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Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Russland-Analyse Nr. 437

Stefan Meister

/ 5 Minuten zu lesen

Deutschland muss aktuell seine Rolle in der europäischen Russland- und Osteuropapolitik neu definieren.

Bundeskanzler Scholz bei einem Gespräch mit Präsident Putin am 15.02.2022 in Moskau. (© picture-alliance/AP, Mikhail Klimentyev)

Russlands großangelegter Krieg gegen die Ukraine seit dem 24.02.2022 hat die deutsche Russland- und Osteuropapolitik grundlegend verändert. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Kriegsbeginn ausgerufene Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik basiert auf der Einsicht, dass Russland aktuell die größte Gefahr für die deutsche und europäische Sicherheit darstellt und die US-amerikanischen Sicherheitsgarantien auf Dauer nicht (fast) kostenlos zu haben sind.

Paradigmenwechsel in der deutschen Russland-Politik

Die deutschen politischen und wirtschaftlichen Eliten brauchten einen großen Krieg gegen die Ukraine, um zu verstehen, dass Russland kein Partner, sondern ein Gegner ist, dass Energieabhängigkeit vor allem Verletzlichkeit bedeutet und zu keiner Kompromissbereitschaft um die gemeinsame Nachbarschaft mit der russischen Seite führt. Dieser Krieg beendet nicht nur die nach dem Kalten Krieg ausgehandelte kollektive europäische Sicherheitsordnung, er bedeutet auch ein Scheitern jahrzehntelanger deutscher Kooperations-, Kompromiss- und Appeasement-Politik gegenüber Russland. Dialog und Kompromissbereitschaft haben diesen Krieg nicht nur nicht verhindern können, sondern eher zu der Annahme im Kreml geführt, dass Deutschland im Zweifelsfall harte Sanktionen und Reaktionen des Westens verhindern oder zumindest abschwächen wird. Dabei zog die Bundesregierung keine ausreichenden Konsequenzen aus der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas seit 2014. Der Preis sind mit dem aktuellen Krieg hohe ökonomische und politische Kosten für Deutschland sowie ein grundlegender Glaubwürdigkeitsverlust bei Partnerstaaten in Europa sowie der Ukraine.

Russlands Zivilisationsbruch in der Ukraine hat zu mehreren Tabubrüchen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik geführt. Wenn auch nur zögerlich und ohne strategische Planung beliefert Deutschland die Ukraine in einem Kriegsgebiet mit Waffen, Munition, Panzern und Luftabwehrsystemen. Die Gaspipeline Nordstream 1 und 2 durch die Ostsee wurden gestoppt, seit dem 01.01.2023 verzichtet Deutschland auf jegliche Lieferungen von Kohle, Öl und Gas aus Russland. Damit erfolgt eine systematische Entkopplung von russischen Öl- und Gaslieferungen verbunden mit der langfristigen Erschließung von neuen Lieferländern vor allem im Nahen Osten. Deutschland hat umfassenden Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland zugestimmt, die zu einer wirtschaftlichen Entkopplung beider Staaten führen und Russland technologisch massiv zurückwerfen wird. Die Bereitschaft die Ukraine dauerhaft militärisch und finanziell zu unterstützen, bedeutet ein Paradigmenwechsel weg von einer "Russia first" Politik hin zu einer Fokussierung auf die Ukraine. Deutschland ist inzwischen vor Polen das Land, was die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen hat.

Grenzen der Zeitenwende

Auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgerufen hat, fehlt bisher eine mentale und strategische Wende in der deutschen Politik. Von 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Modernisierung der Bundeswehr ist mehr als ein Jahr nach Beginn des Krieges praktisch noch nichts ausgegeben worden. Die Bundesregierung hat nur auf Druck der Partner ohne kurz-, mittel- und langfristige Planung die Ukraine mit Waffen beliefert. Es fehlt eine systematische Aufarbeitung der Fehler aus der vergangenen Ostpolitik und eine Diskussion über eine neue Russland- und Osteuropapolitik. Die gesamte politische und öffentliche Debatte wird von den Themen Waffenlieferungen und Wiederaufbau der Ukraine dominiert, der Rahmen dafür, bleibt aber weitgehen unklar. Olaf Scholz ist nicht bereit, eine Führungsrolle in Europa im Kontext dieses Krieges zu übernehmen. Der Bundeskanzler folgt vor allem dem US-Präsidenten, mit dem er sich eng abstimmt, dabei fehlt es an Koordination mit den europäischen Partnern. Damit sind die USA defacto zur Führungsmacht für Europa in diesem Krieg geworden, was die EU als Akteur insgesamt schwächt. Die grundlegenden Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich zum Thema strategische Autonomie in Europa, zur Zukunft der Energie- und Rüstungspolitik zeigen eine tiefe Spaltung in der EU.

Die Bereitschaft, die Ukraine so weit zu unterstützen, dass sie diesen Krieg nicht verliert, wie Olaf Scholz das immer wieder betont, impliziert die Annahme im Kanzleramt, dass ein Krieg gegen Russland nicht zu gewinnen ist. Die Angst vor einer nuklearen Eskalation führt zu einem vorsichtigen Vorgehen in diesem Krieg, dass auch von großen Teilen der deutschen Bevölkerung unterstützt wird. Dabei ist die Drohung mit Atomwaffen ein Teil der russischen Desinformationskampanie, um europäischen Gesellschaften zu verunsichern und zu spalten. Gleichzeitig spielt der russische Präsident Wladimir Putin auf Zeit, in der Annahme, dass je länger dieser Krieg dauert, umso geringer die Unterstützung in westlichen Gesellschaften für die Ukraine ausfallen wird sowie der öffentliche Druck wächst, Kompromisse gegenüber Russland einzugehen. Das Fehlen einer klaren Kommunikationsstrategie der Bundesregierung, in dem Wissen, dass dieser Krieg länger dauern kann, Sanktionen langfristig durchgehalten werden müssen, weitere ökonomische Kosten mit sich bringen und auch die Unterstützung der Ukraine langfristig nötig sein wird, schwächt das Vertrauen in der Bevölkerung für die deutsche Ukraine- und Russlandpolitik. Es führt nicht nur zu einer Glaubwürdigkeitskrise Deutschlands nach außen, sondern auch gegenüber der eigenen Bevölkerung. Gleichzeitig ist nicht klar, inwieweit die Bundesregierung einen EU-Beitritt der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens wirklich unterstützt.

Neudefinition der Osteuropa- und Russland-Politik

Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und dem Ende jeglicher kooperativer Beziehungen mit dem Kreml muss Deutschland seine Rolle in der europäischen Russland- und Osteuropapolitik neu definieren. Dabei sucht die deutsche Politik aktuell noch nach Orientierung, ist vor allem mit Krisenmanagement beschäftigt und es fehlt ein Paradigmenwechsel in der Strategieentwicklung und Überwindung einer maßgeblich bürokratisierten Außen- und Sicherheitspolitik. Auf Russland Einfluss zu nehmen wird aktuell kaum möglich sein. Aber über mehr Engagement und Verantwortung in der gesamten postsowjetischen Region und eine erfolgreiche demokratisierte und in die EU integrierte Ukraine werden auch die russische Politik und Gesellschaft beeinflusst.

Die Fundamente der deutsch-russischen Beziehungen wie Wirtschafts- und Energiepolitik sowie der gesellschaftliche Austausch sind mit dem Krieg weggebrochen. Hier braucht es einen Neuanfang basierend auf einer Evaluation der Fehler der Vergangenheit sowie Anerkennung der neuen Realität, ohne in alte Muster zurückzufallen. Mit Blick auf Russland wird es auf absehbare Zeit vor allem um militärische Abschreckung und Eindämmung gehen, ein baldiges Ende des Krieges mit einem Waffenstillstand ist eher unwahrscheinlich bzw. wird kaum von Dauer sein. Die Ukraine ist zum Schlüsselstaat für Europa geworden, der Ausgang des Krieges zentral für eine neue europäische Sicherheitsordnung. Gleichzeitig gibt es außerhalb der NATO keine Sicherheit mehr in Europa und es braucht neue Sicherheitspartnerschaften mit Staaten, die eine EU-Integration anstreben, aber auf absehbare Zeit keine Nato-Mitglieder werden. Die wichtigsten Treiber einer neuen EU-Politik gegenüber dem östlichen Europa sind ostmitteleuropäische Länder wie Polen und Tschechien sowie die Baltischen Staaten. Mit ihnen und den skandinavischen Staaten eine neue strategische Kooperation mit Blick auf die östliche Nachbarschafts-, Erweiterungs- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, wäre eine Chance für einen Neuanfang der deutschen Osteuropa- und Russlandpolitik.

Fussnoten

Weitere Inhalte

leitet das Zentrum für Ordnung und Governance für Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Davor war er Direktor des Südkaukasus-Büros der Heinrich Böll Stiftung und Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations.