"Wir müssen diese delikate Angelegenheit so behandeln, dass die Tugend der Gerechtigkeit mit der Tugend der Besonnenheit einhergeht und dass nach Ermittlung der persönlichen Verantwortlichkeiten die Stunde des Verzeihens kommt."
So umriss der Christdemokrat Patricio Aylwin, der nach fast 17 Jahren Diktatur im März 1990 das Präsidentenamt übernahm, bei seiner Antrittsrede eines der heikelsten Themen seiner Regierungszeit: den Umgang mit dem Erbe des Pinochet-Regimes. Er versuchte von Anfang an, im Rahmen der eng gesteckten Möglichkeiten, die Versöhnung der in sich zerrissenen Gesellschaft zu fördern. Dies zeigte sich auch in der Ortswahl für die Feier der Regierungsübernahme: dem Estadio Nacional – jenes Fußballstadions, das in der Zeit nach dem Putsch als Konzentrationslager diente und in dem Hunderte gefoltert und ermordet worden waren.
Die chilenische Diktatur, die am 11. September 1973 mit dem Putsch der Streitkräfte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende begann, war zweifellos eine der brutalsten und systematischsten Lateinamerikas. Innerhalb weniger Tage hatte das Militär das Land unter Kontrolle gebracht und regierte mit eiserner Hand. Zielgerichtet wurden vermeintliche oder tatsächliche Regimegegner verfolgt. Die traurige Menschenrechtsbilanz gibt davon Zeugnis: 2.095 Ermordete oder Hingerichtete; 1.102 spurlos Verschwundene; rund 250.000 Exilierte und weit mehr als 27.000 politische Gefangene und Folteropfer. Die massiven Menschenrechtsverletzungen, die willkürliche Gewalt der Machthaber hatten die Lähmung und Verängstigung weiter Teile der Bevölkerung zur Folge. Dennoch waren 1990 bei einer Umfrage rund 41 Prozent der Chilenen der Meinung: Der Putsch 1973 sei die einzige Lösung für die vermeintliche Bürgerkriegssituation unter Allende gewesen. Die chilenische Gesellschaft war und ist zum Teil noch heute gespalten, wenn es um die Bewertung der Militärdiktatur geht.
Die Vergangenheitspolitik der Präsidenten Aylwin, Frei und Lagos
Der Umgang mit diesem Erbe stellte Politik und Gesellschaft vor große Herausforderungen – zumal die Militärs Vorkehrungen getroffen hatten, um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Durch den ausgehandelten Übergang zur Demokratie blieben den Streitkräften große Freiräume erhalten. Pinochet machte als Oberbefehlshaber der Armee deutlich, dass er keine Aufarbeitung der Menschenrechtverletzungen dulden werde: "An dem Tag, an dem man einen meiner Männer anrührt, ist es vorbei mit der Rechtsstaatlichkeit!" Dass es sich nicht um leere Drohungen handelte, sollte sich in den kommenden Jahren immer wieder zeigen. Seit dem Ende der Diktatur bemühten sich die demokratischen Regierungen – wenn auch mit unterschiedlichem Engagement – um die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Meilensteine bei der Aufklärung, der Strafverfolgung und der Entschädigungspolitik erläutert werden.
Die Suche nach den Verschwundenen
Am Fuße des Denkmals für die "Dentenidos Desaparecidos" in Santiago haben Verwandte und Freunde am 11. September 2000 Nelken und Schilder mit den Fotos und Namen der Verschwundenen hingelegt. Auf den Plakaten stellen sie vorwurfsvoll die Frage "Dónde están?" – Wo sind sie? (© Veit Straßner)
Am Fuße des Denkmals für die "Dentenidos Desaparecidos" in Santiago haben Verwandte und Freunde am 11. September 2000 Nelken und Schilder mit den Fotos und Namen der Verschwundenen hingelegt. Auf den Plakaten stellen sie vorwurfsvoll die Frage "Dónde están?" – Wo sind sie? (© Veit Straßner)
¡Verdad y Justicia! – "Wahrheit und Gerechtigkeit" waren von Beginn an die Grundforderungen der Menschenrechtsbewegung. "Wahrheit" bezieht sich in erster Linie auf die Aufklärung der Schicksale jener, die verschleppt worden waren und deren Spuren sich danach verloren haben. Besaßen die Angehörigen anfangs noch die Hoffnung, dass die Verschwundenen am leben sind, so mussten sie mit der Zeit erkennen, dass ihre Verwandten vermutlich gefoltert, ermordet und die Leichen verscharrt oder verbrannt worden waren. Diese fehlende Gewissheit war und ist weiterhin für die Angehörigen besonders schmerzhaft, da sie nie die Möglichkeit hatten, den Leichnam zu sehen und ihn würdig zu bestatten. Darum ist die Forderung nach Aufklärung so zentral: Wie sind die Menschen ums Leben gekommen? Und wer ist dafür verantwortlich?
Präsident Aylwin entsprach dieser Forderung nach Aufklärung und setzte im April 1990 die Nationale Wahrheits- und Versöhnungskommission ein, um das Schicksal der Verschwundenen und Hingerichteten zu untersuchen. Die Arbeit der Kommission wurde mit großem Interesse verfolgt und führte zugleich zu starken zivil-militärischen Spannungen, die unter anderem in der Mobilisierung des Heeres gipfelten. Offiziell als Übung deklariert, war dies ein deutliches Zeichen an die Regierung, die Streitkräfte nicht weiter zu reizen. Die Wahrheitskommission überreichte dem Präsidenten im Februar 1991 einen umfassenden Bericht, der die Namen der Täter zwar nicht nannte, aber erstmals die Systematik der Menschenrechtsverletzungen dokumentierte. Somit widersprach die Kommission der Version der Streitkräfte, welche die Existenz von Verschwundenen stets geleugnet hatten. Die Hoffnung der Angehörigen aber, Gewissheit über das Schicksal ihrer Vermissten zu erhalten, wurde enttäuscht. Eine Nachfolgeeinrichtung sollte anschließend die Untersuchungen der Kommission fortführen. Wegen mangelnder Kooperation der Streitkräfte, die als einzige über detaillierte Informationen verfügen, konnten bis 2003 lediglich in 268 Fällen die sterblichen Überreste der Verschwundenen lokalisiert werden.
Es gab in den folgenden Jahren noch weitere Bemühungen, die Regimeverbrechen aufzuklären: Im Zusammenhang mit der Inhaftierung Pinochets in London, von der später noch die Rede sein wird, initiierte die Regierung einen Runden Tisch mit Vertretern der Armee, der Menschenrechtsbewegungen und anderer gesellschaftlicher Gruppen. Die Streitkräfte versprachen, alle verfügbaren Informationen zu den Verschwundenen zur Verfügung zu stellen. Wie sich später zeigte, handelte es sich jedoch bei den Hinweisen teils um politisch und taktisch motivierte Fehlinformationen. Diese Gespräche hatten dennoch große Bedeutung, da die Streitkräfte hier erstmals eingestanden, dass es die Strategie des Verschwinden-Lassens von Regimegegnern gegeben hat.
Ein weiterer wichtiger Schritt zur Aufklärung war eine von Präsident Ricardo Lagos 2003 eingesetzte Kommission zur Untersuchung der politisch motivierten Verhaftungen und Folterungen während der Diktatur. Die Kommission dokumentierte die Aussagen von mehr als 27.000 ehemaligen politischen Gefangenen und Folteropfern und machte die Systematik und Perversion der Menschenrechtsverletzungen aufs Neue deutlich. Besonders hervorzuheben ist die Reaktion von Juan Emilio Cheyre, dem Oberkommandierenden des Heeres, der im Namen der Truppe die institutionelle Verantwortung für die Verletzungen der Menschenrechte übernahm. Mit dem Bericht der Folter-Kommission erreichte der öffentliche Umgang mit dem Diktatur-Erbe eine neue Qualität: Die Täterseite anerkannte nicht nur die Fakten, sondern auch die eigene Verantwortung.
Die problematische Strafverfolgung
Die Streitkräfte hatten sich durch ein 1978 erlassenes Amnestie-Dekret gegen Strafverfolgung abgesichert. Da zusätzlich nahezu alle Richter noch während der Diktatur ernannt worden waren, hatten die Militärs auch hier wenig zu befürchten.
Erst nach und nach konnte die Menschenrechtsbewegung vor Gericht erste Erfolge erzielen: 1995 wurden in einem Fall, der explizit von der Amnestie ausgenommen war, erstmals Haftstrafen gegen ehemalige Militärs verhängt. Es handelte sich um ein Bombenattentat des chilenischen Geheimdienstes gegen den Außenminister der Allende-Regierung, Orlando Letelier. Der Vollzug der Strafe stellte sich allerdings schwierig dar, da sich einer der beiden verantwortlichen Generäle mit Rückendeckung der Streitkräfte länger als fünf Monate seiner Verhaftung widersetzte.
In den folgenden Jahren zeichnete sich in der Rechtsprechung bei Menschenrechtsfragen ein langsamer Wandel ab: In einzelnen Fällen schlossen sich Richter der Argumentation der Anklage an und interpretierten das Verschwinden-Lassen von Personen als eine andauernde Entführung, solange die sterblichen Überreste nicht gefunden werden. Es handelt sich somit um ein Delikt, das auch noch nach dem Amnestie-Dekret von 1978 begangen wird und deshalb von der Amnestie ausgenommen ist. Die Vorladungen von Soldaten vor zivile Gerichte sorgten für weitere Spannungen zwischen Militär und Regierung. Im Laufe der folgenden Jahre konnte die Menschenrechtsbewegung bei der Strafverfolgung einige Teilerfolge erzielen: So gab es Ende 2004 mehr als 400 Verfahren gegen Mitglieder der Streitkräfte und der Polizei, 46 Verantwortliche wurden zu Haftstrafen verurteilt. Diese Zahl erscheint zwar angesichts von mehr als 3.000 Todesopfern gering. Sie liegt aber weit höher als beispielsweise in Argentinien, wo die Amnestiegesetze aufgehoben wurden.
Entschädigungsmaßnahmen für die Diktaturopfer
Anders als in Argentinien, wo die Opfer ihr Recht auf Entschädigung über Jahre vor internationalen Gerichten erstreiten mussten, initiierte bereits die Regierung Aylwin (1990–1993) ein umfassendes Reparationsprogramm für die unterschiedlichen Opfergruppen: Mehr als 130.000 Opfer nutzen eine kostenlose medizinische Versorgung inklusive der in Chile sehr teuren psychotherapeutischen Behandlung. Für die Angehörigen der Verschwundenen und Hingerichteten wurde ein Pensionsprogramm geschaffen, das zumindest die Grundbedürfnisse der Hinterbliebenen abdeckt. Die Ausbildung der Kinder von diesen Familien wurde mit Schul- und Universitätsstipendien ermöglicht. Im Anschluss an die Arbeit der Folter-Kommission wurden ebenfalls Entschädigungsprogramme für ehemalige politische Gefangene und Folteropfer eingerichtet.
Auf dem Zentralfriedhof von Santiago steht die Gedenkwand mit den Namen aller Verschwundenen und Ermordeten. (© Veit Straßner)
Auf dem Zentralfriedhof von Santiago steht die Gedenkwand mit den Namen aller Verschwundenen und Ermordeten. (© Veit Straßner)
In enger Verbindung mit dieser Entschädigungspolitik sind auch die Bemühungen um die gesellschaftliche Rehabilitierung der Opfer zu bewerten. Auf deren Anregung wurde eine Gedenkstätte eingerichtet, auf der sich die Namen aller Verschwundenen und Hingerichteten finden. Mittlerweile wurden in Chile mit staatlicher Unterstützung rund 60 Mahnmale und Denkmäler errichtet.
General Augusto Pinochet – Angelpunkt der Debatte
Der 1915 in einer Mittelklassefamilie in Valparaíso geborene Augusto Pinochet war einer der vier Generäle, die am 11. September 1973 den Putsch gegen die Allende-Regierung anführten. Nachdem Pinochet seine Macht innerhalb der Junta ausgebaut hatte und im Dezember 1974 zum Präsidenten ernannt worden war, regierte er das Land bis zum Ende der Diktatur. Stolz prahlte er bisweilen damit, dass sich "in Chile kein Blatt bewegt", ohne dass er es wisse. Nach der Diktatur blieb er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ein bedeutender Faktor im postautoritären Kräftespiel. Es gelang ihm, seine Person untrennbar mit dem Militär zu verbinden, so dass jede Kritik an ihm zugleich als Kritik an der Armee wahrgenommen wurde. Nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven militärischen Dienst nutzte er als ehemaliger Staatspräsident im März 1998 das von der Verfassung vorgesehene Recht, als Senator auf Lebenszeit in die Legislative zu wechseln; er genoss somit noch zusätzlich parlamentarische Immunität.
Doch seine Unantastbarkeit begann zu erodieren: Im Juli 1996 war – von der chilenischen Regierung, den Streitkräften und der Presse weitgehend ignoriert – in Spanien gegen ihn eine erste Klage wegen Völkermordes und Terrorismus eingereicht worden. Da niemand – am wenigsten Pinochet selbst – glaubte, dass diese Anklagen einen nachhaltigen Effekt haben würden, sorgten die Entwicklungen im Oktober 1998 für eine große Überraschung: Der Ex-Diktator wurde während eines Aufenthaltes in Großbritannien verhaftet. Der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón hatte zuvor einen internationalen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt und forderte Pinochets Auslieferung nach Spanien; andere Staaten stellten ebenfalls solche Anträge.
Anhänger trauern um General Augusto Pinochet, der im Dezember 2006 verstorben ist. (© AP)
Anhänger trauern um General Augusto Pinochet, der im Dezember 2006 verstorben ist. (© AP)
In den folgenden Monaten beherrschte dieses Thema die politische Tagesordnung nicht nur in Santiago, sondern auch in London und Madrid. Die chilenische Regierung unternahm diplomatische Anstrengungen, um die Freilassung Pinochets zu erreichen, und versicherte, dass er sich vor einem chilenischen Gericht zu verantworten habe. In den Oberschichtvierteln Santiagos, wo viele Pinochet-Anhänger leben, fanden regelmäßig Mahnwachen und Fürbittgottesdienste für den im Ausland festgehaltenen "Retter des Vaterlandes" statt. Viele luden aus Protest ihren Müll vor den Botschaften Spaniens und Großbritanniens ab. Die Menschenrechtsorganisationen ihrerseits sahen die lange verweigerte Gerechtigkeit nun in greifbarer Nähe und unterstützten die Anklage in Spanien mit Zeugenaussagen und Beweismaterial.
Nach rund siebzehn Monaten zäher Verhandlungen, zahlreichen Gutachten und diplomatischen Winkelzügen konnte Pinochet im März 2000 nach Chile zurückkehren. Die britischen Behörden hatten ihn wegen seines schlechten Gesundheitszustandes und seiner fortschreitenden Demenz für nicht verhandlungsfähig erklärt. Am Flughafen in Santiago wurde der Heimkehrer mit militärischen Ehren empfangen. Der ganzen Welt zum Spott erhob sich der wegen Gebrechlichkeit verschonte Ex-Diktator aus seinem Rollstuhl und defilierte an den militärischen und politischen Autoritäten vorbei.
Das versprochene Verfahren, dem sich Pinochet in Santiago stellen sollte, blieb aus. Dank seiner Anwälte und seiner vorgeblichen körperlichen und geistigen Gebrechen entging Pinochet immer wieder der Justiz. Sein öffentliches Ansehen aber hatte durch die Haft gelitten. 2002 zog er sich weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück; wiederholt wurde er wegen der mehr als 50 Verfahren, die mittlerweile in Chile gegen ihn anhängig waren, unter Hausarrest gestellt. Auch die Unterstützung der Streitkräfte und der Rechtsparteien nahm immer mehr ab. Der politische Todesstoß aber war die Entdeckung der Schwarzgeldkonten des Ex-Diktators, auf denen sich rund 15 Millionen Euro fanden. Korruption, Steuerhinterziehung und Veruntreuung von Geldern schienen für die Pinochet-Anhänger stärker am Bild des "Retters der Nation" zu kratzen als die 3.000 Todesopfer.
Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet im Gespräch mit General Oscar Izurieta während einer Feier an der Militärakademie in Santiago, Chile im Dezember 2006. (© AP)
Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet im Gespräch mit General Oscar Izurieta während einer Feier an der Militärakademie in Santiago, Chile im Dezember 2006. (© AP)
Im Dezember 2006 verstarb Augusto Pinochet mit 91 Jahren im Kreise seiner Familie – ein Privileg, das keinem seiner Opfer vergönnt war. Die seit März 2006 amtierende Präsidentin Michelle Bachelet – Tochter eines während der Diktatur ermordeten Allende-treuen Generals und selbst Folteropfer – machte deutlich, dass es für den ehemaligen Präsidenten kein Staatsbegräbnis geben werde. Er wurde als ehemaliger Oberkommandierender der Streitkräfte mit allen militärischen Ehren beigesetzt. Im Umfeld der Beerdigung brachen die alten Konfliktlinien wieder deutlich auf: Während Tausende dem in der Militärakademie aufgebahrten "Vaterlandsretter" die letzte Ehre erwiesen, feierten Tausende Pinochet-Gegner im ganzen Land den Tod des "Mörders".
Ausblick
Die Debatten und Kontroversen um die Bewertung der Person Pinochets und seines Werkes machten abermals deutlich, dass Chile trotz aller Bemühungen der Regierungen, der Kirchen und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure noch immer weit von einer gesellschaftlichen Verständigung über die Jahre der Diktatur sowie der ihr vorausgehenden Allende-Regierung entfernt ist. Es besteht allerdings die Hoffnung, dass nach dem Tod der Schlüsselfigur die Auseinandersetzungen mit diesem dunklen Kapitel der jüngsten chilenischen Geschichte in eine neue Phase eintreten können.
Literatur:
CODEPU – Corporación de Promoción y Defensa de los Derechos del Pueblo: Informe de Derechos Humanos 1990–2000, Santiago 2001.
V. Straßner: Die offenen Wunden Lateinamerikas. Vergangenheitspolitik im postautoritären Argentinien, Uruguay und Chile, Wiesbaden 2007.