Darf man nichtmenschliche Tiere aufziehen und töten, um sie zu essen? Das ist aufgrund der enormen Zahl der betroffenen Tiere
Die anthropozentrische Position
Das grundsätzliche Vorgehen in der Tierethik besteht in der Untersuchung, ob moralische Kriterien und Prinzipien, die für den Umgang mit Menschen gelten, auch auf Tiere Anwendung finden müssen. Anthropozentrische Positionen in der Tier- und Naturethik gehen davon aus, dass moralische Kriterien und Prinzipien nur auf Menschen Anwendung fänden, und wir folglich nur auf Menschen um ihrer selbst willen moralische Rücksicht nehmen müssten. Nachbars Katze dürften wir demnach nur deshalb nicht quälen, weil dies gegen die Interessen des Nachbarn verstieße.
Begründet wird die anthropozentrische Position in der Regel mit der Rücksicht auf Vernunft. Dieses Kriterium schließt auch einige nichtmenschliche Tiere
Die pathozentrische Position
Im moralischen Umgang mit anderen Menschen nehmen wir nicht nur Rücksicht auf ihre Autonomie, sondern auch auf ihre Empfindungen. Wir berücksichtigen, dass andere ein Interesse daran haben, negative Empfindungen wie Schmerzen zu vermeiden und positive Empfindungen wie Freude zu haben. Auch viele Tiere sind empfindungsfähig und dementsprechend moralisch zu berücksichtigen. Empfindungsfähige Tiere nur deshalb von moralischer Rücksicht auszunehmen, weil sie Tiere sind und nicht der Spezies Mensch angehören, wäre unbegründet und speziesistisch.
Für die Zuschreibung von Schmerzempfindungen an Tiere gelten, abgesehen vom sprachlichen Ausdruck, grundsätzlich die gleichen Kriterien wie für Menschen: ein spezifisches Ausdrucksverhalten und Vokalisation, die Änderung von Verhaltensroutinen, physiologische Veränderungen wie die Beschleunigung der Herz- und Atemfrequenz sowie das Vorhandensein von morphologischen und neurophysiologischen Bedingungen wie Nozirezeptoren und Hirnarealen, die schädigende Reize verarbeiten können.
Die Zuschreibungsfrage ist von der ‚Anfühl‘-Frage zu unterscheiden. Wir können empfindungsfähigen Tieren zuschreiben, dass sie Schmerzen empfinden, aber wir können nicht genau wissen, wie sich Schmerzen für die Mitglieder anderer Arten anfühlen, etwa für eine Maus oder eine Meise.
Darf man Tiere töten?
Aus der pathozentrischen Position folgt kein direktes Tötungsverbot. Sofern das Töten ohne die Zufügung von Leid geschieht, ist es erlaubt. Für die Begründung eines Tötungsverbots bedarf es eines zusätzlichen Arguments, etwa der Rücksicht auf Überlebensinteresse, also auf das unmittelbare Interesse am Überleben und auf zukunftsgerichtete Interessen.
Was aber ist mit der Intuition, dass das Töten von empfindungsfähigen Tieren moralisch problematisch ist, auch wenn diese über kein Überlebensinteresse verfügen? Eine Ausbuchstabierung dieser Intuition bietet das so genannte Beraubungsargument. Nach ihm beraubt man empfindungsfähige Wesen zukünftiger, positiv erfahrener Lebenszeit. Man denke beispielsweise an Jungtiere, deren Herumtollen pure Lebenslust zu versprühen scheint. Ihr Tod würde sie dieser positiven Erfahrung berauben. Das Beraubungsargument ist allerdings defekt. Zwar ist es richtig, dass getötete Tiere um eine positiv erfahrene Lebensspanne beraubt werden; sofern sie kein zukunftsgerichtetes Interesse daran haben, kann dieses Interesse aber nicht missachtet werden.
Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen: Das pathozentrische Argument verlangt, Rücksicht auf die Empfindungen von Tieren zu nehmen. Es gründet in dem Interesse von Tieren, keine Schmerzen und kein Leid zu empfinden. Es begründet aber kein Tötungsverbot, das in der Rücksicht auf Überlebensinteresse gründet. Wenn man empfindungsfähige Tiere ohne Zufügung von Leid oder gar mit positiver Lebensqualität halten und schmerzfrei töten kann, spricht tierethisch grundsätzlich nichts dagegen, Tiere aufzuziehen und zu töten, um ihr Fleisch zu verzehren.
Industrielle Fleischerzeugung
Betrachten wir allerdings die Realität der gegenwärtigen industriellen Fleischerzeugung, ist sie aus pathozentrischer Sicht problematisch, weil empfindungsfähigen Tieren auf allen Ebenen der Fleischerzeugung erhebliches Leid zugefügt wird, von der Zucht von Hühner-, Puten- und Schweinerassen mit hoher, Leid verursachender Gewichtszunahme, der Haltung in zu engen Gehegen, auf Spaltenböden und ohne Beschäftigungsmöglichkeiten, aus Kostengründen eingesparter tierärztlicher Behandlung, langen Transporten, Misshandlung durch das Personal bis zu problematischen Betäubungsmethoden und Betäubungsfehlern bei der Schlachtung.
Zu Betäubungsfehlern kommt es unter anderem durch die wenige Zeit, die in der industriellen Schlachtung für das einzelne Tier bleibt.
Obwohl die pathozentrische Position Fleischverzehr prinzipiell erlaubt, verstößt die Realität der gegenwärtigen Fleischerzeugung vielfach massiv gegen das Gebot der Rücksichtnahme auf das Leid von Tieren. Ethische Konsumentinnen sollten sich deshalb über die Aufzucht-, Transport- und Schlachtbedingungen informieren. Und da ethische Appelle an Konsumentinnen faktisch wenig bewirken, muss eine wirkungsvolle Rücksicht auf das Empfindungswohl von Tieren politisch über geeignete gesetzliche Bestimmungen und behördliche Kontrollen durchgesetzt werden.
Verbot jeglicher ‚Tiernutzung‘?
Veganerinnen geht die pathozentrische Position nicht weit genug. Sie plädieren für ein Ende der Tötung von Tieren und der Verwendung aller Tierprodukte. Von der Vielzahl von Argumenten, die sie dazu vorgebracht haben, seien zwei herausgegriffen. Gegen die Tötung von Tieren und gegen die Milcherzeugung bringen Veganerinnen unter anderem vor, dass Tiere individuelle emotionale Bindungen aufbauten und sie unter Verlustgefühlen litten, wenn man ihnen nahestehende Tiere töten oder separieren würde. Aus analytischer Perspektive ist zunächst festzuhalten, dass dieser Einwand mit dem psychischen Leid von Tieren argumentiert und sich deshalb im Rahmen des pathozentrischen Arguments bewegt. Aus tierethischer Sicht ist hier empirisch zu klären, wie gravierend das psychische Leid der betroffenen Tiere ist und ab welchem Schweregrad es nicht mehr zugefügt werden sollte. Bei Tieren mit starken sozialen Bindungen müsste man vermeiden, einzelne Tiere aus der Gruppe herauszunehmen oder Tiere zu separieren.
Ein zweites Argument wendet sich gegen jegliche Nutzung von Tieren. Hält man jegliche Nutzung von Tieren und Tierprodukten für verwerflich, muss man begründen, warum dies jeweils problematisch sein soll. Ist es beispielsweise verwerflich, wenn man Pferde reitet oder wenn man Honig aus Bienenstöcken erntet? Dazu müsste gezeigt werden, dass Pferde darunter leiden, geritten zu werden. Im Falle von Bienen müsste nachgewiesen werden, ob sie überhaupt empfindungsfähig sind, und damit, ob sie überhaupt Interessen haben. Kurz, man müsste zeigen, dass die jeweilige Nutzung gegen das Empfindungswohl und die Interessen der betroffenen Tiere verstößt.
Neuere Entwicklungen in der Tierethik
Abschließend möchte ich auf drei aus meiner Sicht besonders interessante Entwicklungen innerhalb der tierethischen Forschung hinweisen.
(a) Welche Tiere empfinden Schmerzen?
Die Frage, welche Tiere Schmerzen empfinden, betrifft die Reichweite der moralischen Rücksicht. Sie ist insbesondere bei Tieren, deren Ausdrucksverhalten und Morphologie sich stark vom Menschen unterscheiden, nicht ohne Weiteres zu beantworten, etwa bei Fischen oder Krebstieren. Bei der Zuschreibung von Schmerzempfinden ist es wichtig zu unterscheiden, ob Tiere bloß über nozizeptive Systeme verfügen, die ihnen erlauben, reflexartig und ohne mentale Repräsentation auf schädigende (‚noxische‘) Reize zu reagieren, oder ob sie tatsächlich Schmerzen empfinden können. Neuere Forschungen an Forellen deuten darauf hin, dass sie Schmerz empfinden können. Indikatoren für ihre Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, sind die Zeitspanne, über die sie ihre Verhaltensroutinen ändern, die Beeinträchtigung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und die Wirksamkeit von Schmerzmitteln.
(b) Können Tiere denken?
Die Antwort auf die Frage, ob Tiere denken können, hängt davon ab, was man unter Denken versteht. Geht man von der Prämisse aus, dass Kognition notwendig sprachgebunden ist, besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen der Kognition von Menschen und der Kognition der meisten Tiere und man gelangt zu einer negativen Antwort. Andererseits sind einige Tiere in der Lage, (a) Gedanken zu haben – ein Hund kann beispielsweise von einer Katze die Überzeugung haben, dass sie auf einem Baum ist, (b) Denkprozesse vorzunehmen – wie zum Beispiel Schlüsse zu ziehen sowie (c) ihre Aufmerksamkeit auf eigene oder fremd Gedanken zu richten.
(c) Freundschaft mit Tieren
Viele Menschen bauen zu Tieren und insbesondere zu ihren Haustieren eine intensive gegenseitige Beziehung auf. Aus eudaimonistischer Perspektive