Wissen und Information über die menschliche Natur
Wissen über uns selbst zu erlangen – und das schließt Wissen über unseren Gesundheitszustand und über unsere genetischen Anlagen zu möglichen späteren Erkrankungen mit ein – gehört elementar zum menschlichen Selbstverständnis. Schon der griechische Philosoph Aristoteles leitete seine Bücher zur Metaphysik mit dem Satz ein: "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen." Trifft dieser Satz zu, dann gehört das Wissenwollen, die Suche nach gesichertem Wissen, zu den Grunddimensionen des Menschenseins. Man könnte mit Aristoteles sagen: Der Mensch ist das Wesen, das wissen will.
Doch führt nicht jedes Wissen unmittelbar zur positiven Erkenntnis und zu einem produktiven Verfügen über uns selbst; nicht jedes Wissen versetzt uns in die Lage, mehr aus unserer Natur machen zu können. Vielmehr wird Wissen rasch zu einer erheblichen Belastung, wie dies gerade beim Wissen über den individuellen Gesundheitszustand der Fall sein kann. Die ärztliche Diagnose einer unheilbaren, gar tödlichen Krankheit gehört genau zu diesem Typ belastenden Wissens. Hinzu kommt, dass nicht jede Form des Wissens in diesem Zusammenhang als eindeutig "gut" oder "schlecht" bewertet werden kann, denn mit der modernen prädiktiven, d.h. vorhersagenden Medizin werden weitaus häufiger nur Wahrscheinlichkeiten als klare Vorhersagen über den Ausbruch einer Krankheit ausgedrückt.
Diese Wahrscheinlichkeitsaussagen üben aber einen erheblichen Einfluss auf den je einzelnen Lebensentwurf aus, z.B. bei der Familienplanung. Daher ist der Umgang mit Wissen und Information im Rahmen von Medizin und ärztlichem Handeln als besonders sensibel und missbrauchsanfällig anzusehen.
Der Weg zur informationellen Selbstbestimmung in der Medizin
Die Frage nach dem Umgang mit dem Wissen über den gesundheitlichen Zustand eines Patienten ist eng verbunden mit der Frage nach der Bedeutung von Aufklärung und Selbstbestimmung innerhalb des Arzt-Patient-Verhältnisses. Noch bis in die 60er-Jahre hinein wurde das Nichtschadensprinzip des hippokratischen Ethos von Ärzten so interpretiert, dass man als Arzt den Patienten vor Ängsten schützt und damit Schaden vermeidet, indem man ihm Informationen über gesundheitliche Risiken vorenthält. In der modernen Medizin hat sich die Einstellung zur Patientenaufklärung deutlich gewandelt. Diese medizinethische Verschiebung beruht auf der modernen Ausrichtung hin zu Individualisierung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung.
Man erkennt damit also den Patienten als selbstbestimmt und selbstverantwortlich handelnde Person an, die in die Erhebung und Analyse individualbezogenen medizinischen Wissens sowie in die diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen mit einbezogen wird. Die Vorenthaltung von Wissen wird – zumindest in der Theorie – eher zur Ausnahme. Besonders in der amerikanischen Medizinethik ist das Prinzip der Autonomie des Patienten und damit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zum zentralen Prinzip avanciert und hat das fürsorglich-paternale Element des ärztlichen Ethos in den Hintergrund gedrängt.
Da aber nur derjenige ein aufgeklärter Mensch sein kann, der ein Wissen richtig einzuschätzen weiß, sind bestimmte Kriterien an die Bedingungen der Aufklärung zu stellen. Aus ethischer Sicht stellt sich dann die Frage, welche Art der Aufklärung im Arzt-Patient-Verhältnis notwendig ist, damit der Patient auch im engen Sinne informiert zustimmen kann, und welcher Kommunikationsstruktur es dafür zwischen Arzt und Patient bedarf.
Selbstbestimmungsrecht und Zielsetzungen der modernen Medizin
Betrachtet man Freiwilligkeit und Selbstbestimmung als isolierte Kriterien für die Legitimation einer ärztlichen Handlung, dann stellt der Arzt naturwissenschaftlich erhobenes und gesichertes Wissen in Form technischen Handelns zur Verfügung und jedem »Klienten« muss es freigestellt sein, welche Behandlung er wünscht. Mit dieser Forderung wird jedoch die gesamte Last der Verantwortung auf den Einzelnen übertragen. Der Vorschlag erfordert, dass jeder »Klient«, der sich einem medizinischen Eingriff unterzieht, alle Details kennt und sämtliche Folgen des Eingriffs absehen kann. Diese Voraussetzungen sind jedoch fragwürdig.
Bei Handlungen, die so tief in die Integrität von Leib und Leben eingreifen, können diese Verfahren nur dann verantwortbar praktiziert werden, wenn die Zielsetzungen ärztlichen Handelns grundsätzlich nicht zur Disposition stehen, denn die Bedürftigkeit stellt sich auch immer als eine Wehrlosigkeit dar, die die Selbstbestimmung eingrenzt. Gefragt ist daher ein Fürsorgesystem, das die Autonomie des Kranken treuhänderisch verwaltet. Damit verbunden ist ein eindeutiges Bekenntnis zu klaren Handlungszielen, das das das Vertrauen zwischen Arzt und Patient stabilisiert.
Das Vertrauen liegt darin, dass der Patient sich darauf verlassen muss, dass alle Informationen, die ausgetauscht werden, und alle Maßnahmen, die getroffen werden, einzig dem Zweck der Heilung und Vorbeugung von Krankheit dienen. Ärztliches Handeln, das anderen Zwecken dient, wie z.B. in der ästhetischen Chirurgie, bedarf einer besonderen Form der Rechtfertigung. Die zunehmende Kommerzialisierung der Arztpraxen und Krankenhäuser führt zu dem Problem, dass der Patient in zunehmendem Maße nicht mehr unterscheiden kann, ob eine Information oder eine Maßnahme seiner Gesundheit oder ganz wesentlich, wenn nicht gar ausschließlich dem Profit des Arztes bzw. der medizinischen Einrichtung dient.
So geht es bei den 1998 von der kassenärztlichen Bundesvereinigung eingeführten individuellen Gesundheitsleistungen ("IGEL") um Wunschangebote, die der Versicherte privat zu zahlen hat. Gemäß der gültigen GOÄ § 1, Abs. 2 dürfen diese nur auf Verlangen des Zahlungspflichtigen erbracht werden. Es hat sich in diesem Zusammenhang aber eingebürgert, durch Auslagen bzw. Aushänge im Wartezimmerbereich Patienten zu entsprechenden Anfragen zu motivieren. Ärzte werden zu Dienstleistern und treten insofern in Konkurrenz zu anderen Ärzten, die dieselbe Dienstleistung anbieten.
Besteht nun jedoch in einer Gesellschaft mehrheitlich der Wunsch, dass für den Arzt in erster Linie dasjenige handlungsrelevant wird, was der »Patient« aufgrund seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung will und vom Arzt erwartet, und wird jede Form der Einschränkung als »undemokratisch« oder »voraufklärerisch« betrachtet, dann löst sich die zielgerichtete Struktur ärztlichen Handelns auf. Sicherlich ist vorstellbar, dass »ärztliche Dienstleistungen« zukünftig über individuelle Vertragsverhältnisse geregelt werden. Die damit vorgeschlagene »Medizin« würde aber eine völlig andere sein als die, die wir kennen: Die Medizin wird zur reinen Serviceleistung, der Patient ausschließlich zum Klienten. Die ursprüngliche Vertraulichkeit wird durch eine Vertraglichkeit ersetzt. Die Beantwortung der Frage, ob dies gewollt ist, setzt aber eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der Medizin hinsichtlich ihrer Ziele und Zwecke voraus.
Der "Gläserne Mensch" durch genetische Testverfahren
Eine neue Dimension des Umgangs mit individualbezogenem medizinischen Wissen wird nun mit der ärztlichen Anwendung der Humangenetik erreicht. Genetische Tests an einzelnen Personen können Vorhersagen über die Manifestation von Krankheiten bei den Getesteten selbst und bei deren Verwandten erlauben. Eine sichere Vorhersage ist eher selten. Häufig werden nur Eintrittswahrscheinlichkeiten angegeben. Das Wissen um eine Krankheitsdisposition, für die keine Therapie oder Präventionsmaßnahme zur Verfügung steht, kann mit erheblichen Konsequenzen für den zukünftigen Lebensstil und die Lebensqualität der Betroffenen verbunden sein und damit die Integrität von Leib und Leben und das psychische Befinden beeinträchtigen.
Mit der Erhebung genetischer Daten wächst zudem die Möglichkeit, diese Daten zu anderen als den vereinbarten Zwecken zu nutzen und damit gegen die Pflicht zur Vertraulichkeit und zum Schaden des untersuchten Individuums zu handeln. Gerade der Zugang zu genetischem Wissen über Personen seitens Versicherungen oder Arbeitgebern sind problematisch und verlangen einen umfassenden Datenschutz. Ferner können Fehler bei der Durchführung der Erhebung oder eine unzureichende Beratung zu Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen der Betroffenen führen. Bei der Vermittlung von Wissen im Rahmen der ärztlichen Beratung geht es nicht nur um sachlich richtige und vollständige Informationen, sondern auch um die Transformation dieser Informationen in die lebensweltliche Sprache des Patienten, damit dieser seine Risiken entsprechend einschätzen kann.
Die genetische Beratung muss daher dem Betroffenen die Tragweite eines genetischen Tests bewusst machen. Sowohl eine ärztliche Beratung vor dem Test, als auch die Erörterung eines Testergebnisses können sicherstellen, dass der Betroffene alle für ihn notwendigen Informationen erhält. Nur eine solche Reihe von Beratungsgesprächen ermöglicht eine Einordnung der Testergebnisse in den je eigenen Lebenszusammenhang und fördert einen eigenverantwortlichen Umgang mit dem Wissen. Eine weitere Dimension unsicheren Wissens wird mit den wachsenden Anwendungsmöglichkeiten der DNA-Chip-Technologie eröffnet. Der hohe Grad der Automatisierung erlaubt eine Erfassung von verschiedenen Merkmalen in einem einzigen Test und das auch noch erheblich günstiger. Die Ergebnisse solcher Gentests lassen möglicherweise sehr viele Schlüsse gleichzeitig zu, so auch zu genetischen Dispositionen, nach denen der Patient gar nicht gefragt hat. Bei der Anwendung von Gen-Chips stellt sich daher ganz besonders die Frage, wie eine qualifizierte Beratung umgesetzt werden kann. Diese Frage tritt zumal dann auf, wenn eine solche Technik so leicht handhabbar ist, dass jedermann sie einfach nutzen kann und die (entsprechenden) Tests frei über das Internet angeboten werden.
Das Erbmaterial selbst als »genetische Information« zu bezeichnen, führt daher in die Irre. Es wir vielfach suggeriert, diese Art der »Information« sei »objektiv« und in der DNA mit naturwissenschaftlich gesicherten Methoden ablesbar. Dabei wird übersehen, dass das biologische Material durch eine Interpretation, in die die Selbstauslegung des Betroffenen mit einfließt, erst zur Information wird. Übersieht man dies, dann führt die scheinbare Objektivität bei sozial unerwünschten Ergebnissen zu einer »Normabweichung«, die als ein Verlust gegenseitiger Wertschätzung ausgelegt werden kann. Dies kann zur Folge haben, dass der Betroffene in einer Gesellschaft stigmatisiert wird. Eine solche Stigmatisierung bildet dann den Ausgangspunkt für Nachteile innerhalb des im Sozialsystem implementierten Versicherungswesens (Krankenversicherung, Lebensversicherung u.a.). Das genetische Wissen wird so zu einem sozialen Risiko.
Handlungsfreiheit und "aufgeklärtes Nicht-Wissen"
Zum selbstbestimmten Umgang mit genetischer Information gehört auch die Entscheidung darüber, ob man überhaupt etwas über seine eigene genetische Konstitution oder die seiner Nachkommen wissen will. Dies ist besonders dann der Fall, wenn bspw. das durch einen genetischen Test erhobene Wissen nicht ausreicht, um Ungewissheiten über die Manifestation und den Verlauf einer Krankheit, wie beim erblichen Brustkrebs, aufzuheben. Der Wunsch/soll zu einem Recht umformuliert werden. Dieses Recht sollte z.B. erlauben, auf einen genetischen Test zu verzichten, ohne bspw. auf versicherungsrechtliche Probleme zu stoßen. Dieses Recht soll z.B. einer Frau ermöglichen, ein Kind auszutragen, ohne vorher eine genetische Diagnose durchführen zu lassen, bei der sie Gefahr läuft, im Falle einer Behinderung des Kindes gesellschaftlich stigmatisiert und diskriminiert zu werden. Aber hier sind es gerade auch die haftungsrechtlichen Bedingungen, die den Arzt unter Druck setzen, sich an einer »Aufklärungspflicht« zu orientieren, die nicht zwingend dem Wunsch der Eltern entsprechen muss.
Die klassisch-aufklärerische Annahme, jede Information sei ein Gewinn für die Selbstbestimmung, kann daher in Bezug auf die prädiktive Medizin nicht grundsätzlich bestätigt werden. Ganz im Gegenteil muss vermutet werden, dass eine gewisse Form der Ungewissheit und Schicksalhaftigkeit die Handlungsfreiheit eher steigert. Zur wahren Autonomie gehört es, selbst zu entscheiden, welche Information ich haben will und welche Information ich nicht haben will, auch wenn man sie erheben könnte. Dann ist die Möglichkeit, sich selbst begrenzen und dadurch verwirklichen zu können, offensichtlich Bestandteil der Autonomie.
So paradox dies klingen mag: das Problem des richtigen Umgangs mit Wissen stellt sich auch dann, wenn man von seinem Recht auf Nicht-Wissen Gebrauch macht: Denn »aufgeklärtes Nicht-Wissen« setzt voraus, dass ich antizipieren kann, was ich hinsichtlich meines Lebensentwurfs verpasse und welches Gefährdungspotenzial ich möglicherweise eingehe, wenn ich auf eine bestimmte Form von Wissen verzichte.
Literatur
G. Feuerstein: Gentechnik und Krankenversicherung : neue Leistungsangebote im Gesundheitssystem. - Baden-Baden 2002.
D. Lanzerath: Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik, Freiburg i.Br. 2000.
L. Honnefelder, P. Propping: Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001.
P. Propping et al., Prädiktive genetische Testverfahren. Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte, P. Propping et al. (Ethik in den Biowissenschaften - Sachstandsberichte des DRZE, 2), Freiburg, München 2006 (hg. von L. Honnefelder, Dirk Lanzerath).
Link: Drze-Blickpunkt: Prädiktive genetische Testverfahren: Externer Link: www.drze.de