credos konnte sich in den USA keine einzelne Glaubensrichtung durchsetzen. Nie hat es eine US-Regierung gewagt, sich über die Verfassung hinwegzusetzen und eine Staatskirche zu gründen. Einen religiösen Dachverband gibt es auch nicht; die religiöse Szene ist zersplittert. Zwar sind über die Hälfte der Amerikaner Protestanten. Sie verteilen sich aber auf viele unterschiedliche Kirchengemeinschaften: Es gibt u.a. Baptisten, Methodisten, Lutheraner. Keine dieser Kirchen vereint mehr als zehn Prozent der Protestanten.
Fast wie in der Marktwirtschaft wetteifern die Kirchen um Gläubige, da keine Kirchensteuern erhoben werden und sie von Spenden leben müssen. Ständig entstehen neue Kirchen. Die erfolgreichsten Gemeinden bauen sich "Megachurches", große Prachtbauten, in denen mehrere tausend Gläubige auf einmal Platz finden. Die Kirche zu wechseln, ist in den USA völlig normal: Präsident George W. Bush hat es getan, Barack Obama gleich mehrfach. Eine Kirche, die eine Art moralische Führung beanspruchen könnte, gibt es in den USA nicht. Die römische katholische Kirche ist zwar die größte Einzelkirche, vereint aber nur ein knappes Viertel der Amerikaner auf sich.
Über ein Drittel der US-Amerikaner "Wiedergeborene"
Als George W. Bush 2000 zum US-Präsidenten gewählt wurde, schien es jedoch, als würde sich eine Gruppe von Gläubigen durchzusetzen: die Evangelikalen oder "Born again"-Christen. Über 40 Prozent der Amerikaner fühlen sich als "wiedergeboren". Sie glauben also fest an die Bibel und hatten eine Art Bekehrungs- oder Wiedergeburtserlebnis, durch das nach ihrer Auffassung eine persönliche Beziehung zu Jesus entstanden ist. Bush selber ist ein bekennender wiedergeborener Christ. Die Evangelikalen waren in beiden gewonnen Wahlen seine wichtigste Wählergruppe: Jeder dritte Bush-Wähler bezeichnete sich als evangelikal. Die Mehrheit der wiedergeborenen Christen - etwa 23 Prozent der Gesamtbevölkerung - fordern, dass die Bibel in der gesamten Gesellschaft wörtlich genommen werden sollte. Sie beleben damit die Lehre der Fundamentalisten wieder, die schon im späten 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Moderne verlangte, gesellschaftliches Handeln nur aus der Bibel abzuleiten. Einen neuen Schub bekam die Bewegung als Reaktion auf die sexuelle Revolution und Bürgerrechtsbewegung der 1960er und frühen 1970er Jahre.
Die meisten dieser fundamentalistischen Christen sind gegen Schwulenehe, Abtreibung und Stammzellenforschung. Doch einer einheitlichen Kirche gehören diese Gläubigen nicht an. Zwar verschaffen sich die Evangelikalen durch eigene Fernsehsender, Zeitungen und Radiosender Gehör. US-Forscher wie der Georgetown-Politikprofessor Clyde Wilcox betonen aber, dass der unterstellte Einfluss der Evangelikalen auf die US-Politik und Präsident Bush übertrieben werde. Man müsse, so Wilcox, zwischen Rhetorik und politischen Handeln unterscheiden: "Die Neokonservativen haben von Bush die Kriege in Afghanistan und Irak bekommen. Auch die Unternehmer haben sich durchgesetzt: Die Steuern wurden gleich mehrmals gesenkt. Die religiösen Konservativen können dagegen ähnliche Erfolge kaum vorweisen. Bush unterstützte zwar anfangs eine Verfassungsinitiative, die Schwulenehe verbieten sollte, sprach aber erst zwei Jahre später wieder darüber – kurz vor der nächsten Wahl. Die Evangelikalen versuchen als soziale Bewegung unsere Politik seit dreißig Jahren zu beeinflussen – verglichen mit anderen Bürgerrechtsbewegungen war sie spektakulär erfolglos. Wenn es um die Bekämpfung der Schwulen- und Frauenrechte geht, haben sie keinen Meter Boden gut gemacht, im Gegenteil."
Christen verlieren an politischem Einfluss
Auch bei den Kongresswahlen 2006 sind die evangelikalen Christen gescheitert: Kein Kandidat, der von radikalen Christen unterstützt wurde, konnte einen Sitz hinzugewinnen. Vielen moderaten Gläubigen waren die Forderungen der Kandidaten zu extrem. Allein kann die Gruppe der radikalen Christen Wahlen also nicht entscheiden. 2007 glaubten daher auch 62 Prozent der Amerikaner, dass Religion in den USA an Einfluss verliere; 2001 glaubten das nur 39 Prozent. Diese Katerstimmung hielt auch während der Präsidentenwahl 2008 an, da keiner der beiden Kandidaten den evangelikalen Christen nahe stand.
Die radikalen Christen sind zwar eine sehr mächtige, aber eben auch sehr berechenbare Wählergruppe. Auch wenn es häufig ihren ökonomischen Interessen widerspricht oder Wahlversprechen in der Vergangenheit gebrochen wurden, wählen sie verlässlich und in großer Mehrheit die konservativen Republikaner.
Glaube als Privatangelegenheit
Da in den USA die Meinungsfreiheit durchaus ernst genommen wird und die radikalsten Meinungen am meisten Schlagzeilen machen, entsteht trotzdem oft der falsche Eindruck, dass alle wiedergeborenen Christen den Staat verändern wollen. Tatsächlich ist für viele Gläubige in den USA selbst ihr radikaler Glaube etwas Privates. 39 Prozent der Amerikaner meinen laut der Gallup-Umfrage zwar, dass die Kreationisten "definitiv Recht haben", Gott also alles Leben vor 10.000 Jahren geschaffen hat. Allerdings glauben 70 Prozent der Amerikaner auch, dass es egal sei, ob ein US-Präsident an Darwins Lehre oder den Kreationismus glaube. Immer mehr Amerikaner, so zeigt eine Umfrage vom Pew Research Center (2008) wollen zudem, dass sich die organisierten Kirchen ganz aus der Politik heraushalten.
"Religion dämpft Egoismus"
Auch wird den USA die Religionsfreiheit durchaus ernst genommen. Neben Katholiken und Protestanten üben je sechs Millionen Juden und Muslime in Amerika ihre Religion aus – weitgehend ungestört. Die so genannten Amish-People können in Gemeinden nach eigenen, strengen Gesetzen leben. Die Quäker haben mit Richard Nixon bereits einen Präsidenten gestellt. Der Mormone Mitt Romney, Ex-Gouverneur von Massachusetts, bewarb sich 2008 um das Amt des Präsidenten. Der "Krieg gegen den Terror" der Bush-Regierung hat die Religionsfreiheit der Muslime bisher ebenfalls nicht beeinflusst. Ohne Probleme dürfen sie Moscheen mit Minaretten in amerikanischen Gemeinden bauen.
National mögen die religiösen Gruppen eine Lobbygruppe unter vielen sein, lokal können sie die Politik nachhaltiger beeinflussen. Vor allem auf einzelne Schulen machen christliche Verbände immer wieder Druck, auch oder ausschließlich die kreationistische Lehre zu unterrichten. Der Anthropologe Scott Atran weist daher darauf hin, dass die US-Gesellschaft zwar auch durch den Individualismus der europäischen Aufklärung beeinflusst wurde, das weitaus wichtigere Element jedoch immer der Geist der vielen verschiedenen sektiererischen Gemeinden war. Atran warnt aber davor, vorschnell religiös motivierte Teilhabe am Gemeinwesen als undemokratisch zu verurteilen. Denn nicht der Staat, sondern die Religionsgemeinschaften dämpften den Egoismus und ungezügelten Individualismus Amerikas. Das galt besonders in der Gründungszeit des Landes, so Atran. Und dieses Erbe wirkt noch bis heute nach.