Peter Singer non gratus
Für die aktuelle dt. Auflage seines Buches "Praktische Ethik" (2013) hat Peter Singer einen Anhang zur sog. "Singer Affäre" (Jamieson 1999, S. 10) gestrichen, den er in der zweiten Auflage eigens hinzugefügt hatte: "Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird" und durch eine kurze Erinnerung im Vorwort ersetzt (Singer 2013, S. 10 ff.). Die Auseinandersetzungen mit Behindertenverbänden und Menschenrechtlern, die Singer zeitweise mit der Bezeichnung "gefährlichster Mann der Welt"
Im Mai 2015 wiederholte sich nun innerhalb von wenigen Wochen in der Schweiz und in Deutschland das überwunden geglaubte Szenario: Singer ist als Pop-Star eingeladen zu diversen Preisverleihungen, Interviews, Gesprächsrunden; dann gibt er ein Interview in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)
Um die philosophische Position Singers, den sog. "Präferenzutilitarismus", in den Diskurs über ethische Standards einordnen zu können, wird diese im Folgenden in drei Schritten dargestellt:
der Abschnitt "Peter Singers Prinzip der Moral" unternimmt eine leicht zugängliche Einführung in Singers utilitaristische Argumentation;
anschließend folgt ein Überblick darüber, wie sich diese Überlegungen auf die Anwendungsgebiete der Bioethik auswirken – zum Verständnis helfen hier einige weitere Aufsätze des Dossiers Bioethik (Links werden in den Endnoten bereitgestellt);
schließlich wird ein Einblick in die Fachdiskussion angedeutet, für den ein vorhergehender Kontakt zur Ethik insgesamt und zum Utilitarismus im Besonderen hilfreich sein könnte.
Peter Singers Prinzip der Moral
Peter Singer will es einfach halten. In seinem Arbeitsgebiet, der Moralphilosophie, geht es ihm nämlich nicht nur darum, eine stimmige Theorie der Moral zu erstellen. Es geht auch um konkrete Orientierungsangebote für Menschen in konkreten Handlungssituationen. Die Frage, die Singer bei diesen Handlungen besonders interessiert, lautet: Wie können wir das, was geschieht bzw. geschehen soll, möglichst gut gestalten?
Um es also nicht unnötig kompliziert wirken zu lassen, nennt Singer 1979 seinen zentralen Text "Praktische Ethik", um zu zeigen, dass es ihm gezielt um die breite Anwendung der moralischen Gedanken geht und nicht bloß um die Theorie.
Da wir Menschen ständig tätig sind und die meisten Aktionen nicht bewusst reflektiert werden müssen, treten moralische Probleme normalerweise erst dort auf, wo wir uns im Unklaren darüber sind, was wir tun sollen. Wenn man wie Singer davon ausgeht, dass sich in die alltäglichen Handlungsgewohnheiten ein paar Dinge eingeschlichen haben, die nicht so sein müssten, wie sie sind, und die ohne großen Aufwand verbessert werden könnten, spürt man möglicherweise einen Drang dazu, die Menschen auf die Missstände aufmerksam zu machen. Um das "Es könnte noch besser sein ..." in das Bewusstsein der Menschen zu bringen, greift Singer häufig zu extremen Beispielen, die die Leser aufrütteln sollen; sein Anspruch aber ist bei diesen Beispielen nicht, bereits zu wissen, wie genau wir etwas verbessern sollen, sondern eine Aufforderung, unseren eigenen Standpunkt neu zu überdenken. Danach kann es durchaus sein, dass wir einfach so weitermachen wie bisher, weil Änderungen nicht erforderlich sind oder weil sie uns zu viel abverlangen würden. Manchmal fehlt aber auch einfach nur eine gewisse Einsicht, um ganz leicht etwas verändern zu können. Und da setzt Singer an.
Weil es extrem schwierig herauszufinden ist, was wir als Maßstab für gut/besser und schlechter ansehen sollten, formuliert Singer als Vorschlag ein Prinzip, nach dem wir den moralischen Status unserer Entscheidungen prüfen können. Darin liegt nun aber die eigentliche Schwierigkeit: einen Gedanken so auszuarbeiten, dass jeder einzelne in den eigenen Lebenssituationen etwas damit anfangen kann (obwohl der Philosoph ja nicht vorher wissen kann, was einmal konkret entschieden werden muss). Diese Vorgehensweise verrät auch etwas über Singers Position in Hinblick auf die Moral, die moralischen Lebewesen und über das, was er selbst unter "gut" versteht.
Um zu verdeutlichen, in welchen Situationen wir moralische Entscheidungen fällen, schildere ich ein einfaches, fiktives Beispiel: Peter Singer kann schlecht wissen, dass ich es sonntagsabends besser finde, den Tatort zu schauen, anstatt unter Rosamunde Pilcher zu leiden. Was Singer aber als Utilitarist annimmt: Menschen und Lebewesen überhaupt machen am liebsten das, was ihnen Freude bereitet, und das, was ihnen Schmerzen oder Leiden verursacht, versuchen sie zu verringern oder zu meiden.
Denken wir also nach: Was verursacht in der zu entscheidenden Situation für alle Beteiligten am meisten Freude und am wenigsten Leid, am besten auf lange Sicht betrachtet und unter Einbezug der Tatsache, dass zu viel des Guten auch nicht hilft (abnehmender Grenznutzen)? Durch diese Überlegung lernen wir einzuschätzen, was wir in diversen Handlungssituationen am besten tun sollen. Moralisch wird die Sache also besonders heikel, wenn auch andere Personen betroffen sind und wir eine solche Rechnung erstellen müssen. Will meine Frau mit mir fernsehen, einigen wir uns meist auf den Tatort, solange das Thema nicht zu brutal erscheint – andernfalls weichen wir gelegentlich auf eine andere Serie aus oder wir wechseln ab und zu die Gewohnheit und gehen spazieren, sitzen einfach in der Küche oder Ähnliches. Für mich ist es besonders schlimm, wenn meine Frau Unterstützung von ihrer Mutter auf Besuch erhält, denn dann muss ich die Reise an die Küste von Cornwall (Pilchers Lieblingssetting) ertragen, um das Zusammenleben auf lange Sicht hin auf hohem Niveau wahren zu können (und um womöglich im Gegenzug mit meinem besten Freund am Dienstag darauf ohne Murren Fußball gucken zu dürfen).
Die Abwägung scheint aber ganz deutlich zu sein: Jedes Lebewesen, das in den zur Auswahl stehenden Handlungsmöglichkeiten relevante Interessen hat, hat auch etwas zu sagen. Diese relevanten Interessen gilt es also zu berücksichtigen. Aber wenn ich perfekt sein wollte, müsste ich alle Interessen, Bedürfnisse und Wünsche
Gestalten wir dieses Beispiel so, dass eine konzentrierte Formel daraus resultiert, die dann auf alle möglichen Beispiele angewendet werden kann, dann nähern wir uns an Singers recht formales Prinzip der Gleichheit an
Haben wir also alle betroffenen Präferenzen für eine Entscheidungsfindung gesammelt, müssen wir die Ausmaße des jeweiligen Interesses für unsere Entscheidung prüfen. So erhalten die vorliegenden Präferenzen, jede für sich, ein Gewicht, das je nachdem unterschiedlich ausfallen kann, ob man als Katze oder als Ehefrau bei der Wahl des Fernsehprogramms berücksichtigt wird. Um diese Differenzen berücksichtigen und auswerten zu können, schlägt Singer ein paar Kategorien mit fließenden Übergängen vor: Hat ein Lebewesen keine Präferenzen, müssen wir auch nichts berücksichtigen (z. B. bei Pflanzen). Was ist aber die geringste feststellbare Präferenz, damit wir eine Ahnung davon erhalten, wer alles einbezogen werden muss? Sagen wir zunächst: die Empfindung von Freude und Schmerz. Jedes Lebewesen mit einem Bewusstsein von diesen Empfindungen muss einbezogen werden und selbstverständlich alle Lebewesen mit zusätzlichen kognitiven Fähigkeiten (Erinnerungen, Zukunftswünsche, Kommunikationen, soziale Bindungen bis hin zu selbstbewussten Wesen) dann auch ggf. mit zunehmendem Gewicht. Bei jeder Bilanzierung ist es aber zunächst egal, um wessen Freude oder Schmerz es sich handelt. Wichtig ist nur, dass diese Präferenz als solche gezählt wird.
Dieses formale Prinzip der Gleichheit ist aber nicht gleichbedeutend damit, die eigenen Interessen und Vorlieben bei derartigen Abwägungen zu vergessen! Allerdings sind sie bei einer fairen Berechnung selbstverständlich nicht mehr oder weniger schwer einzubringen, nur weil es unsere egoistischen Interessen sind. Menschliche Interessen sind zudem nach Singer auch nicht grundsätzlich besser als tierliche/tierische, wenn wir wirklich unparteiisch sein wollen etc. Ob das wirklich funktioniert, ist häufig diskutiert worden, denn irgendwie haben wir zu unseresgleichen doch einen engeren Bezug als zu anderen Spezies.
Wenn wir die Präferenzen der anderen Lebewesen aus deren Sicht als genauso lebhafte und wichtige Empfindungen annehmen, wie unsere Präferenzen es für uns sind, dann erkennen wir noch einmal deutlich den Sinn im "rationalen" Abwägen im Vergleich zur spontanen, emotionalen Handlung. Woher wissen wir aber eigentlich, wie wichtig den Beteiligten ihr eigenes Interesse in der jeweiligen Situation ist? Fragen wir also einfach nach: Wie stark ist denn dein Interesse daran? Bei Lebewesen, die wir nicht direkt fragen können, müssen wir versuchen, uns (möglichst neutral) vorzustellen, was das andere Lebewesen wohl wie stark fühlen, wünschen und wählen würde.
Ein paar formale Probleme gibt es bei Singers Ansatz also. Denn manchmal finden wir eben Optionen vor, bei denen gar keine Freude vermehrt und keinem Interesse entsprochen werden kann, sondern lediglich weniger Leiden den Ausschlag in der Bilanzierung gibt. Dies kommt im menschlichen Leben in Extremsituationen durchaus vor und für manche Berufe sogar ziemlich häufig, wenn wir z. B. an Rettungssanitäter, an Mediziner insgesamt denken.
Für leicht zu entscheidende Abwägungen legen wir uns selbst bei schwierigeren Abläufen schnell wieder Faustregeln oder Prinzipien zurecht – das ist nach Singer unproblematisch, solange wir gut darüber nachgedacht haben. Aber es macht ja Probleme geradezu aus, dass wir nicht direkt wissen, was wir tun sollen. Und besonders die eigentlichen moralischen Probleme sind nicht immer eindeutig zu lösen.
Viele Philosophen und die meisten Menschen sind der Meinung, dass es Grenzen geben muss für das, was jeder immer wieder aufs Neue entscheiden darf. Dazu sind das geltende Recht und auch vielfach sittliche Werte für die Menschen einer Gesellschaft bindend. Doch diese klaren Einschränkungen sieht Singer als Hindernis für einige moralische Überlegungen an. Wo er dabei möglicherweise zu weit geht, ist die Infragestellung der Grundrechte von Menschen in Extremsituationen am Lebensanfang.
Womit Singer aber sicherlich moralisch Recht hat, ist der Zweifel daran, dass die Setzung einer "Heiligkeit des (menschlichen) Lebens" unter allen Umständen zu den besten Problemlösungen führt, vor allem, weil dieser Wert manche Menschen am Lebensende dazu zwingen würde, auch gegen jedes Ideal der menschlichen Selbstbestimmung unter größten Schmerzen und bei keinerlei Heilungsaussicht am Leben zu bleiben. Selbstverständlich muss man äußerst vorsichtig sein, das Lebensinteresse eines Lebewesens mit in die Waagschale unserer Rechnung zu legen. Aber um hierbei moralisch bleiben zu können, wählt man nach Singer am besten immer den Weg, der das größte Glück (Interessenbefriedigung) der größten Zahl von Lebewesen bedeutet.
Noch einmal zur Klarheit: Für Singer sind rechtliche Absicherungen wichtig, weil sie das Zusammenleben von so vielen Menschen erst ermöglichen; wenn Menschen Angst davor haben, dass ihnen etwas widerfahren könnte, was sie als Leidzufügung bei anderen beobachtet haben, spielen diese Bedenken als Interessen Dritter eine wichtige Rolle. In moralischer Hinsicht jedoch müssen Singer zufolge alle Menschen auf der Hut sein vor bloßen Wert- oder Norm-Setzungen ohne weitere Begründung ("es ist jetzt eben so") und vor allem vor nicht nachvollziehbarer Willkür ("ich will das halt jetzt so, die Gründe sind mir egal"), da sie nicht immer das beste Ergebnis hervorbringen; daher müsse man Singers Meinung nach auch im Einzelfall über die Geltung von bereits bestehenden moralischen Werten und Normen nachdenken dürfen, wenn ein besseres Ergebnis aus der Abwägung resultieren könnte.
In diesem Zusammenhang verletzt Singer – wie schon erwähnt – durch provokative Beispiele häufig die Pietätsgefühle der Menschen. Eine präferenzutilitaristische Abwägung kann aber theoretisch niemals zum Schaden einer beteiligten Person führen, wenn sie perfekt ausgeführt wird. Leider sind wir Menschen aber nicht vollkommen und wir haben auch oftmals nicht genügend Zeit, um hochkomplexe Interessenbilanzierungen durchzuführen. Ist das ein Argument gegen den Präferenzutilitarismus? Helfen uns denn andere Moralvorstellungen in diesen Fällen besser weiter? Wenn sie das tun, dann sollten wir sie (sogar in Einverständnis mit dem utilitaristischen Prinzip) auch als Orientierungshilfe wählen; wenn die anderen Moralvorstellungen aber dieselben Probleme haben wie der Präferenzutilitarismus, spricht nichts dagegen, die gleiche Interessenabwägung als moralisches Prinzip zu verwenden, da wir so immer das Ziel verfolgen, die Welt noch ein bisschen besser zu machen. Wie aber wirkt sich das Prinzip in den Kernbereichen der Angewandten Ethik nun aus?
Anwendungsgebiete
Wenn das oben geschilderte Minimalprinzip der Gleichheit (Gerechtigkeit) auch recht einfach erscheint, so hat es doch für diejenigen, die es als rationales, universales und unparteiisches Moralprinzip anerkennen, weitreichende Implikationen, wie im Folgenden kurz anhand ausgewählter (und eben gerade diskutierter) Gegenstände angedeutet wird:
a) Tierethik
Eingeordnet wird Singer in der Tierethik bei den sog. "Eigenschaftenansätzen".
Durchaus kann aber ein Tier komplexere kognitive Fähigkeiten aufweisen als manche Menschen (Embryonen, Säuglinge, Demente, intellektuell Beeinträchtigte), weshalb der moralische Begriff "Person" als rationales und selbstbewusstes Lebewesen bei Singer vom Gattungsbegriff Homo sapiens abgelöst wird, um einen parteiischen "Speziesismus" zu vermeiden.
Über das Potential, das heranwachsende Lebewesen noch entwickeln könnten, urteilt Singer so, dass es im Moment der Entscheidung unerheblich ist, inwiefern eine Person aus dem Lebewesen werden könnte, wenn jetzt aktuell noch keine Präferenzen vorliegen. Ob denn aber Präferenzen vorhanden sind oder nicht, ist die schwierige Erhebung. In dieser Forschungsfrage lehnt Singer die sog. SKIP-Argumente
Man kann demnach nicht mehr pauschal sagen, dass Menschen nach Belieben Tiere quälen, töten, züchten etc. dürfen. Vielmehr wird jedes einzelne Lebewesen mit seinen aktuellen Präferenzen in Hinsicht auf die zu beurteilende Situation repräsentiert. Da die kognitiven Fähigkeiten der Lebewesen schwer feststellbar sind, müssen wir vorsichtig sein und uns im Zweifel für die Angeklagten einsetzen. Dass unsere Lust auf ein saftiges Steak also dem Interesse der Kuh an einem guten, schmerzfreien Leben im Verbund ihrer Herde entgegensteht, zeigt auch hier, dass manche Interessen einfach grundlegender sind als andere; wie leicht könnte doch ein Ersatzprodukt zur Ernährung genutzt werden und alle Seiten zufriedenstellen. Doch wie steht es um das Interesse eines Wolfrudels, das die von uns verschonte Herde ins Visier nimmt? Haben wir eine moralische Pflicht, die Kuh vor dem Wolf zu schützen?
Wie wir durch die (ein wenig übertriebenen) Fragestellungen sehen, sind die Situationen, die Grenzen und Vergleichbarkeit der Fähigkeiten eines Individuums nur ungenau zu benennen, und auch die Wichtigkeit, die dieses Interesse im Gesamthaushalt der Präferenzen einer Abwägung darstellt, bleibt vage bestimmt. Es bleibt allerdings zu überlegen, ob wir bessere Instrumente für unsere moralischen Entscheidungsbildungen finden können.
Deutet sich aber nicht schon in dieser tierethischen Perspektive des Präferenzutilitarismus eine erhebliche Verschlechterung der menschlichen Stellung an? Dass Singer also Tiere in dieser zweifachen Hinsicht (a) für alle empfindungsfähigen Tiere die gleiche Berücksichtigung und b) für personale Tiere die besondere Gewichtung) aufwerten möchte, ist offensichtlich; doch dass Menschen deshalb abgewertet werden, ist aus diesen Gedanken nicht notwendig abzuleiten, denn es ist daran zu erinnern, "dass ich [sc. Peter Singer, WM] die Absicht verfolge, den Status der Tiere zu heben, nicht aber, den der Menschen zu senken" (ebd., S. 130). Wenden wir aber das Prinzip der gleichen Interessenabwägung konsequent an, so gibt es keine moralische Rechtfertigung dafür, Menschen unter allen Umständen am Leben zu erhalten und zu pflegen, während einige Tiere mit schwerer wiegenden Präferenzen in unseren Überlegungen noch gar nicht berücksichtigt werden. Die Überlegung, verwaiste geistig behinderte Menschen anstelle von Affen in diversen Tierversuchen einzusetzen (vgl. ebd.), soll daher wohl eine Provokation sein, die gegen die Affenversuche spricht, aber nicht für Menschenversuche eintritt. Es ist allerdings möglich, Singer an dieser Stelle vorzuwerfen, dass aus seinen Beispielen unter Extrembedingungen für die alltägliche Praxis absurde oder zumindest kontraintuitive Konsequenzen entstehen könnten.
b) Medizinethik
"Euthanasie" ist ein in Deutschland durch die sozialdarwinistische Rassen- und Gesundheitsideologie im Nationalsozialismus negativ konnotierter Begriff, der aber ursprünglich (seinem altgriechischen Wortlaut entsprechend) zu einem "guten Sterben" anleiten sollte.
Im Zuge der technologischen Entwicklung entstehen neue Möglichkeiten, aber auch neue Herausforderungen im Erhalten von Leben, denen die Angewandte Ethik, respektive die Bioethik, gerecht werden muss. Wird der Schutz des Lebens dabei zu einer Lebenspflicht, weil Medikamente und Maschinen am Lebensanfang und am Lebensende den Körper etwa anenzephaler (ohne Gehirn geborener) Säuglinge oder komatöser Unfallpatienten in seinen Funktionen "am Leben" erhalten können? Diskussionen um die Todeskriterien, um Sterbehilfe (z. B. eben im Fall der Kindstötung) und die Entscheidungshoheit der Patienten werden hier ausgiebig debattiert. Am Lebensanfang sind daher die Fragen zu stellen, ob es eine sichere Zäsur in der Entwicklung der Lebewesen gibt, durch die ein moralisches Lebensrecht in Kraft tritt, und ab wann also die Interessen der Eltern und der Mediziner nicht mehr gegen dieses Recht aufgewogen werden dürfen. Am Lebensende sind die "Sterbehilfe" (in unterschiedlichen Varianten) und die Gewichtung von Patientenverfügungen zu diskutieren. Dass die Forderungen Singers einem "Zusammenbruch der traditionellen Ethik" – so der Untertitel des Buches "Leben und Tod" (1998) – gleichkommen, haben insbesondere die ablehnenden Urteile über Speziesismus (die Auflösung der Unparteilichkeit zugunsten der Lebewesen, die zu derselben Spezies gehören wie der Handelnde) und die Heiligkeit des Lebens (die dogmatische Setzung einer Unantastbarkeit des (menschlichen) Lebens) gezeigt.
Da Singer davon ausgeht, dass Eltern ihre Kinder grundsätzlich lieben, gibt es im Normalfall kein Interesse daran, einen Säugling zu töten. Der Umstand, dass es jedoch im Verlauf des 20. Jh. zu einer gängigen Praxis geworden ist, bei bestimmten Befunden in Schwangerschaft-Frühscreenings
Denn überspitzt betrachtet wäre auch der lediglich straffreie Schwangerschaftsabbruch eine Form der Auswahl von Lebewesen. Allerdings ist es dann keine Auswahl aus einem Pool an Angeboten, sondern eine sukzessive Ablehnung von Embryonen/Föten zugunsten einer Präferenz auf ein zukünftiges, noch unbestimmtes Leben. Von Seiten der Lebewesen liegen nach Singer bereits ab der 6./7. Woche nach der Befruchtung erste Anzeichen von Bewusstsein (vgl. Singer 2013, S. 234), allerdings noch lange keine Interessen eines selbstbewussten Lebens vor. Nach der gleichen Interessenberücksichtigung erhält der Fötus also erst ab dem Status des Bewusstseins ein Gewicht in der Abwägung, dieses Gewicht entspricht dabei einer Präferenz von Tieren auf ähnlichem Niveau; und die Präferenzen des geborenen Säuglings haben entsprechend ein ebenso großes Gewicht wie die des ungeborenen Fötus in vergleichbaren Stadien der Entwicklung. Diese Vergleiche (Lebensfähigkeit, Abhängigkeit von der Mutter) dienen für Singer als Argumente, aber nicht als plausible Gründe für die Festsetzung einer eindeutigen Zäsur in der Entwicklung des menschlichen Lebens und der daraus resultierenden Entscheidungsverpflichtung durch ein Recht auf Leben.
Auch hier müssen die Grenzen der Moralität im Zweifelsfall eigens besprochen werden. Aus dem Prinzip der gleichen Interessenabwägung resultiert für "bloß bewusste", aber (noch) nicht selbstbewusste Menschen, dass zusätzlich zur Unklarheit des Rechts auf Leben, ihr fehlendes Interesse an der Zukunft, die nicht gegebene Autonomie und die ggf. hoch negative Bilanz von Freude und Leid keine Pflicht erkennen lassen, das Kind notwendig am Leben zu erhalten, wenn niemand dies für geboten hält. In Extremfällen also könnte es am Lebensanfang nach Singer sogar sein, dass ein Recht auf Leben moralisch fragwürdig sein könnte. Dies veranlasst ihn nicht zur Forderung nach Aufhebung der Grundrechte (vgl. Singer 2013, S. 276), sondern rechtfertigt seiner Meinung nach für die Moral in Extremsituationen eine neutrale Überlegung, die in klar zu definierenden Ausnahmefällen den absoluten Schutz des Lebens erst kurz nach der Geburt beginnen ließe (vgl. ebd., S 277).
Menschen am vermeintlichen Ende ihres Lebens, die Personen waren und also ein Selbstbewusstsein (gehabt) haben, konnten hingegen bereits Ziele formulieren, deren Missachtung durch eine abrupte Tötung verletzt würden. Singer unterscheidet zwischen freiwilligen (Patientenverfügung, Vollmacht), unfreiwilligen (ein Spezialfall für absehbare unmenschliche Greueltaten, die man einer Person ersparen würde) und nicht-freiwilligen Fällen der Tötung (Unterlassen von künstlicher Beatmung oder der Versorgung durch eine Magensonde bei komatösen Patienten, bei denen der Wille nicht festgestellt werden kann) menschlichen Lebens. Wir müssen uns in diesem Bereich den Entscheidungsdruck vor Augen führen, der auf den Beteiligten lastet. Auch die gezielte Unterlassung von Maßnahmen und selbst der Entschluss, sich nicht zu entschließen, haben Auswirkungen auf Leben und Leidensumfang der Patienten.
c) Globale Gerechtigkeit
In "The Expanding Circle" (1981/2011) bereits startet Singer seine Mission der Aufklärung darüber, was jeder einzelne Bürger dieser Welt durch kleinere Spenden bewirken könnte.
Viele Menschen ahnen schon aus ihrem gängigen Moralverständnis heraus, dass sie anders handeln sollten, als sie es bisher getan haben – andere verschwenden keinen Gedanken daran; wieder andere handeln zufällig so, wie es auch das universale Prinzip der Moral nahelegen würde. Die Philosophie Singers ist für das jeweilige Individuum gebildet und soll Prüfung und Orientierung in moralischer Entscheidungsfindung anbieten. Dabei verbietet sich die unlautere Unterstellung, was wohl im Utilitarismus passieren würde, wenn alle Menschen "böse" wären und das Prinzip ausnutzen würden, um rassische Reinigungen durchzuführen o. ä. Vielmehr gilt es vor diesem Hintergrund zu berücksichtigen, dass nach Hannah Arendts Argumentation "böse" im eigentlichen Sinne derjenige ist, dem es egal ist, in welcher Gesellschaft/Welt er lebt: "Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist" (Arendt 2014, S. 150).
"Können wir etwas Schlechtes verhüten, ohne irgendetwas von vergleichbarerer moralischer Bedeutsamkeit zu opfern, so sollten wir es tun." (Singer 2013, S. 356)
Einige Probleme des Utilitarismus im Allgemeinen
Die an die Utilitaristen gerichteten Fragestellungen zielen häufig auf eine Enttarnung ab und zwingen Utilitaristen zu extremen Antworten, für die aber andere Moralphilosophen entweder keine Antwort oder einen Argumentationsstopper benötigen: Was die Utilitaristen nicht immer ganz deutlich machen können, ist die oben erwähnte Überzeugung, moralische Werte pathozentrisch
Ist der Begriff "gut" denn durch die Gleichsetzung mit Glück als Lust und als Nutzen definierbar oder ist im Moralischen "gut" etwas ganz anderes; ist es überhaupt definierbar (vgl. Moore 1903)? Sowohl die Gleichsetzung als auch die Schlussfolgerungen von subjektiven Präferenzen auf universalistische Normen können als "unplausibel" oder sogar als gefährlich für Moral und Menschen aufgefasst werden (vgl. Krantz 2002, S. 81 und S. 97 ff. und Teichman 1993). Seit Mills apologetischen Aufsätzen zum "gefährlichen" Benthamschen Thema "Utilitarianism" müssen Utilitaristen daher immer wieder auf einschlägige Verteidigungsstrategien zurückgreifen.
Vorwürfe speziell an Singer
Geradezu groteske Fallbeispiele werden ersonnen, um Stresstests des Utilitarismus zu simulieren und um immer wieder mit Genugtuung zu zeigen, zu welch unmenschlichen Folgen die Nutzenabwägung führen kann. Mit ein wenig Geschick ist es jedem Journalisten möglich, Präferenzutilitaristen in kontraintuitive und pietätslose Argumentationsweisen zu drängen, wenn sie nicht ihr Moralprinzip aufgeben wollen.
Wie oben gezeigt wurde, ist der Einsatz der Aktivisten gegen Singer durchaus berechtigt, denn tatsächlich ist das "Lebensrecht" von (behinderten) Säuglingen bedroht, ebenso wie das "Lebensrecht" von hochentwickelten Tieren heute noch gefährdet ist. Singer geht tatsächlich davon aus, dass niemand ein Leben mit Behinderung demselben Leben ohne Behinderung bevorzugen würde (Singer 2013, S. 96); dies leitet er von einer ganzen Reihe an Behandlungen, Operationen, Prothesengestaltungen, Abtreibungen etc. ab, die aus diesem Grund vorgenommen werden. Dass hierbei häufig die Diskussion um das Beste für das Kind gegenüber der Rede vom besten Kind verwechselt wird, zeigen im Einzelfall die Analysen der Argumente.
Peter Rödler (2015) hält Singer aus seinen Erfahrungen im Umgang mit "nicht-sprechenden schwer beeinträchtigten und tiefgreifend entwicklungsgestörten Menschen mit autistischen Verhaltensweisen" (ebd., S. 451) entgegen: "Die Unbestimmtheit wird damit im Sinne einer ‚absoluten Präsupposition‘ zum unhintergehbaren Ausgangspunkt aller auf den Menschen und seine Welt bezogenen Überlegungen, Modelle und Theorien, d.h. zur zentralen Evidenz nicht nur für die Philosophie, sondern insbesondere auch für die Pädagogik, die sich ja gerade der qualifizierenden Entwicklung des Individuums in dieser gemeinsam erzeugten Welt widmet." (Ebd., S. 453) Erst die soziale Zuwendung auf der Basis bereits etablierter Zeichen und Deutungsmuster ermöglicht den menschlichen Wesen trotz ihrer biologischen Unbestimmtheit einen Prozess der Selbst-Bildung (auch im Sinne des Erwerbs von Präferenzen). Partizipation ist nach Rödler also eine Entwicklungsbedingung für jeden Menschen und wird damit zu dem fundamentalen Menschenrecht.
Da Singer seinerseits davon ausgeht, dass das Töten von bewussten Lebewesen grundsätzlich moralisch fragwürdig ist, muss er umso genauer die Bedingungen untersuchen, unter denen Ausnahmen auftreten. In beeindruckender Formulierung wurde dies von der behinderten Wissenschaftlerin Harriet McBryde Johnson anerkannt, die zunächst unter der Annahme in die Begegnung mit Singer ging, er sei der Mann, nach dessen Auffassung sie (oder zumindest jeder Säugling, der ist wie sie) tot wäre (vgl. (McBryde Johnson 2009, S. 195). Nach der Begegnung mit Singer bemerkt ihre Schwester in einem Gespräch fassungslos, Harriet nehme nun den Befürworter des "Genozids" sogar noch in Schutz. Aber Harriet entgegnet, in Singers Argumentationsrahmen sei diese Gefahr eben gar nicht gegeben, da er in der aufrichtigen Motivation, Gutes tun zu können, lediglich Eltern eine Wahlmöglichkeit geben wolle, über Menschenleben zu entscheiden, die keine Personen sind (vgl. ebd., S. 202). Obwohl McBride Johnson die Position Singers auch im Weiteren nicht teilte, so sah sie doch, dass man die Überlegungen im Zusammenhang zu den philosophischen Grundannahmen betrachten müsse. Singer schreibt: "Wir beginnen eben erst über die Ungerechtigkeit nachzudenken, die behinderten Menschen angetan wird, und sie als benachteiligte Gruppe zu betrachten. Dass es so lange gedauert hat, ist der Unklarheit über faktische und moralische Ungleichheit zuzuschreiben, die zuvor diskutiert worden ist. [...] Bloße Chancengleichheit reicht nicht aus in Situationen, in denen es eine Behinderung unmöglich macht, dass die betreffende Person ein gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft wird. [...] Deshalb ist es im allgemeinen gerechtfertigt, für Behinderte mehr auszugeben als für die andern." (Singer 2013, S. 94 f.)
Um aber auch noch über diesen zentralen Aspekt der Auseinandersetzung mit Singer hinauszublicken, sollen die fachlichen Einwände zumindest kurz angedeutet werden:
Viele Anmerkungen beziehen sich auf seinen "metaethischen" Ansatz
Wie wir oben gesehen haben, basieren viele dieser Vorwürfe schlichtweg auf Missverständnissen oder Vorurteilen gegenüber Singers Grundprinzip. Einige Einwände hingegen sind nicht so einfach von der Hand zu weisen, wie z. B. die Gefahr im offenen moralischen Umgang mit menschlichem Leben. Da die Moralphilosophie über viele Angebote verfügt, wie man ein gutes Leben führen kann, ist man nicht auf Singers Argumente angewiesen. Doch in jedem Fall gilt es, Singers Vorschläge und auch sein Engagement für eine bessere Welt anzuerkennen, denn auf dem Weg zu einem guten Leben sind wir alle aufgefordert, unsere moralischen Entscheidungen auch gegenüber anderen rechtfertigen zu können.
Hinweis des Autors
Peter Singer nähert sich schon in der dritten Auflage von "Practical Ethics" (2011) an den "klassischen" Utilitarismus an (ebd., S. X und S. XIII) und plädiert seit 2014 in "From the Point of View of the Universe" für eine an Henry Sidgwick (1838-1900) und aktuell nah an Derek Parfit orientierte Argumentation in (meta-)ethischen Fragen. Die für die Bioethik relevanten Fragestellungen werden voraussichtlich (eine Ausarbeitung von Seiten Singers ist in den kommenden Jahren zu erwarten) auf dieser Ebene nicht anders beantwortet, sondern lediglich alternativ begründet, weshalb in diesem Bioethik-Artikel der Schwerpunkt auf den bereits ausgearbeiteten Ansätzen des Präferenzutilitarismus beruht. Rechtfertigen lässt sich dieses Vorgehen außerdem durch eine spezifische "weitere" Lesart des hedonistischen Utilitarismus, die Singer (2013, Kap. 1) in Erwägung zieht und die den Unterschied zwischen klassischem Utilitarismus und Präferenzutilitarismus marginalisieren könnte.
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